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Griechenland-Krise
Temporärer Grexit "absolut lächerlich"

Die Bundesregierung beharre in den Verhandlungen über die Griechenland-Krise darauf, dass das Falsche das Richtige sei, sagte der ehemalige Staatssekretär im Finanzministerium, Heiner Flassbeck, im DLF. Den Vorschlag von Finanzminister Schäuble, Griechenland solle vorübergehend aus dem Euro aussteigen, kritisierte er scharf.

Heiner Flassbeck im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Der Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck.
    Der Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck. (Imago / Hohlfeld)
    Mario Dobovisek: Er habe einen Text unterschrieben, an den er nicht glaube, sagte Griechenlands Premier Alexis Tsipras im Fernsehen, um dann doch noch hinterherzuschieben, er sei aber verpflichtet, ihn umzusetzen. Die Gefolgschaft haben ihm 32 Abgeordnete aus den eigenen Reihen gestern Nacht aufgekündigt, so schaffte er es nur mithilfe der Opposition, die ersten Sparvorhaben umzusetzen. Und die sind Bedingungen für die Aufnahme weiterer Verhandlungen mit den Geldgebern. Mit der Abstimmung dort liegt jetzt der Ball bei mehreren Parlamenten, bei mehreren europäischen Parlamenten, unter anderem im Deutschen Bundestag.
    Und am Telefon begrüße ich den Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck, bei Oskar Lafontaine war er Staatssekretär im Finanzministerium und anschließend Chefvolkswirt der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung. Guten Tag, Herr Flassbeck!
    Heiner Flassbeck: Guten Tag!
    Dobovisek: Tsipras will nicht, Schäuble offenbar im Grunde auch nicht. Mehrere Dutzend Unionsabgeordnete wehren sich, auch viele Ökonomen. Warum soll dann weiter verhandelt werden?
    Flassbeck: Warum soll weiter verhandelt werden? Nun, ich dachte, man hat entschieden. Wenn man sich jetzt dagegen wehrt, was man entschieden hat, ja, dann richtet man in der Tat Chaos an in Griechenland. Und das kann ja niemand wollen, oder?
    Dobovisek: Welches Bild hinterlässt das in Ihren Augen?
    Flassbeck: Na, das Bild ist sowieso schon katastrophal. Ich meine, das Bild, das die Verhandlungen hinterlassen haben in der ganzen Welt, da muss man ja nur die internationalen Kommentare anschauen, ist katastrophal, für Deutschland vor allem. Und das ökonomische Bild, wenn ich das mal werten soll, das ökonomische Bild ist, dass hier ein Land weiter traktiert wird auf eine Art und Weise, die vollkommen ungeeignet ist. Das war schon die letzten fünf Jahre falsch, was man gemacht hat mit Griechenland, und es wird jetzt genauso falsch weitergemacht, weil Deutschland darauf beharrt, dass das Falsche das Richtige ist.
    "Grexit ist eine unglaublich risikoreiche, komplizierte Operation"
    Dobovisek: Griechenland will keinen Grexit, will den Euro behalten, auch das Mantra der meisten Spitzenpolitiker hierzulande. Nun gibt Wolfgang Schäuble aber zu bedenken: Ein weiterer Schuldenschnitt sei ohne Grexit gar nicht vorstellbar. Reicht Ihre Vorstellungskraft da weiter?
    Flassbeck: Na ja, Grexit, das wird immer so leicht dahingesagt, es geht auch nicht um den Willen von irgendjemand zum Grexit, sondern Grexit ist eine unglaublich risikoreiche, komplizierte Operation, bei der das ganze Land in Chaos versinken kann, wo man tatsächlich zum "Failed State" werden kann, wenn Panik ausbricht und die Leute versuchen, ihre Bankkonten zu retten. Also, man muss das lange vorbereiten, man muss die Bevölkerung darauf vorbereiten, alles das ist ja überhaupt nicht passiert. Insofern kann man nicht einfach leichtfertig vom Grexit reden.
    Und dann der Herr Schäuble mit seiner seltsamen Idee, temporär auszusteigen. Ich meine, ein Land, das selbst alles auf sich nimmt, diese unglaubliche Operation auf sich nimmt, dem dann zu sagen, ach, in fünf Jahren kommt ihr wieder, da machen wir so weiter wie vorher, das ist absolut lächerlich, ich weiß gar nicht, was das soll. Und man hätte Griechenland ja die Schulden schieben können. Man muss sie ja nicht streichen. Wenn er sie nicht streichen will, kann man die Schulden schieben, umstrukturieren.
    Dobovisek: Das ist ja im Grunde schon geschehen, dass viele Schulden geschoben worden sind. Es gab auch schon einen ersten Schuldenschnitt.
    Flassbeck: Man hat ja auch schon Schulden gestrichen, es ist ja nicht so ... Man hat ja Schulden gestrichen, die gleichen Leute, die jetzt sagen, man darf nie Schulden streichen, haben ja Schulden gestrichen.
    "Die ganze europäische Wirtschaft ist in einer katastrophalen Situation"
    Dobovisek: Brauchen wir einen zweiten Schuldenschnitt?
