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Griechenland-Krise
"Jetzt sind Staatsmänner statt Buchhalter gefordert"

Die Staats- und Regierungschefs in Europa seien jetzt in der zugespitzten Griechenland-Krise gefordert, sagte Jo Leinen (SPD). Der EU-Abgeordnete sagte, dass sich die Staatschefs auf die neue Lage einstellen müssten und man Griechenland nicht im Stich lassen könne.

Jo Leinen im Gespräch mit Gerd Breker |
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen, von der Seite aufgenommen, sprechend und mit einer Hand gestikulierend.
    Jo Leinen (SPD) glaubt noch nicht an den Grexit (imago/stock&people/Becker&Bredel)
    "Wir reden von Schicksalsgemeinschaft, wenn wir von Europa reden. Diese Worte können wir in den Mülleimer werfen, wenn bei einer größeren Krise dieses Gebilde auseinanderfällt, sagte Leinen weiter. Seiner Meinung nach sei Europa mehr wert, als die Abschreibung von einigen Schuldtiteln. "Europa ist nicht nur für gute Tage da, sondern auch für schlechte Tage."
    Leinen sagte, dass sich Staatschefs wie Frankreichs Präsident Hollande oder Kanzlerin Merkel sich auf die neuen Realitäten einrichten müssen. Wichtig sei auch, dass bei einem Ja zum Referendum in Griechenland die EU-Institutionen, Kommissionspräsident Jean-Claude-Juncker neue Lösungsvorschläge für Griechenland auf den Tisch bringen
    Referendum ist ein Trick Tsipras
    Das Referendum von Tsipras sei ein Trick, sagte Leinene. Herr Tsipras will ein Votum vom Volk bekommen, weil seine eigene Parlamentsfraktion einen Sparkurs nicht mittragen will. Wenn die Bevölkerung in Griechenland Ja, sage, dann "muss es eine nächste Verhandlungsrunde geben", sagte er.
    EU-Vertrag muss erweitert werden
    Im Hinblick auf die europäische Idee sagte Leinen, dass man künftig neben der Währungsunion auch den nächsten Schritt Richtung Wirtschafts- und Finanzunion anstreben müsse. "Das muss jetzt nachgebessert werden mit einem neuen EU-Vertrag," sagte Leinen.

