Griechenland lebe von der Hand in den Mund und sei an der Grenze zur Zahlungsunfähigkeit, betonte der EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft im Interview mit dem Deutschlandfunk. Er vertraue dem griechischen Regierungschef Alexis Tsipras, dass der nun nicht mehr zurückrudere.
"Ego von Tsipras brauchte Augenhöhe"
Vielleicht habe das Ego von Tsipras dafür eine Nachtsitzung auf Augenhöhe mit den Regierungschefs gebraucht, meinte Oettinger. Falls die Reformliste jedoch nicht vorgelegt werde, könne man einen geplanten oder unfallartigen Euro-Ausstieg Griechenlands nicht mehr ausschließen. Die EU-Kommission wolle dies zwar unbedingt vermeiden, die Verantwortung liege aber in Athen.
Das Interview in voller Länge:
Sandra Schulz: Von unbedeutenden kleinen Liquiditätsproblemen hatte der griechische Finanzminister Varoufakis am Wochenende in der ARD noch gesprochen. Gestern klang das beim Vizeregierungschef Dragasakis aber dann doch ein bisschen anders. Das Land laufe Gefahr, dass ihm das Geld ausgehe, hatte der im griechischen Fernsehen gesagt. Damit war Griechenland wieder auf Platz eins der Themenliste gerückt beim EU-Gipfel und am Ende des Gipfeltages gab es dann ja auch noch ein Treffen in kleiner Runde.
Die Diskussion um Griechenland, die wollen wir jetzt auch fortschreiben. Telefonisch zugeschaltet ist Günther Oettinger von der CDU, EU-Kommissar für digitale Wirtschaft und Gesellschaft. Guten Morgen!
Günther Oettinger: Guten Morgen.
Schulz: Herr Oettinger, Jörg Münchenberg hat es gerade schon gesagt: Die Journalisten hätten ein Déjà-vu-Erlebnis gehabt. Geht es Ihnen auch so?
Oettinger: Der Ablauf gestern ist ärgerlich und erfreulich zugleich. Erfreulich, weil die Griechen wieder in der Spur sind und jetzt zugesagt haben, die Liste vollständig zu erarbeiten und schnell vorzulegen, und dies dient ihrem Interesse, denn sie brauchen schnell Geld. Sie werden in den nächsten Tagen bis Monatsende täglich mehrere Hundert Millionen benötigen für die Rückzahlung von entsprechenden Geldern an IWF, EZB und für Staatsanleihen und für Renten und Gehälter und Pensionen, und jetzt haben sie es in der Hand, in den nächsten Arbeitstagen diese Liste ihrer Reformen, die aber nachhaltig und die belastbar sein muss, die wir prüfen müssen, vorzulegen. Und ich bin sicher: Dann wird die Eurogruppe und werden unsere Beamte sehr rasch auch in der Kenntnis dessen, was Griechenland an Möglichkeiten hat, das bewerten, und dann kann das Geld vor Monatsende fließen.
Wenn nicht, nicht, und das ist ärgerlich, weil man dafür erst das Drehbuch von Tsipras braucht und sich die Kanzlerin, Herr Hollande und die anderen Präsidenten eine Nacht um die Ohren schlagen müssen. In der Sache hat sich nichts geändert, aber vielleicht braucht das Ego von Herrn Tsipras die Augenhöhe am Tisch einer Nachtsitzung mit den Regierungschefs.
"Griechenland hat den Ernst der Lage erkannt"
Schulz: Aber dann sagen Sie doch noch mal, was dafür spricht, dass Griechenland, wie Sie es gerade formuliert haben, jetzt in der Spur ist.
Oettinger: Ich glaube, sie haben den Ernst der Lage jetzt erkannt und sie haben erkannt, dass die europäischen Partner nicht erpressbar sind. Weder EZB noch Eurogruppe, weder Kommission und auch nicht der IWF sind erpressbar, sondern wir haben klare Regeln. Die haben die Iren akzeptiert, die Portugiesen akzeptiert, die Spanier akzeptiert, die Zyprioten akzeptiert. Die sind meines Erachtens seit drei Jahren klar und die haben die griechischen Regierenden jetzt auch akzeptiert. Das glaube ich, darauf hoffe ich, warten wir ab.
