Dschafari aus Afghanistan und seinen Freund treffe ich auf dem Weg nach Chalkeió. Ende März ist er auf Chios angekommen. Seitdem lebt er im Camp Vial, zwei Kilometer oberhalb des Dorfes, und wartet auf die Entscheidung, ob er in Griechenland bleiben kann – möglichst in Athen oder einer anderen Stadt.
Das Essen im Camp sei nicht immer gut, deswegen kochen sie auch selbst – und kaufen in Chalkeió ein. Ich nehme die beiden im Auto mit zum Dorfladen.
Sie legen Paprika, Tomaten und gefrorene Hühnerbeine auf die Ladentheke. Flüchtlinge als Kunden sind alltäglich für Ladenbesitzerin Kalliópi Vavilousakis und ihre Mutter Avgoustina, aber leider hat es in den letzten Monaten auch immer wieder Einbrüche gegeben – durch Flüchtlinge aus dem Camp, sagt Avgoustina.
"Sie haben schon oft die Tür aufgebrochen und die Kühlschränke. Wir haben jeden Abend und draußen Überwachsungskameras installiert. Was sollen wir sonst machen?"
Es seien zwar Polizisten gekommen, aber die hätten nur gesagt, sie könnten nichts machen. Avgoustina befürchtet, dass sich die Situation weiter verschlechtert, wenn immer mehr Flüchtlinge kommen. Der Pope, der auch gerade einkauft, sieht das ähnlich. Gestern seien schon wieder 140 auf der Insel gelandet.
Zu viele Flüchtlinge im Verhältnis zur Inselbevölkerung
Es seien einfach zu viele im Verhältnis zur Inselbevölkerung. Das Problem sei auch die ständige Angst, meint Inhaberin Kalliópi.
"Die Kinder fürchten sich. Sie fragen, wann die Flüchtlinge wieder gehen. Sie können abends nicht schlafen."
Manolis Vournous, der Bürgermeister von Chios, kann die Ohnmacht seiner Mitbürger verstehen. Er ist selbst aufgebracht über die Situation. Anfang April habe ich ihn zum ersten Mal getroffen, kurz nach Inkrafttreten des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU mit der Türkei.
Damals kritisierte er die mangelnde Vorbereitung. Es sei wie einen Stuhl plötzlich in einen Tisch zu verwandeln, so sein Vergleich damals. Aber auch in der Zwischenzeit sei fast nichts passiert.
"Fragen Sie mal, in wie vielen Fällen es Fortschritte gibt bei den Asylverfahren, wie viele Leute von der europäischen Asylbehörde sind gekommen? Wenn, dann arbeiten sie jedenfalls nicht effektiv. Und wie viele zusätzliche Sicherheitskräfte gibt es? Null."
Tatsache ist: Die Zahl der Flüchtlinge, die neu auf der Insel ankommen, liegt deutlich über der, die sie wieder verlassen. So mussten in den letzten Wochen immer mehr Menschen untergebracht werden. Allein im August waren es über 850 Neuankünfte. Nach der offiziellen Statistik sind aktuell 3.700 Flüchtlinge auf Chios – bei 50.000 Einwohnern.
Alleingelassen von EU und griechischer Regierung
Der Bürgermeister fühlt sich im Stich gelassen – von der griechischen Regierung und der Europäischen Union. Den Deal mit der Türkei als Erfolg zu feiern, sei heuchlerisch, meint Manolis Vournous.
"Sie lösen das Problem nicht, sie opfern einfach einen Teil Europas, einige europäische Gemeinden. Jeder Flüchtling, der auf Lesbos, Chios oder Samos ankommt, muss hier bleiben, keiner kann die Inseln nicht verlassen. Und sie haben nicht die Mittel zur Verfügung gestellt, damit der Mechanismus funktionieren kann."
Das Camp Souda am Rand von Chios-Stadt wächst immer weiter. Bei meinem Besuch im April war noch genug Platz entlang der Mauer des venezianischen Kastells. Inzwischen stehen viele Zelte auch am Strand. Die Essensausgabe wurde vor Mauer verlagert, ebenso die Funktionsgebäude. In einem davon sitze ich mit Camp-Manager Thodoris Konstantinidis. Mit seinen Kollegen plant er gerade, das Camp winterfest zu machen.
"Die Leute sollen nicht mehr entlang der Burgmauer wohnen müssen. Wir werden mehr beheizbare Zelte besorgen, große und kleine, um ihnen das Leben leichter zu machen und ihre Situation zu verbessern."
Gefahr der Eskalation zwischen Bewohnern und Flüchtlingen steigt
Einer der Campbewohner unterbricht uns. Er steht vor dem Fenster und hält eine Schlange in die Höhe, die er gerade getötet hat. Das passiere jeden Tag, beschwert er sich. Für die Menschen im Camp ist das Warten hier zermürbend. Aber auch die Bewohner von Chios verlieren die Geduld, sagt Thodoris.
"Einige Leute, die sich für die Flüchtlinge engagiert haben, meinen jetzt, dass sie die Insel auf jeden Fall verlassen sollten. Bisher haben sie geholfen, indem sie Kleider oder Essen gebracht haben. Aber jetzt hat sich das verändert. Sie fürchten sich vor den Flüchtlingen, wegen der Einbrüche und anderer Zwischenfälle."
In der vergangenen Woche demonstrierten Hunderte Einwohner gegen die Flüchtlingssituation. Die Demonstranten zogen zum Camp. Um sich zu verteidigen, hatten sich die Flüchtlinge bereits mit Knüppeln bewaffnet, erzählt mir Thodoris. Wenn die Polizei nicht dazwischen gegangen wäre, hätte die Situation eskalieren können.