Ein Geschichtensammler ist Landolf Scherzer, ein Sammler von Eindrücken, von Gedanken, von Schicksalen. Zwei Mal reist der Autor nach Griechenland. Seine erste Reise führt ihn in ein Urlaubsressort, doch um mehr über das krisengeschüttelte Land zu erfahren, eignet sich diese Perspektive wenig. In den fünf Tagen seiner splendid isolation im sogenannten Ozeania-Club erfährt Scherzer mehr über die Vorurteile von Deutschen und Briten denn über die griechische Wirklichkeit. In einem Club bleibt man eben meistens unter sich, und so dient Reise Nummer eins, auch im Buch relativ schnell abgehandelt, vor allem als Hintergrund für Reise Nummer zwei.
"Nur durch persönliche Geschichten wirst du begreifen, was die Krise für uns bedeutet", hatte ihm eine griechische Bekannte gesagt. Sie, die Deutschprofessorin aus Thessaloniki, ist sein erster Kontakt. Sie vermittelt dem Besuch aus Deutschland Treffen. Treffen mit Geschäftsinhabern, mit Lehrern, Ärzten, Psychologen, mit Arbeitnehmern und Arbeitslosen, Kranken ohne Krankenversicherung, mit Intellektuellen und mit Arbeitern, die ihre Fabrik in Selbstverwaltung weiter betreiben, mit Repräsentanten des ehemaligen Mittelstands - aber auch mit Priestern und Vertretern der griechischen Neonazis. Und Landolf Scherzer wird zuhören. Stundenlang, tagelang. Das ist seine Stärke. Er hört zu und schreibt auf. Etwa die Geschichte von Lisa und Nikos, sie Schweizerin, er Grieche:
Scherzer kennt historische Umwälzungen in Echtzeit
"Fast 30 Jahre haben Lisa und Nikos in Griechenland gemeinsam gearbeitet, sie haben ihren Sohn großgezogen und vor 21 Jahren das erste und einzige Geschäft für deutsche Öko-Farben in Thessaloniki eröffnet. Doch in fünf Wochen wird Lisa in die Schweiz zurückgehen. Ihr Mann und der Sohn bleiben hier, und Lisa wird in der Schweiz versuchen, einen Job zu finden, um mit dem dort verdienten Geld das gemeinsam Aufgebaute irgendwie zu retten."
Der Autor spitzt nicht zu, er verzichtet auf Pointen. Viele der Geschichten, die Scherzer auf seiner Reise notiert, hat man bereits gehört. Oft auch wortgewaltiger. Was nach der Lektüre nachhallt, ist der Respekt, mit dem sich der Autor seinem Gegenstand nähert. Landolf Scherzer, aus der ehemaligen DDR stammend, hat den Blick dessen, der weiß, was es bedeutet, historische Umwälzungen in Echtzeit zu erleben.
Scherzer hört also zu, und er hält sich mit Wertungen zurück. Einen theoretischen Hintergrund liefern allein drei kurze Exkurse in Wirtschaft, Geschichte und Politik Griechenlands. Sie stammen von Stephan Kaufmann, einem Journalisten der Frankfurter Rundschau, von dem Musiker Konstantin Wecker und vom Publizisten Asteris Kutulas. Damit ist auch der politische Horizont skizziert, den der Text abtastet. Landolf Scherzers Erkundungen finden links von der Mitte statt, auch in Griechenland. Das andere Griechenland, heißt sein Buch im Untertitel folgerichtig, und es erlaubt einen Blick in einen Teil der Gesellschaft, der aus dem Mainstream deutscher Medien vielfach ausgeschlossen bleibt. Ob indes der griechischen Linken alleine gelingen könnte, was das übrige Parteienspektrum bisher nicht vermocht hat, nämlich die Götter vom Olymp zu stürzen, wie es im Titel heißt, also mit den alten Politikercliquen und ihren Machenschaften aufzuräumen, sei dahingestellt. Festzuhalten ist der Wunsch nach einem Neuanfang. Festzuhalten ist auch: Je länger Scherzer hinhört und hinschaut, desto mehr wird aus dem Buch über Griechenland auch eines über Deutschland.
Kaum eine Familie, deren Schicksal nicht mit Deutschland verwoben wäre
"Die griechische Regierung nimmt den Griechen die Arbeit, die Gesundheitsbetreuung, die Wohnung, die Selbstverständlichkeit, Essen kaufen zu können. In Deutschland würde das heute alles viel leiser geschehen," erzählt ihm ein Grieche, der in Deutschland einen Delikatessen-Service betreibt. Und er fährt fort:
"In Neuhaus hat mir der sehr kluge Marktleiter eines Supermarktes die Software für meinen Computer installiert. Im letzten Winter traf ich den Mann wieder. Er sammelte im tiefsten Schnee die Plastiksäcke mit Müll vor den Häusern ein. Für, ich glaube, sieben Euro in der Stunde. Wie klein kann man die Menschen in Deutschland machen, ohne dass sie aufschreien?"
Es ist diese leise Volte, dieser Perspektivenwechsel, der das Buch interessant macht. Wer Scherzers Argumentation folgt, dem wird es schwerfallen, Griechenland nurmehr als Sonderfall zu sehen. Die im Nachwort angeführte Odyssee eines kassenversicherten Patienten etwa spielt eben genau nicht in Griechenland, wie man zunächst glauben möchte, sondern in Deutschland.
So lädt das Buch dazu ein, anstatt auf die Unterschiede zu schauen, die Gemeinsamkeiten ins Visier zu nehmen. Im Norden Griechenlands, den der Autor bereist, ist Deutschland ohnehin nie weit entfernt. Die griechischen Migranten der 60er und 70er-Jahre, sie kamen fast ausschließlich aus dieser Region. Noch heute gibt es dort kaum eine Familie, deren Schicksal nicht auf vielfache Weise mit Deutschland verwoben wäre. Und weil Scherzer kein Theoretiker ist, vermittelt er diese Verflechtungen am Beispiel eines Hotels.
"'Es war eines der vornehmsten Hotels der Stadt. Sogar der serbische König übernachtete mit seinem Hofstaat hier. Es hat aber auch sehr schlechte Zeiten erlebt', sagt Kostas und zeigt auf abgewetzte Stellen an den hellen Marmorstufen. 'Selbst der harte griechische Marmor wurde durch die eisenbeschlagenen Stiefel der SS, die hier einquartiert war, abgenutzt.' Als die bundesdeutsche Wirtschaft ausländische Arbeitskräfte brauchte, wurde das mittlerweile heruntergekommene Hotel eine begehrte Unterkunft für Tausende von Griechen, die aus den umliegenden Orten nach Thessaloniki fuhren, um von dort aus nach Deutschland weiterzureisen."
Hotel Europa heißt das Etablissement. Heute ist es eine Absteige.
Landolf Scherzer: "Stürzt die Götter vom Olymp. Das andere Griechenland". Aufbau Verlag, 320 Seiten, 19,99 Euro.