Schulz: Herr Oettinger, aber genau das ist ja auch eigentlich schon ziemlich genau vor einem Monat gesagt worden, am 20. Februar, als es hieß, jetzt sei wirklich der Durchbruch mit Griechenland geschafft, jetzt fehle nur noch die Liste. Was ist denn der qualitative Unterschied jetzt?
Oettinger: Weil es jetzt von der ersten Reihe noch mal bekräftigt wurde: von Kommissionspräsident Juncker, von EZB-Chef Draghi, von Eurogruppenchef Dijsselbloem noch mal und in Anwesenheit der Kanzlerin und von Herrn Präsident Hollande. Das mag dem notwendigen Ego von Herrn Tsipras geschuldet sein.
Schulz: Die Kanzlerin hat die Gespräche "gut und konstruktiv" genannt. Können Sie uns das noch mal aufschlüsseln? Was genau ist daran konstruktiv, dass jetzt der gleiche Stand da ist wie eigentlich schon vor einem Monat?
Oettinger: Es kann ja auch Zeitdruck hilfreich sein. Man kann in den wenigen Tagen, die man jetzt noch hat, das erarbeiten, was man "vollständige Liste" nennt und was man dann als Prüfung durch die Eurogruppe tun muss. Und hilfreich ist, dass dies jetzt von Herrn Tsipras und damit dem Regierungschef, dem Hauptverantwortlichen anerkannt und erkannt worden ist, und ich vertraue seinem Wort, dass er in den nächsten Tagen jetzt nicht mehr zurückrudert, sondern jetzt nach Griechenland fliegt und mit seinen Beamten das umsetzt, was er in Brüssel gestern Abend, heute Morgen zugesagt hat.
"Das Land ist an der Grenze der Zahlungsunfähigkeit"
Schulz: Jetzt haben wir das vereinzelt immer schon gehört. Auch Ende Februar war schon die Rede von einer Deadline. Es gab schon vor zwei Wochen Meldungen, dass Griechenland vereinzelt seinen Verpflichtungen gar nicht nachkommen kann und Beamte teilweise nicht bezahlen kann. Ist das Land nicht längst pleite?
Oettinger: Das Land ist an der Grenze der Zahlungsfähigkeit und lebt von der Hand in den Mund. Aber ich glaube, wenn es das Programm, das ja mit Griechenland bis Ende Juni verlängert wird, und daraus noch freien Milliarden, die die Eurogruppen-Partner bewilligt haben, jetzt abruft - und das geht nur mit einer vollständigen und belastbaren Liste -, dann werden sie die nächsten Monate überstehen.
Entscheidend ist darüber hinaus, dass wieder Vertrauen in ihre Politik kehrt. Derzeit investiert keiner in Griechenland, derzeit werden auch Steuern zum Teil noch zurückgehalten, nicht bezahlt, weil man auf Steuerermäßigungen oder Steuererlass hofft.
Das heißt, es muss Klarheit auch von der Regierung her, wie es weitergehen soll. Dann glaube ich, dass Griechenland mit dem Hilfsprogramm, das wir haben und das noch abrufbar ist, die nächsten Monate besteht.
Schulz: Was passiert, wenn die Liste nicht kommt?
Oettinger: Dann wird es ganz schwierig. Dann kann man nichts mehr ausschließen.
Schulz: Da sprechen wir über das Stichwort Grexident oder Grexit?
Oettinger: Das müssen die griechischen Minister und der Regierungschef wissen. Wir wollen alles vermeiden.
Wir als Europäische Kommission werden alles tun im Rahmen unserer rechtlichen Möglichkeiten, dass weder der geplante Ausstieg, noch der Unfall vonstattengeht.
Wir als Europäische Kommission werden alles tun im Rahmen unserer rechtlichen Möglichkeiten, dass weder der geplante Ausstieg, noch der Unfall vonstattengeht.
