Ann-Kathrin Büüsker: Die Regierung hat am frühen Morgen mit der Räumung des Flüchtlingslagers in Idomeni begonnen. Darüber möchte ich nun mit Christos Katsioulis sprechen, Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Athen. Guten Tag, Herr Katsioulis.
Christos Katsioulis: Guten Tag, Frau Büüsker.
Büüsker: In dem Lager, da harrten ja seit Monaten Tausende Flüchtlinge aus, unter teilweise katastrophalen Bedingungen. Unser Korrespondent hat das gerade geschildert. Wieso hat Athen so lange mit der Räumung gewartet?
Katsioulis: Wir haben es hier mit einer Regierung zu tun, die ja in vielen Punkten noch relativ unerfahren ist, und ein ganz wichtiges "Problemfeld" gerade für den linken Teil der Regierung ist die Polizei, ist quasi öffentliche Ordnung, und weil man sich darüber bewusst war, dass das vermutlich nicht wirklich friedlich ablaufen wird, dieses Lager zu räumen, hat man hier lange Hemmungen gezeigt, auch weil man nicht genau wusste, wohin mit den Leuten, und da hat man sich jetzt eben vorbereitet.
Büüsker: Sie haben gesagt, die Regierung hat ein Problem mit der Polizei. Inwiefern?
Katsioulis: Ich sage immer, wenn ich versuche zu erklären, woher Syriza eigentlich stammt: Das ist ja eine linke Gruppierung, die man vielleicht auch mit einigen Bewegungen in Deutschland wie in der Hamburger Hafenstraße vergleichen kann, die sich auch immer wieder Auseinandersetzungen mit der Polizei geliefert hat.
Insofern hat man da Berührungsängste zu diesem Instrument öffentlicher Ordnung und möchte vor allem nicht, dass hier Operationen durchgeführt werden, wie sie die Vorgängerregierungen noch gemacht haben, die nämlich in Polizeioperationen das Zentrum von Athen beispielsweise von Migranten haben räumen lassen.
Kleine Gruppe von 200 bis 300 Personen an Ausschreitungen beteiligt
Büüsker: Neigt die Polizei in Griechenland denn zu Gewalt, oder warum diese Sorgen?
Katsioulis: Sie neigt, glaube ich, nicht mehr oder weniger zu Gewalt als andere Polizeieinheiten. Wir haben aber aus meiner Perspektive eine einseitige Fokussierung auf möglicherweise zu stark gewaltorientierte Aktionen. Wir sehen das bei Fußballspielen, wir sehen das bei Fußballspielen, wir sehen das auch bei Demonstrationen, dass im Zweifel relativ schnell Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt werden, wenig in dem Bereich stattfindet Vorabdiskussionen beispielsweise oder Kommunikation mit Demonstrantinnen und Demonstranten.
Büüsker: Nun scheint diese Räumungsaktion in Idomeni vergleichsweise gut zu laufen. Wir haben noch keine Berichte über Gewalt. Heißt das, die Regierung hat hier gute Arbeit geleistet, das Ganze gut vorgeplant?
Katsioulis: Ich glaube, die Regierung hat gut vorgeplant, in dem Sinne, dass sie die Lager um Idomeni so ausgestattet hat, dass sie auch halbwegs attraktiv sind für die meisten der Flüchtlinge, die dort vor Ort sind. Alles was wir hier in Griechenland gehört haben war, dass diejenigen, die an den Ausschreitungen in Idomeni beteiligt waren, dass das eine relativ schmale Gruppe war, 200 bis 300 Personen, und ich vermute, dass man mit denen auch noch Schwierigkeiten bekommen wird bei der Räumung des Lagers, allerdings nicht in den ersten Tagen, wo man sich wahrscheinlich vor allem auf Familien konzentriert hat und versucht, die umzusiedeln, die auch wahrscheinlich dem gar nicht so negativ gegenüberstehen. Immerhin wird es in den nächsten Tagen sehr, sehr heiß werden und da wird Idomeni fast unerträglich werden.
Zahl der Plätze sicherlich nicht ausreichend für die 55.000 Flüchtlinge
Büüsker: Wie realistisch ist es denn, dass tatsächlich alle Flüchtlinge in Griechenland gut untergebracht werden können?
