Es könne "nicht sein, dass es eine Parteiblockade gibt", sagte Roth. Diese Kritik richtete die Grünen-Politikerin an die Adresse der regierenden Partei Griechenlands Syriza, der Ministerpräsident Alexis Tsipras und Finanzminister Yanis Varoufakis angehören. Varoufakis verhandelt für Griechenland mit der EU. Sie forderte, dass die griechische Regierung beispielsweise an den "monströsen Verteidigungsetat" gehe und Gelder für die Investitionen der Zukunft bereitstelle. Roth betonte, dass eine Lösung im Sinne der Bevölkerung Griechenlands geschaffen werden müsse.
"Beide Seiten müssen sich bewegen"
Ein Grexit, der Austritt Griechenlands aus der Eurozone, könnte zudem zu einer Abwärtsspirale für Länder wie Spanien oder Italien führen. Es könnten Spekulationen für den Euro folgen und damit ein "unkalkulierbares Risiko". Beide Seiten, die EU wie auch Griechenland müssten sich bewegen, denn der "Euro steht für die europäische Idee". Ein Scheitern würde ein erster Schritt in die Richtung eines gescheiterten Europas bedeuten, sagte Roth.
Das Interview in voller Länge:
Dirk-Oliver Heckmann: Am Telefon begrüße ich Claudia Roth, Bundestagsvizepräsidentin, von Bündnis 90/Die Grünen. Schönen guten Morgen, Frau Roth!
Claudia Roth: Schönen guten Morgen, Herr Heckmann.
Heckmann: Frau Roth, ursprünglich wollten wir an dieser Stelle über Sepp Blatter und die FIFA sprechen. Der denkt ja offenbar über einen Rücktritt vom Rücktritt nach. Wir kommen da auch gleich noch zu. Jetzt aber ist die Lage Griechenlands dramatisch geworden. Gestern wurden die Verhandlungen mit Griechenland vorerst abgebrochen. Frau Roth, Sigmar Gabriel, der SPD-Chef, der hat gestern gemeint, die Spieltheoretiker der griechischen Regierung seien gerade dabei, die Zukunft ihres Landes und die ganz Europas zu verzocken. Hat er Recht?
Roth: Also ich muss Ihnen sagen, es ist schwer auszuhalten und eigentlich überhaupt nicht zu verstehen, warum es nicht zu Ergebnissen kommt und warum sich die Verhandlungsführer bisher nicht einigen konnten. Beide Seiten müssen sich bewegen. Und was muss im Mittelpunkt stehen? Das sind die Folgen für die Bevölkerung Griechenlands. Man hat natürlich das Gefühl, dass die griechische Regierung durchaus auch am Zocken ist, aber es geht doch um die Menschen in Griechenland. Es geht um die drohende weitere Verarmung Griechenlands. Es geht aber auch um das Projekt Europa und da muss auch die andere Verhandlungsseite doch absolut im Blick haben. Denn was würde denn passieren, wenn tatsächlich Griechenland, wenn der Grexit kommen würde? Es würde für Italien und Spanien eine Abwärtsspirale bedeuten, es würden Spekulationen gegen den Euro losgehen, es wäre unklare Folgen für das Weltfinanzsystem, ein unkalkulierbares Risiko für die Weltwirtschaft. Und übrigens: Ein Grexit würde Deutschland am Ende viel teurer kommen, als jetzt Griechenland zu retten.
Ich kann mich gut erinnern, dass Frau Merkel einst 2010 gesagt hat, scheitert der Euro, scheitert Europa. Der Euro steht für die europäische Idee und würde es jetzt scheitern, wäre das tatsächlich der erste Schritt Richtung Scheitern des Projekts Europa und es wäre zum ersten Mal seit 1950, dass sich Europa nicht weiter in Richtung einer Integration entwickelt, sondern in Richtung eines Auseinanderbrechens. Brutal gefährlich, ein verheerendes Signal in einer Zeit, wo die Welt um Europa in Flammen steht.