An uns wird es nicht liegen. Es liegt die Verantwortung in Athen und ich glaube, seit gestern ist sie auch beim Regierungschef und damit beim Erstverantwortlichen in hoffentlich guten Händen.
Schulz: Wann war die EU zuletzt so tief in der Krise wie jetzt?
Oettinger: Einerseits sind wir ja auf wirklich gutem Wege, wenn Sie an Irland und Portugal denken, oder an die wenn auch leichte Erholung der Wirtschaft mit leichtem Wachstum in der Mehrzahl der Mitgliedsstaaten der Eurozone denken. Aber in Sachen Griechenland sind wir leider zurückgeworfen. Da ist im Grunde die Aufbauarbeit der letzten beiden Jahre ziemlich zerstört und es muss wieder von vorne losgehen.
"Normalisierung der Beziehungen zu Griechenland ist denkbar"
Schulz: Dramatisch war ja vor allem, dass das, was die EU eigentlich sonst gut konnte oder gut kann, das Verhandeln, das miteinander sprechen, dass da Deutschland und Griechenland so tief in der Sackgasse waren. Wo war da die Verantwortung?
Oettinger: Ich glaube schon, dass hier die Provokation von Athen ausging.
Man muss verstehen, dass die Bürger und Wähler, dass das Land derzeit aufgrund der Sparmaßnahmen, aufgrund der Reformen, aufgrund der Verschlechterung der sozialen Lage verwundet ist. Aber dies darf nicht zu Wut und nicht zu Provokation und Beleidigungen führen, und ich glaube, dass deswegen jetzt alle Beteiligten darauf achten werden, dass sie diplomatisch und partnerschaftlich umgehen. Aber zu allererst muss die Regierung in Griechenland ihre Pflichten erfüllen. Dann ist, glaube ich, eine Normalisierung der Beziehungen denkbar und erreichbar.
Man muss verstehen, dass die Bürger und Wähler, dass das Land derzeit aufgrund der Sparmaßnahmen, aufgrund der Reformen, aufgrund der Verschlechterung der sozialen Lage verwundet ist. Aber dies darf nicht zu Wut und nicht zu Provokation und Beleidigungen führen, und ich glaube, dass deswegen jetzt alle Beteiligten darauf achten werden, dass sie diplomatisch und partnerschaftlich umgehen. Aber zu allererst muss die Regierung in Griechenland ihre Pflichten erfüllen. Dann ist, glaube ich, eine Normalisierung der Beziehungen denkbar und erreichbar.
"Grexit liegt in der Verantwortung Griechenlands"
Schulz: Aber da war in der letzten Woche gerade eine Situation erreicht, in der es so aussah, als würden sich die Wogen möglicherweise ein bisschen glätten. Da spricht und spekuliert der deutsche Finanzminister Schäuble über einen möglichen Grexident. Wie hilfreich war das denn?
Oettinger: Auf die Frage der Öffentlichkeit, ist der Grexit vorstellbar, oder kann man ihn ausschließen, garantieren wir, dass wir ihn ausschließen, wird keiner sagen, wir garantieren, dass er nicht kommt.
Schulz: Ja doch! Der EU-Kommissionchef Juncker hat das ja gesagt!
Oettinger: Er hat das vor einigen Tagen gesagt. Aber in den letzten Tagen haben meine Kollegen Moscovici und Timmermans den Grexit für theoretisch möglich erachtet. Warum? - ... , weil nur so die Griechen merken, dass wir nicht erpressbar sind. Und ich glaube deswegen, die Sprache muss sein: Wir wollen den Grexit nicht und werden alles tun, was uns rechtlich möglich ist, um ihn zu vermeiden. Aber letztendlich ist die Verantwortung, die Entscheidung dann in Griechenland.
Schulz: EU-Kommissar Günther Oettinger hier heute im Interview mit dem Deutschlandfunk in den "Informationen am Morgen". Herzlichen Dank!
Oettinger: Einen guten Tag!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.