Katsioulis: Ich halte es für durchaus realistisch, dass diese 9000, die wir jetzt in Idomeni haben, halbwegs vernünftig untergebracht werden. Das liegt geografisch günstig in Nordgriechenland, sodass man sie auf den ganzen Bereich zwischen der Ost- und der Westgrenze verteilen kann, und da gibt es auch jede Menge Gemeinden mit leer stehenden Gebäuden, die man in der Zwischenzeit hergerichtet hat und sie unterbringen kann. Problematischer wird es, wenn wir die mit einbeziehen, die noch auf den Inseln in den Lagern stecken. Insgesamt ist die Zahl der Plätze sicherlich nicht ausreichend für die 55.000 Flüchtlinge, die etwa im Moment in Griechenland sind.
Büüsker: Wie realistisch ist es denn, dass Griechenland die Asylverfahren für all diese Menschen tatsächlich durchführen kann?
Katsioulis: Es ist durchaus realistisch, dass Griechenland das durchführen kann, diese Verfahren. Allerdings ist der Zeithorizont problematisch. Es wird vermutlich sehr, sehr lange dauern. Wir haben nicht genügend Bearbeiter in den Asylbehörden. Wir haben nicht genügend Berufungsgerichte, die diese Asylverfahren dann auch schnell abschließen können. Und wenn wir uns vor Augen führen, dass es in Deutschland, glaube ich, etwa sechs Monate dauert, bis ein Asylverfahren abgeschlossen ist, kann man sich vorstellen, wie lange das in Griechenland dauert mit 55.000, die vermutlich alle bald einen Asylantrag stellen werden.
Büüsker: Schauen wir noch mal kurz auf die Räumung. Hilfsorganisationen kritisieren das Ganze und Behörden verweigern tatsächlich auch Journalisten den Zutritt. Wir haben das heute Morgen mitbekommen, dass ein "Bild"-Reporter zwischenzeitlich sogar festgesetzt wurde. Warum verhindert die Regierung freie Berichterstattung?
Katsioulis: Das hat aus meiner Sicht vor allem mit der eigenen Partei zu tun. Man möchte vermeiden, dass man selbst als Regierung in Zusammenhang gebracht wird mit einer Polizeioperation. Es ist ganz absurd im Moment. In Griechenland verfolgen wir die Live-Bilder des mazedonischen Staatsfernsehens, das von der anderen Seite der Grenze ins Lager reinfilmt, und dann sieht man, wie die Flüchtlinge dort aufgefordert werden, in die Busse zu steigen, was sie auch tun. Aber hier geht es aus meiner Perspektive immer noch um diese Berührungsängste, die die Regierung mit Polizei als Instrument hat, ebenso im Übrigen mit Militär. Das darf man nicht vergessen. Und deswegen hat man versucht, da Journalisten und Journalistinnen möglichst wegzuhalten.
Berührungsängste der Regierung mit Polizei und Militär
Büüsker: Jetzt haben Sie gesagt, Sie verfolgen die mazedonischen Bilder. Wird in Griechenland gar nicht darüber berichtet?
Katsioulis: Doch! Im griechischen Fernsehen werden die Bilder des mazedonischen Fernsehens live übertragen. Und das wird natürlich auch kommentiert von ihren hiesigen Kolleginnen und Kollegen, die das natürlich als Affront empfinden nach dem Motto, wir dürfen noch nicht mal selbst filmen, was in unserem eigenen Land stattfindet, sondern müssen uns darauf verlassen, was die Kollegen aus dem Nachbarland über den Zaun hinüber wegfilmen.
Büüsker: Wie ist denn insgesamt die Stimmung in Griechenland mit Blick auf die Flüchtlingskrise?
Katsioulis: Die Flüchtlingskrise hat eine andere Rolle als in Deutschland. Sie ist nicht der erste Punkt auf der Tagesordnung, sondern sie ist in dem Sinne zweitrangig. Viel wichtiger für die Griechinnen und Griechen ist die heutige Eurogruppen-Sitzung, wo entschieden darüber wird, ob die nächste Auszahlung kommt, was mit dem griechischen Schuldenberg passiert. Das sind die Probleme, die die Menschen tagtäglich betreffen, über Steuererhöhungen, über die Erhöhung der Anhebung der Versicherungsbeiträge. Das sind die unmittelbaren Dinge. Die Flüchtlingsproblematik ist viel eher in einigen Regionen Griechenlands spürbar, wo es dann auch darum geht, wo die Leute angesiedelt werden, aber es hat nicht diese Dimension wie in Deutschland.
