Bettina Klein: Der Kontrast konnte wohl größer kaum sein. Während EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker heute noch einmal eindringlich betonte, es müsse alles getan werden, um einen Grexit zu vermeiden, gilt genau das bei vielen Eurostaaten offenbar immer weniger als Tabu.
O-Ton Alexander Graf Lambsdorff: "Wenn ein Land wie Griechenland ganz klar sagt, nein, wir halten die Regeln nicht ein, dann ist der Punkt erreicht, wo die anderen sagen müssen, dann ist es in Ordnung, dann müsst ihr die Eurozone verlassen, damit die Eurozone gestärkt und regelorientiert weiter arbeiten kann."
Klein: Alexander Graf Lambsdorff heute Abend [Dienstag] im ZDF. Und lauscht man derzeit einer wachsenden Zahl von Ökonomen und EU-Experten, so könnte man den Eindruck gewinnen, der Grexit komme sowieso, die Frage ist nur wann und wie viele Sondergipfel, wie viele Verhandlungen und vielleicht auch wie viele Milliarden Euro bis dahin noch in das Land und in seine Banken fließen werden. - Soweit die Szenarien der Zukunft. In Brüssel sind die Beratungen für heute Abend [Dienstag] zunächst einmal zu Ende gegangen.
Die Hoffnungen ruhen jetzt zumindest in Griechenland auf einem möglichen neuen Hilfspaket, einem Hilfsprogramm aus dem ESM, das dann irgendwie anderen Grundlagen und Voraussetzungen gehorchen würde, und wie viel Aussicht auf Erfolg hat dieses Projekt. Darüber können wir jetzt live sprechen mit Bert van Roosebeke vom Centrum für Europäische Politik, einer Denkfabrik in Freiburg. Schönen guten Abend!
Bert van Roosebeke: Guten Abend!
"Wir haben eine neue Deadline"
Klein: Ist jetzt der Stein der Weisen gefunden und damit kann Griechenland gerettet werden?
van Roosebeke: Nein. Wir sind heute überhaupt gar nicht weitergekommen. Wir haben eine neue Deadline. Das ist jetzt wahlweise der Donnerstag oder Freitagmorgen 8:30 Uhr, wie Herr Juncker gerade sagte. Das ist die neue Deadline, um Vorschläge der Griechen für ein neues ESM-Programm zu bekommen, denn dann sollte der Rat der 28 Mitgliedsstaaten - ganz wichtig, dass da alle 28 kommen sollen - darüber befinden, ob das überhaupt ausreicht, um Verhandlungen anzufangen über ein neues ESM-Programm. So ist die Lage im Moment. Es sieht für mich im Moment so aus, dass die Regierungschefs am Sonntag entscheiden werden müssen über eine Überbrückungshilfe für Griechenland und dass sie entscheiden müssen, ob das eine Überbrückungshilfe immer noch innerhalb der Eurozone ist, oder ob sie am Sonntag entscheiden, dass es das war mit Griechenland und dass die Hilfe letztlich Griechenland in die Lage versetzen soll, eine neue Währung einzuführen.
Klein: Ist Ihnen denn erklärlich, weshalb die griechische Regierung jetzt darauf rekurriert, obwohl ja die Rahmenbedingungen und die Voraussetzungen bekannt sein dürften, dass sie nicht einfacher sind?
van Roosebeke: Die Griechen haben letztlich keine Wahl. Wir haben ja letztlich nur noch eine Möglichkeit, Geld zu beantragen innerhalb der Eurozone, und das ist der ESM, und die Bedingungen sind letztlich wohl bekannt. Es sind verschiedene Voraussetzungen zu erfüllen. Dann müsste übrigens erst mal nachgewiesen werden, oder glaubhaft nachgewiesen werden, dass die Stabilität der Eurozone als Ganze in Gefahr ist, um überhaupt ESM-Gelder empfangen zu können.