    Flassbeck: Es hat ja nichts bewirkt, es gab ja einen Schuldenschnitt, er hat nur nichts bewirkt, weil die Wirtschaft gleichzeitig zusammengebrochen ist. Und darum geht es immer noch, man muss die Wirtschaft stabilisieren, übrigens die ganze europäische Wirtschaft ist in einer katastrophalen Situation, nicht nur Griechenland. Wir reden immer über Griechenland und nur über Griechenland, das ist vollkommen falsch, wir müssen über ganz Europa reden. Die ganze europäische Währungsunion ist in einer Rezession seit vier Jahren, das ist eine Katastrophe schlechthin. Und wenn Griechenland irgendwann gelöst sein sollte in irgendeiner Weise, werden andere Länder da stehen, die größer und wichtiger sind, Frankreich und Italien, bei denen man auch feststellen wird, dass es so nicht weitergehen kann. Aber nicht, weil sie Fehler gemacht haben, sondern weil Deutschland auch immer dabei ist. Denn Deutschland hat am Anfang den größten Fehler gemacht, indem es unter seinen Verhältnissen gelebt hat und die anderen Länder sozusagen an die Wand gedrängt hat.
    Dobovisek: Das ist Ihre Meinung, Herr Flassbeck.
    Flassbeck: Stimmt.
    Dobovisek: Aber wie kommen wir aus dieser gesamteuropäischen Krise, wie Sie sagen, heraus?
    Flassbeck: Na ja, nur indem wir an die Ursachen gehen. Fragen, was ist in dieser Währungsunion ganz fundamental schiefgelaufen? Und da müssen wir schauen, dass es gleich von Anfang an Länder gab, die über ihren Verhältnissen gelebt haben. Das waren Länder in Südeuropa, Frankreich nicht, Italien aber schon, Griechenland auch, Spanien auch, und es ein großes Land unter seinen Verhältnissen gelebt, nämlich Deutschland.
    Beides geht nicht in einer Währungsunion, sondern man muss sich in einer Währungsunion – die hat ja ein Inflationsziel gehabt von zwei Prozent –, muss sich jeder an seine eigenen Verhältnisse so anpassen, dass ungefähr zwei Prozent in jedem Land herauskommen. Und das ist schiefgelaufen. Und deswegen hat Deutschland einen ungeheuren Wettbewerbsvorteil sich erwirkt, durch seine Lohnzurückhaltung, nennen wir es vornehm, oder Lohndumping, und die anderen haben an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Diese Lücke muss geschlossen werden.
    "Wer unter seinen Verhältnissen lebt, macht den gleichen Fehler wie der, der über seinen Verhältnissen lebt"
    Dobovisek: Aber das ist ja nicht Fehler Deutschlands.
    Flassbeck: Doch, das ist Fehler Deutschlands, denn es ging ja darum, sich an die Inflationsrate anzupassen von zwei Prozent, von etwa zwei Prozent, und Deutschland ist weit darunter geblieben. Wer unter seinen Verhältnissen lebt, macht den gleichen Fehler wie der, der über seinen Verhältnissen lebt. Und das muss korrigiert werden. Nur, darüber reden wir ja gar nicht, wir sind ja gar nicht bereit, auch darüber nur eine Sekunde nachzudenken. Das ist auch nicht nur meine Meinung, sondern das ist die Meinung, sage ich mal, der meisten vernünftigen Ökonomen auf der ganzen Welt.
    Dobovisek: Hilfspakete, Rettungskredite, harte Sparmaßnahmen, um wieder zurück nach Griechenland zu kommen, das alles kritisieren Sie ebenso wie die Linkspartei, die Austeritätspolitik sei der falsche Weg. Welcher wäre denn jetzt für Griechenland der richtige?
    Flassbeck: Man muss immer ... Sehen Sie, das hat nichts mit Griechenland jetzt akut zu tun. Es gibt immer nur den Weg für eine Wirtschaft, die am Boden liegt, dass man sie stimuliert im positiven Sinne, nämlich indem man Nachfrage entfaltet. Dieses ganze Schräubchen-Drehen, jetzt verlängern wir die Ladenschlusszeiten in Griechenland oder liberalisieren sie vollständig, um nur ein Beispiel zu nehmen, ist doch vollkommen unsinnig. Wenn die Leute kein Geld haben, was nützt dann die Liberalisierung der Ladenschlusszeiten? Überhaupt nichts!
    Dobovisek: Also Expansion und Wachstum sozusagen, um zu stimulieren. Aber kein Wachstum ohne Schulden, habe ich irgendwann mal gelernt an der Universität, woher soll das Geld kommen?
    Flassbeck: Expansion und Wachstum, und das geht nur ... Bitte?
    Dobovisek: Kein Wachstum ohne Schulden, habe ich irgendwann mal an der Uni gelernt.