"Gefahr einer weiteren Abwärtsspirale"
Heckmann: Jetzt haben Sie schon ganz viel gesagt, Claudia Roth, und zusammengenommen. Ich möchte auf diesen einen Punkt, scheitert der Euro, scheitert Europa, eingehen. Da gibt es jetzt genug Experten und auch Politiker, die sagen, na ja, wenn Griechenland aus dem Euro ausscheidet, dann ist der Euro noch lange nicht gescheitert.
Roth: Ich bin jetzt nicht Finanzexpertin, aber ich glaube denen, die sagen, die Gefahr wäre riesengroß, dass es zu einer weiteren Abwärtsspirale kommen würde. Und was macht denn Europa oder die Eurogruppe für einen Eindruck - jetzt geht es, glaube ich, noch um 450 Millionen Euro -, wenn das nicht zu schaffen ist, wenn das der Dissens ist, der nicht zu schaffen ist? Gleichzeitig denke ich aber an die Milliarden für die Bankenrettung. Es ist doch nicht ein vertrauenserweckendes Beispiel, wenn man sich so verhakt und nicht tatsächlich zu einem Verhandlungsergebnis kommt. Und noch einmal: Für Deutschland wäre es extrem teuer. Es würde sehr, sehr teuer werden. Und ganz besonders teuer für die Menschen in Griechenland.
Ich habe ja auch manchmal das Gefühl, wenn ich Regierungsvertreter Griechenlands so sehe oder beobachte, ob sie eigentlich im Interesse der Menschen verhandeln, die immer ärmer werden, die keine sozialen Sicherungssysteme haben, die keine Gesundheitsversorgung haben, wie wir sie haben, und ich frage mich, warum um alles in der Welt geht man in Griechenland nicht ran an einen monströsen Verteidigungsetat. Da könnte man doch einsparen.
Aber noch einmal: Beide Seiten, beide Seiten müssen sich bewegen. Und man sollte auch aufhören, wie soll ich sagen, eine Stimmungsmache zu betreiben. Ich war gestern in München zur Erinnerung an die Ermordung eines griechischen Müncheners, der von der NSU-Truppe ermordet worden ist, und ich habe von Journalisten gehört, dass in München in Restaurants, in griechischen Restaurants Zettel aufgetaucht sind, wo draufstand, "Esst nicht bei Griechen". Also wir haben auch Angst vor einer Stimmungsmache gegen Griechen, auch bei uns in unserem Land, und das muss aufhören. Also an den Tisch, verhandeln, es muss was rauskommen im Sinne der Menschen in Griechenland, und dafür haben wir auch Verantwortung in einem gemeinsamen Europa und im Sinne der europäischen Idee.
"Ran an den monströsen Verteidigungsetat Griechenlands"
Heckmann: Jetzt sagt aber SPD-Chef Sigmar Gabriel und auch Martin Schulz - den haben wir im Laufe der Sendung schon gehört - gestern Abend im ARD-Fernsehen: Es kann nicht sein, dass die europäischen Bürger, die europäischen Staatsbürger die Wahlversprechen, die teuren Wahlversprechen der neuen griechischen Regierung bezahlen.
Roth: Ja richtig! Es kann nicht sein, dass die griechische Regierung vor allem im Parteiinteresse agiert und sagt, das waren unsere Wahlversprechen und die müssen wir einhalten. Da stimme ich zu. Aber noch einmal: Es kann auch nicht sein, dass sich eine Blockade, eine Verhandlungsblockade ergibt und dass man sich sozusagen in seinem Elfenbeinturm einschließt, sondern es geht um Verantwortung jetzt. Es geht um Vernunft, es geht um die Menschen und nicht um eine Partei in Griechenland. Es geht aber auch um unsere europäische Idee. Und ich sage es noch einmal: Griechenland hat einen monströsen Verteidigungsetat, wo übrigens viele Mitgliedsländer der Europäischen Union profitieren, die Waffen liefern. Warum geht man nicht da ran? Wo sind die Vorschläge für ein Investitionsprogramm in Griechenland, damit Griechenland wieder auf die Beine kommt? Und da darf nicht gezockt werden, da darf nicht blockiert werden, da muss aber auch aufgehört werden, Stimmung zu machen.