Klein: Die finanzielle Stabilität der Eurozone als Ganzes oder aber eines Mitgliedslandes. Sehen Sie das gegeben?
van Roosebeke: Ich glaube, das muss man heute nicht unbedingt als gegeben sehen. Wir haben mittlerweile eine Bankenunion, wir haben letztlich Schulden der Griechen, die Hauptgläubiger Griechenlands sind heutzutage nicht mehr private Banken und Versicherungen und Pensionsfonds, die umfallen könnten. Die Hauptgläubiger sind die EZB und die anderen Eurostaaten, und das zwar in einem umfangreichen Ausmaß, aber nicht so, dass diese Staaten anschließend auch in die Krise rutschen würden. Ich würde das nicht mehr so als gegeben sehen, und ich habe auch mit Interesse Herrn Tusk gerade gehört in der Pressekonferenz, der gesagt hat, wir werden darauf schauen, ob die Stabilität der Eurozone als Ganzes gefährdet ist.
Klein: Gibt es denn da eventuell ein Schlupfloch, wenn man sich jetzt vor Augen hält, dass doch alle versuchen, das Äußerste zu vermeiden und man jetzt offensichtlich jeden Weg beschreiten möchte, um vielleicht doch in letzter Minute noch ein Hilfspaket auf den Weg zu bringen? Ist das möglicherweise auch so dehnbar, dass man dann am Ende doch zu dem Ergebnis kommen könnte, auch wenn es nur auf dem Papier steht, die Stabilität der Eurozone als Ganzes ist doch ein wenig in Gefahr?
van Roosebeke: Ja, das ist sicher dehnbar. Wenn der politische Wille da ist - und das hängt, glaube ich, heutzutage davon ab, ob die Eurozone den Eindruck hat, dass die griechische Regierung willens ist, Reformen umzusetzen -, wenn dieser Wille da ist, dann wird es sicher nicht daran scheitern. Aber dann wird man am Sonntag, wie gesagt, eine Überbrückungshilfe beschließen können. Ich gehe davon aus, dass das eine Überbrückungshilfe der Gesamt-EU sein wird und nicht der Eurozone. Aber dann geht das ganze Spiel wieder von vorne los. Dann werden die Verhandlungen über das neue ESM-Programm überhaupt erst anfangen. Dann brauchen wir eine Abstimmung im Bundestag darüber, dass diese Verhandlungen überhaupt anfangen dürfen. Dann werden die Verhandlungen wochenlang dauern, und am Ende haben wir wieder eine Abstimmung, unter anderem auch im Bundestag darüber, ob das Programm in Deutschland die Anforderungen der Abgeordneten des Bundestages erfüllt. Da ist natürlich ein Riesenstreit erneut vorprogrammiert, unter anderem über Schuldenschnitt und über die ganz grundlegende Frage, wie würde Tsipras seiner Bevölkerung zuhause die Bedingungen dieses neuen Programms, das über mehrere Jahre laufen soll und dementsprechend sicher nicht locker sein wird, wie würde er das Zuhause verkaufen können.
"Es ist nicht die Pflicht der EZB, für ausreichend Liquidität zu sorgen"
Klein: An den Streit sind wir ja mittlerweile gewöhnt. Aber was passiert denn finanziell in der Zwischenzeit? Das alles kann dann nur unter der Voraussetzung laufen, dass die EZB weiterhin den Geldhahn geöffnet lässt.
van Roosebeke: Danach sieht es aus. Frau Merkel hat gerade auch gesagt, sie geht davon aus, dass die EZB ihre Pflicht tun wird, sprich bis Sonntag für ausreichend Liquidität sorgen wird. Das ist eine sehr gewagte Aussage, finde ich. Es ist nicht die Pflicht der EZB, für ausreichend Liquidität zu sorgen.
Klein: Das heißt, das ist die Aufforderung an die EZB gewesen, jetzt doch noch mal die Kredite aufzustocken, oder wie verstehen Sie das?
van Roosebeke: Frau Merkel hat gar nicht das Recht, die EZB dazu aufzufordern. Die EZB ist eine unabhängige Notenbank und laut EU-Verträgen darf kein Politiker die EZB dazu auffordern.
Klein: Wie verstehen Sie das denn, diesen Satz, den Sie gerade zitiert haben?
van Roosebeke: Ich verstehe das so, dass letztlich Herr Draghi sich mit Frau Merkel und sich auch mit Herrn Hollande ausgetauscht hat, und letztlich hat man sich geeinigt, wir geben den Griechen noch eine Woche Zeit, und in der Zeit sorgt die EZB dafür, dass das Finanzwesen in Griechenland nicht vollends zusammenbricht. Aber spätestens bis Sonntag muss klar sein, ob Griechenland überhaupt eine Chance hat, in der Eurozone zu bleiben, über diese Verhandlungen über das künftige ESM-Programm, oder ob am Sonntag wirklich Schluss ist.