Büüsker: Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung in Griechenland, wie wichtig ist es da auch, dass diese Bahnstrecke, die durch Idomeni führt, wieder befahrbar wird?
Katsioulis: Das ist sehr, sehr wichtig, ist vor allem für die Region wichtig. Griechenland hat eine wichtige Rolle als Logistikzentrum für den Balkan und da hat diese Bahnstrecke natürlich eine wichtige Rolle. Es ist jetzt nicht so, dass davon Regionen lebend abhängig wären, aber es ist natürlich ein Mosaikstein, der dazu beiträgt, dass in diesen Regionen im Moment einfach auch wirtschaftliche Probleme zunehmen.
Büüsker: Wie würden Sie die Stimmung unter den Griechen beschreiben mit Blick auf die EU? Fühlt man sich da alleine gelassen in Flüchtlings- und Finanzkrise?
Katsioulis: Ja. Das muss man ganz klar mit einem Ja beantworten. Es ist das Gefühl da, dass man in beiden Punkten im Prinzip am langen Arm verhungern lassen wird, dass man in beiden Aspekten immer derjenige ist, der im Prinzip die Suppe auslöffeln muss. Man fühlt sich im Stich gelassen, weil nicht genügend Unterstützung von Seiten der EU-Staaten geliefert wird, weil Griechenland im Prinzip jetzt alle Asylanträge bearbeiten muss, die eigentlich ja nach Europa gerichtet sind. Und man fühlt sich auch im Bereich der Wirtschaftskrise allein gelassen, wo man jetzt ja wieder neue Sparpakete hat beschließen müssen und das Gefühl hat, es nimmt kein Ende.
Katsioulis: Flüchtlingskrise zweitrangig für die Griechen
Büüsker: Unter diesen Voraussetzungen, wie ist denn die Stimmung für einen Verbleib von Griechenland in der Europäischen Union? Wollen die Menschen das?
Katsioulis: Mehrheitlich wollen die Menschen das noch, aber die Stimmung dafür ist abnehmend. Wir sehen, dass in den letzten Monaten das langsam aber stetig abnimmt, weil viele Menschen sich natürlich immer öfter fragen, warum eigentlich noch, was ist der Vorteil, dass wir noch Mitglied in der Europäischen Union sind, wenn wir diese Sparpakete durchführen müssen und wenn wir dann auch als das Außenland der Europäischen Union angehalten werden, Asylverfahren durchzusetzen, Internierungslager zu errichten, um mit diesen Flüchtlingsströmen klar zu kommen.
Büüsker: Was braucht Griechenland denn dann jetzt?
Katsioulis: Das ist die Kernfrage. Ich glaube, Griechenland braucht Stabilität. Wir brauchen Klarheit darüber, was in den nächsten Jahren passieren wird, nicht nur in den nächsten Monaten. Wir brauchen sicherlich zusätzlich zu dieser Stabilität auch Investitionen, denn aus eigener Kraft wird ein Wirtschaftsaufschwung nur sehr, sehr schwer möglich sein. Und zum Dritten, glaube ich, brauchen wir das, was die Europäer ja längst zugesagt haben, nämlich die Unterstützung Griechenlands bei der Bearbeitung der Flüchtlingskrise, bei der Bearbeitung der Asylanträge, bei dem Management der Flüchtlingskrise auf den Inseln, aber auch im Bereich der Umsiedlung. Es kann nicht sein, dass Griechenland und Italien diejenigen sind, die all die Flüchtlinge aufnehmen, während alle anderen sagen, okay, das Thema ist abgehakt. Hier, glaube ich, brauchen wir ein stärker solidarisches System.
Büüsker: … sagt Christos Katsioulis, Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Athen. Herr Katsioulis, vielen Dank für das Gespräch heute hier im Deutschlandfunk.
Katsioulis: Gern geschehen.
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