    Das Interview in voller Länge:
    Am Telefon sind wir verbunden mit Jo Leinen. Er sitzt für die SPD im Europaparlament und dort unter anderem ist er Mitglied im Ausschuss für konstitutionelle Fragen. Guten Tag, Herr Leinen.
    Jo Leinen: Guten Tag, Herr Breker.
    Breker: Die Gespräche über eine Fortsetzung des Hilfsprogramms für Griechenland sind im Eklat gescheitert. Die Pleite Griechenlands scheint unausweichlich. Ein Rückschlag für den Euro sondergleichen?
    Leinen: Nun, ich glaube, das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Ich bin auch der Meinung, nicht Finanzbuchhalter, sondern Staatsmänner sind jetzt gefordert. Das wird noch mal eine Sache für die Chefs in Europa, ob wir wirklich ein Land Bankrott gehen lassen und letztendlich aus der Gemeinschaft der Eurozone ausschließen. Das hat Folgen, das muss man sich wirklich zweimal überlegen.
    Breker: Die Fronten sind aber im Moment verhärtet. Wer kann denn, wer soll denn vermitteln?
    Leinen: Das ist ein Pokerspiel, was sicherlich jetzt ziemlich überreizt ist. Es ist meines Erachtens noch nicht ausgereizt. Wenn die Bevölkerung in Griechenland am Sonntag Ja sagen sollte zu dem Reformprogramm, was die Gläubiger vorgeschlagen haben, dann muss es eine nächste Runde geben. Dann kann man nicht stur sein. Ich sage mal, wenn man in der Familie ein störrisches Kind hat, dann ist der Ausschluss aus der Familie das aller, aller letzte Mittel. Vorher gibt es dann noch viele Wege und Möglichkeiten, wie man doch noch mal zusammenkommt.
    Politik ist manchmal schizophren
    Breker: Sie haben es angesprochen, Herr Leinen. Die Griechen sollen in einem Referendum am Sonntag über den Sparplan der Geldgeber entscheiden. Die Tsipras-Regierung empfiehlt das Nein und der Rest Europas hofft auf ein Ja der Griechen. Eine seltsame Konstellation?
    Leinen: Ja, es ist ziemlich absurd und für den Normalbetrachter auch nicht mehr verständlich. Aber Politik ist manchmal auch nicht logisch, sondern sehr verquer und schizophren. Das Referendum ist wohl ein Trick von Herrn Tsipras, ein Votum der Bevölkerung zu bekommen, weil seine eigene Partei, vor allen Dingen seine eigene Parlamentsfraktion Sparmaßnahmen nicht mitmachen will. Er braucht irgendwie einen Hebel, um noch mal weitermachen zu können und noch mal wirklich in die Arena zu kommen zum Verhandeln.
    Breker: Und die EU-Kommission muss jetzt Wahlkampf in Griechenland betreiben?
    Leinen: Es ist merkwürdig, dass die Europäer natürlich ein Ja befürworten müssen und die eigene Regierung ein Nein befürwortet, aber man lernt immer noch mal dazu. Nichts ist unmöglich.
    Breker: Die Griechen und auch die Linkspartei hier in Deutschland, sie argwöhnen, dass die Kompromisslosigkeit der Geldgeber allein der Tatsache geschuldet sei, dass in Athen eine linke Regierung am Ruder ist. Sehen Sie das ähnlich?
    Leinen: Nun, ich sehe, dass wir mit anderen Ländern auch ziemlich viel Langmut bewiesen haben. Da braucht man gar nicht so weit zu gehen, ob das Italien ist oder Frankreich. Das sind große Länder, die immer wieder einen Aufschub bekommen, wenn sie die Regeln nicht einhalten. Es wäre schade, dass Griechenland abgestraft wird, nur weil es ein kleines Land ist und weil jetzt eine Regierung am Ruder ist, die eine andere Prioritätensetzung hat, die Armutsbekämpfung machen will und natürlich ein bisschen Herzblut verliert, dass mit den weiteren Sparmaßnahmen noch mehr Menschen leiden müssen. Ich glaube, das ist eine neue Realität. Auf die müssen sich Staatsmänner einrichten. Finanzbuchhalter tun das nicht, Politiker der üblichen Couleur auch nicht, aber die Chefs, Frau Merkel, Herr Hollande und die anderen, müssen da noch mal ran.
    Das ist eine neue Realität
    Breker: Aus Ihrer Sicht, Herr Leinen, ist das Projekt gemeinsame Währung noch nicht gescheitert?
    Leinen: Wir reden von einer Schicksalsgemeinschaft, wenn wir von Europa reden. Dieses Wort können wir wirklich in den Mülleimer werfen, wenn bei einer größeren Krise, die wir sicherlich haben, dieses Gebilde auseinanderfällt und nicht zusammenhält. Das taugt dann nicht mehr innerhalb der EU und die Glaubwürdigkeit ist auch weltweit weg, und man sieht es ja an den Börsen. Die Nervosität wird von Neuem beginnen und auch das Spiel, wer ist der Nächste. Ich bin der Meinung, die europäische Einheit ist mehr wert als die Abschreibung von einigen Schuldtiteln.
    Breker: Es scheint aber so, Herr Leinen, als ob die große europäische Idee zerplatzt sei. Möglicherweise am leidenschaftslosen Pragmatismus einer Angela Merkel?
    Leinen: Wir stehen an einem Scheideweg und da muss man sich entscheiden: Will man dieses historische Projekt weiterführen? Will man wirklich der Welt zeigen und auch den eigenen Menschen, dass die Einheit Europas ein höherer Wert ist, für den man auch Opfer bringen muss? Oder gibt man den Stimmungen nach, gibt man den Rechenschiebern nach und lässt dieses Gebilde sich wirklich zerbröseln? Griechenland wäre dann womöglich nur der Anfang. Wir sehen, dass Populisten und Europagegner auch in anderen Ländern an der Lunte zündeln, und ich kann nur davor warnen. Man muss noch mal alles versuchen, doch noch eine Lösung für diese kleine Volkswirtschaft, für dieses kleine Land am Rande der EU zustande zu bringen.
    Breker: Braucht Europa, Herr Leinen, ein neues Fundament?
    Leinen: Ich denke, der Lissabon-Vertrag, den wir haben, der ist schon gut, aber nicht ausreichend. Wir stehen quasi auf einem Bein und brauchen die Stütze des zweiten Beines. Wir brauchen neben der Währungsunion jetzt den nächsten Schritt der Wirtschafts- und Finanzunion. Das fehlt uns ja. Von daher hampeln wir auch so herum seit sechs Jahren. Die USA hatten die gleiche Krise und sind viel schneller rausgekommen, weil sie eine Zentralbank haben, die agieren können, weil sie einen Haushalt haben, der gegensteuern kann, und einen Präsidenten haben, der entscheiden kann. Alles das fehlt in der EU und das muss jetzt nachgebessert werden. Ich glaube, wir brauchen schon die Erweiterung des Fundaments auch mit einem neuen EU-Vertrag.
    Wir sollten ein Land nicht im Stich lassen
    Breker: Für die Menschen in Griechenland wird es schlimm werden. Europa kann nicht daneben stehen und zuschauen.
    Leinen: Wir sollten ein Land nicht im Stich lassen, auch wenn die Lage noch so kompliziert ist und von uns auch gesehen auch sehr unverträglich wirkt. Ich glaube, man muss das durchhalten. Europa ist nicht nur für gute Tage da, sondern auch für schlechte Tage. Wir sind gar nicht so weit auseinander. Mit einem letzten guten Willen wird es auch in dieser Frage noch mal den berühmten europäischen Kompromiss geben können.
    Breker: Ist jetzt Jean-Claude Juncker gefragt?
    Leinen: Ich hoffe, dass die EU-Institutionen, das Parlament und in erster Linie die Kommission einen Lösungsvorschlag noch mal auf den Tisch legen. Die nationalen Hauptstädte sind auch etwas gehandicapt durch ihre nationalen Öffentlichkeiten, auch durch nationale Parlamente. Ich denke, Herr Juncker als Präsident Europas muss jetzt in Vorlage gehen, und wir sind gespannt, was er vielleicht sogar heute noch auf den Tisch legen wird.
    Breker: Im Deutschlandfunk war das die Einschätzung von Jo Leinen. Er ist SPD-Abgeordneter im Europaparlament. Herr Leinen, ich danke für das Gespräch.
    Leinen: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.