    Flassbeck: Ja, nein, so ist es richtig. Sehen Sie, Sie haben es jetzt begriffen, genau, kein Wachstum ohne Schulden. Irgendjemand muss sich immer verschulden, sonst gibt es keine Marktwirtschaft, sonst gibt es kein Wachstum, sonst gibt es keine Entwicklung. Irgendjemand muss sich verschulden. Und da die Privaten sich im Moment nicht verschulden, bleibt nur ein Einziger übrig, der sich verschulden kann, nämlich der Staat. Wenn Menschen sparen wollen, wollen die Menschen sparen, ...
    "Wir brauchen also riesige Schulden des Auslandes, um zu wachsen"
    Dobovisek: Und die künftigen Generationen!
    Flassbeck: ... da muss sich jemand verschulden, das ist einfache Logik, das ist Buchhaltung. Und die müssen wir begreifen. Wenn wir die beginnen zu begreifen, dann haben wir eine Chance, da herauszukommen.
    Dobovisek: Nun versucht Wolfgang Schäuble und die Bundesregierung ja schon seit geraumer Zeit, eben aus diesen Schulden wieder rauszukommen, Stichwort Schuldenbremse. Ist das also aus Ihrer Sicht der falsche Weg? Die späteren Generationen eben nicht weiter zu belasten?
    Flassbeck: Das hat mit späteren Generationen nichts zu tun, aber darauf will ich jetzt nicht im Einzelnen eingehen. Was wir machen, ist: Wir schieben uns die Schulden ans Ausland. Deutschland braucht ja jedes Jahr in diesem Jahr über 200 Milliarden Schulden, um sein 1,5 Prozent Wachstum darzustellen, aber Schulden des Auslandes. Das ist unser Leistungsüberschuss, das sind die Schulden des Auslandes. Wir brauchen also riesige Schulden des Auslandes, um zu wachsen. Nur, das geht nicht immer, weil das Ausland irgendwann überschuldet ist, das ist richtig. Und deswegen muss dann derjenige, der immer auf die Schulden des Auslands gesetzt hat, also unter seinen Verhältnissen gelebt hat, der muss das umdrehen, der muss mehr ausgeben, der muss aufhören, auf die Schulden des Auslands zu setzen, sonst gibt es keine Lösung. Und deswegen stecken wir so in der Krise, weil Deutschland nicht willens und bereit ist, darüber auch nur eine Sekunde nachzudenken.
    Dobovisek: Klingt nach einem Ruf nach mehr Solidarität, den wir noch ein bisschen weiten könnten. Ihr Ökonomenkollege Clemens Fuest schlägt eine Erhöhung des Solidaritätszuschlags vor, von 5,5 Prozent auf acht, und zwar, um Griechenland zu unterstützen. Nicht gerade populär, aber vielleicht doch ehrlicher?
    Flassbeck: Nein, was heißt ehrlicher. Es ist ja keine Lösung. Herr Fuest tut so, als müssten wir jetzt damit rechnen, dass es eine sklavische Abhängigkeit gibt, so wie Ost- und Westdeutschland, dieser Länder von Deutschland für immer. Nur weil er nicht darüber reden will, worüber ich gerade rede, nämlich über die Änderung des Wirtschaftsmodells Deutschlands. Er will nicht darüber reden. Er sagt, Deutschland muss Überschüsse behalten für die nächsten 100 Jahre und die anderen müssen Schulden machen für die nächsten 100 Jahre, und damit das ein bisschen erträglicher wird, geben wir ihnen ein bisschen von unserem Steuergeld. Das ist eine vollkommen falsche Idee. Und übertragen Sie diese Idee mal auf Frankreich und Deutschland, da werden Sie sehen, dass es völlig lächerlich ist. Ich bin jetzt gerade hier in Frankreich, lebe in Frankreich. Und wenn man Frankreich vorschreiben würde, es solle jetzt Transferempfänger von Deutschland werden und damit auch von Deutschland regiert werden, dann werden Sie erleben, was passiert, nämlich es werden rechtsradikale Parteien gewählt und der Euro ist am Ende. Der wird sowieso unter diesen Bedingungen bald am Ende sein.
    "Man muss vor allem die Lohnpolitik koordinieren"
    Dobovisek: Wann?
    Flassbeck: Ja, 2017, Oktober 2017 ist Wahl in Frankreich. Schauen wir mal, was bis dahin passiert. Wenn bis dahin nichts passiert, wenn bis dahin das alles so weitergeht, Rezession und Stagnation in Europa, dann ist es auch möglich, dass der Front National gewinnt und der nächste Präsident eine Präsidentin ist.
    Dobovisek: War der Euro von Anfang an ein Fehler oder nur seine Art, ihn einzuführen?
    Flassbeck: Die Art des Managements. Ich habe das 1999 schon als Staatssekretär im Finanzministerium gesagt, man muss anders eine solche Währungsunion koordinieren, man muss anders damit umgehen. Man muss vor allem die Lohnpolitik koordinieren, damit man eine einheitliche Inflationsrate hinbekommt. Die Grundidee war durchaus in Ordnung, nur der Vertrag von Maastricht war schon schlecht. Und dann, das Management danach war absolut katastrophal.
    Dobovisek: Der Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck bei uns im Deutschlandfunk im Interview. Ich danke Ihnen!
    Flassbeck: Bitte sehr!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.