Klein: Und bestenfalls einigt man sich dann aus Sicht Griechenlands am Sonntag auf ein Hilfspaket. Aber damit ist ja noch kein weiteres Geld da. Das heißt, eigentlich müsste ja dann auch nach dem Sonntag weiter Geld von der Europäischen Zentralbank kommen, oder nicht?
van Roosebeke: Nein. Das muss man vielleicht noch klarstellen. Am Sonntag wird kein neues Hilfspaket vereinbart werden. Am Sonntag wird eine Entscheidung getroffen, ob man verhandeln wird über ein neues Hilfspaket, und dann wird man vielleicht in zwei, drei Monaten oder vielleicht in wenigen Wochen doch ein neues Hilfspaket haben. Und in der Zeit, während die Verhandlungen laufen, werden wir sehr wahrscheinlich Übergangshilfen irgendeiner Art bekommen, die ich heute Ihnen auch nicht vorhersagen kann. Und je nachdem, wie die ausgestaltet sind, wird die EZB immer noch gezwungen sein, wahrscheinlich Not-Liquiditätshilfe bereitzustellen, oder werden Kapitalverkehrskontrollen in Griechenland immer noch notwendig sein. Aber das kann man heute nicht sagen. Das wird davon abhängen, wie diese Nothilfe, wovon ich stark ausgehe, dass die am Sonntag vereinbart wird, aussehen wird.
Klein: Und das, obwohl, wie ja viele meinen, die EZB bereits jetzt am Rande ihres Mandats agiert.
van Roosebeke: Ja. Ich glaube, das sieht die EZB auch so. Sie ist sehr, sehr kritisch gewesen, hat sogar heute sehr kritische Berichte über das ELA-Instrument veröffentlicht. Die EZB hat sehr klar gemacht, dass sie eigentlich nur bis Sonntag bereit ist, das ELA-Instrument, sprich die Notliquidität, aufrecht zu halten.
"Zwei Möglichkeiten der Chefs"
Klein: Abschließend: Was ist Ihre Meinung, Herr van Roosebeke? Ist das in jeder Hinsicht gut und sinnvoll, auch politisch jetzt noch mal alles dranzugeben und einen möglichen weiteren langen Verhandlungsprozess von möglicherweise vielen Wochen und Monaten in Kauf zu nehmen, um Griechenland in der Eurozone zu halten?
van Roosebeke: Es gibt letztlich heute zwei Möglichkeiten, oder es gab zwei Möglichkeiten für die Chefs. Man hätte sofort den Grexit beschließen können, oder man hätte den Griechen noch eine Chance geben können. Man hat sich jetzt für das Letztere entschieden. Das ist vertretbar. Wenn man das rein finanzmathematisch betrachtet, setzt man letztlich nur diese Nothilfe aufs Spiel, diese Überbrückungshilfe, die am Sonntag sehr wahrscheinlich beschlossen wird. Wenn die Griechen dann doch nicht liefern und die Verhandlungen über das neue Paket scheitern, weil letztlich die griechische Regierung nicht bereit ist, die Reformen umzusetzen, dann wird man den Grexit später beschließen und wird den Griechen wahrscheinlich noch mal eine gewisse Nothilfe geben müssen, und dann hat man die Nothilfe zweimal bezahlt. Das kann ich, glaube ich, in Anbetracht der Schwere der Entscheidung nachvollziehen, dass Politiker dann sagen, jetzt geben wir denen wirklich die allerletzte Chance. Das wurde doch sehr deutlich gemacht in den Pressekonferenzen heute. Juncker hat gesagt, wir haben detaillierte Pläne über den Grexit. Das sind ganz neue Töne. Der Druck ist massiv erhöht worden und ich gehe wirklich davon aus, dass das jetzt die allerletzte Chance ist.
Klein: Die Einschätzung von Bert van Roosebeke vom Centrum für Europäische Politik in Freiburg heute Abend hier im Deutschlandfunk. Ich danke Ihnen für das Interview.
van Roosebeke: Gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.