Heckmann: Der griechische Finanzminister Varoufakis, der hat gesagt, der Internationale Währungsfonds insbesondere, der stelle unannehmbare Forderungen. Er meint damit die Forderung, die Renten weiter zu kürzen, die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Ist das ein neoliberales Programm, das man den Griechen versucht aufzudrücken?
Roth: Noch einmal: Ich bin nicht am Verhandlungstisch. Aber eines ist doch ganz offensichtlich, dass die Situation der ganz normalen Menschen in Griechenland immer dramatischer wird. Immer dramatischer wird die Armut. Für langzeitarbeitslose Menschen gibt es keine Versorgung. Sie haben keine Sicherung wie bei uns, sondern sie fallen wirklich ins Bodenlose. Das kann nicht unser Interesse sein. Das darf aber auch nicht die Geisel sein von Verhandlern wie Herrn Varoufakis, sondern noch einmal: Es geht um die Menschen und es geht um die europäische Idee. Es geht um eine positive Perspektive, eine Wiederaufbauperspektive für Griechenland. Wir sagen seit Jahren, wo sind denn Investitionen, die eine Zukunftsperspektive, die Arbeitsplätze, die Sicherheit in Griechenland schaffen. Da kann es nicht um Parteiinteressen gehen, es kann jetzt nicht um Sturheit gehen. Es geht noch einmal um einen Dissens zwischen Griechenland und den Gläubigern von 450 Millionen Euro. Das muss doch zu schaffen sein.
"Es braucht einen Aufstand der Fußballer und der Fans"
Heckmann: Gehen wir noch, Frau Roth, auf FIFA-Chef Sepp Blatter ein. Die "Schweiz am Sonntag", eine Tageszeitung, die hat gestern berichtet, Blatter wolle vielleicht doch bleiben, weil er Unterstützung erhalten habe von afrikanischen und asiatischen Verbänden. Was haben Sie gedacht, als Sie davon erfahren haben?
Roth: Ehrlich gesagt, ich habe gedacht, was soll man denn dazu noch sagen. Eigentlich braucht es jetzt wirklich endgültig einen Aufstand der Fußballer und der Fans. Denn was ist die FIFA? Sie zeigt sich mit Herrn Blatter vorne dran als ein durch Korruption durchsetztes System, für das der wirtschaftliche Erfolg alles, der Sport aber offensichtlich gar nichts zählt. Das ist moralisch-politischer Konkurs und es braucht wirklich einen sofortigen Rückzug eines Herrn Blatter, denn der Fisch, der stinkt vom Kopf. Es braucht das Ende einer Blockade aller Reformen, die seit 98 ja nie zum Ziel kommen, wie beispielsweise das, was die Ethikkommission vorgeschlagen hat, und es braucht einen inhaltlichen und personellen Neuanfang. Inhaltlich Integritätsprüfung, Amtszeitbeschränkung, eine Überprüfung der Tourniervergabe Russland, Katar in der Vergangenheit, und wenn die gekauft waren, dann kann man da keine WM austragen. Neue Kriterien für die Vergabe, Transparenzrichtlinien auch zu den Finanzen, die die Herrn sich selber zugestehen. Und personell noch einmal: Das belastete Personal muss weg! Sonst ist die FIFA nicht mehr eine Organisation oder ein Konzern, der tatsächlich die Interessen der Fußballer und der Fußballfans vertritt.
Heckmann: Glauben Sie, dass es dazu kommt?
Roth: Ich hoffe jetzt wirklich sehr auf die Schweizer Behörden. Ich hoffe auf die US-Behörden. Ich hoffe, dass es Gerechtigkeit gibt und dass man dieses alte System wirklich überwindet und dass die den Preis bezahlen müssen, den sie jetzt schon uns und dem Fußball angetan haben.
Heckmann: Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth von Bündnis 90/Die Grünen. Frau Roth, danke Ihnen für das Gespräch und Ihre Zeit.
Roth: Vielen herzlichen Dank, Herr Heckmann.
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