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Griechenlands Schicksalswahl

Umfragen zufolge liefern sich die Konservative Nea Dimokratia und die linksradikale Syriza ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Beide Parteien rangieren zwischen 20 und 30 Prozent. Wer am Ende die Nase vorne hat, ist völlig offen. Nie waren griechische Wähler unberechenbarer als heute.

Von Reinhard Baumgarten |
    Wahlkampf auf dem Syntagma-Platz im Herzen Athens. Ein Häuflein junger Kommunisten verbreitet Parolen und Flugblätter. Niemand bleibt stehen, niemand hört hin. Wahlkampf in Griechenland. Zumeist hat er sich im Fernsehen abgespielt. Talkrunde folgte auf Talkrunde, Debatte auf Debatte. Für Großkundgebungen, Plakate und Materialschlachten fehlt den Parteien schlicht das Geld. - Noch nie waren so viele Wähler so unsicher, so unentschieden, so voller Zweifel. Zum Beispiel Costas und Dimitris.

    "Ich bin immer wählen gegangen, ich gehe auch wieder wählen. Früher haben die Leute eigentlich immer für die gleiche Partei gestimmt. Ich auch. Aber beim letzten Mal nicht. Wen ich jetzt wähle, weiß ich noch nicht."

    "Es ist das erste Mal, dass es sehr wichtig ist, wählen zu gehen. Und es ist auch das erste Mal, dass man überhaupt nicht weiß, wen man wählen soll und welche Folgen das haben könnte. Wir stehen vor einem Dilemma. Wir kennen die Konsequenzen nicht, und wir wissen auch nicht, welche Folgen welche Konstellation haben könnte."

    Vielen erscheint der Urnengang als Wahl zwischen Pest und Cholera. Eine Mehrheit der Griechen lehnt das Memorandum genannte Rettungspaket der internationalen Helfer mit seinen drastischen Auflagen ab. Deutlich mehr als 80 Prozent wollen andererseits unbedingt, dass Griechenland Euroland bleibt. Beides zusammen gleicht der Quadratur des Kreises. Denn internationale Hilfsgelder fließen nur noch dann nach Hellas, wenn die Griechen sparen, sparen und noch mehr sparen. Und wenn sie ihren Staat gründlich umbauen.

    "Wir haben an den falschen Leuten gespart..."

    ...stellt Dora Bakogianni fest, die frühere Außenministerin Griechenlands. Sie ist die profilierteste Politikerin der Konservativen Nea Dimokratia...

    ...und auf einmal der Privatsektor, dem es nicht schlecht ging und der ein guter Privatsektor war, der ist jetzt total gelähmt. Das ist das Problem. Wie werden wir wieder die Wirtschaft in Schwung kriegen, wenn der Privatsektor tot ist? Von einem toten Privatsektor kriegt man nichts.

    "Ich bin Farmer, komme aus Kalamata...kennen sie?"

    Bugas Sotiris heißt der junge Mann. Vor 15 Jahren hat er in Berlin angefangen, Wirtschaftsinformatik zu studieren. Im öffentlichen Dienst Griechenlands wollte er nicht unterkommen, in der Privatwirtschaft fand er nichts Passendes. Bugas ging - seiner Zeit voraus - zurück aufs Land, machte sich als Gemüseanbauer selbstständig und er schaffte Arbeitsplätze im Privatsektor. Heute beschäftigt er fünf Mann. Alle aus Pakistan. Und Griechen?

    "Ja, ich hab versucht und ich hab niemand gefunden. - Was konkret ist die Arbeit? - Sammeln von Tomaten und Gurken."

    Kein Job, um reich zu werden, sagt Bugas. Aber ein Job, um am Leben zu bleiben, ohne an staatlichen Tröpfen zu hängen. Es sei paradox, meint der 35-Jährige, dass viele Menschen in seinem Land dessen Möglichkeiten nicht wahrnähmen und einfach nicht produktiv seien:

    "Sie trinken lieber Kaffee, als etwas herzustellen. Sie sind passiv geworden."

    Doch viele sind aktiv geblieben: zum Beispiel Eva Vassiliadi. Sie ist Managerin von FiberTex, einem Unternehmen am Rande Athens mit 80 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 14 Millionen Euro. FiberTex stellt Bettwäsche, Kopfkissen und Decken her. Das Unternehmen floriert. Bemerkenswerterweise nicht zuletzt wegen der Krise.

    "Noch vor zwei, drei Jahren haben viele Firmen, die Haushaltswaren anbieten, ihre Produkte in China, in der Türkei oder in Portugal gekauft. Sie konnten bessere Ware zu Superpreisen finden. Aber jetzt gibt es in Griechenland eine Firma, die sich technologisch entwickelt hat und deren Qualität und Design sie zufriedenstellt. Sie kaufen nun bevorzugt bei uns anstatt im Ausland."

    Griechen können wettbewerbsfähig und produktiv sein, beharrt die energische Eva Vassiliadi selbstbewusst. Aber die Rahmenbedingungen müssten stimmen. Das Steuersystem müsste stabil und berechenbar sein, die Abgaben müssten bezahlbar und mit den Nachbarländern vergleichbar sein. In Bulgarien zahlten Unternehmen zehn Prozent Gewerbesteuern, in Zypern elf, in Griechenland seien es 45 Prozent. Und das Bankensystem müsse stimmen.

    "Es ist sehr schwer, von einer griechischen Bank Geld zu bekommen. Völlig unmöglich, muss ich leider sagen. Gott sei Dank sind wir ein gesundes Unternehmen, und wir haben eigene Mittel. Wir arbeiten seit vielen, vielen Jahren mit Banken zusammen, die uns vertrauen, aber eben nicht mehr im gleichen Maße, wie vor zehn, fünf oder drei Jahren, als sie uns finanziell ausgestattet haben. Es wird immer schwerer durch eine Bank finanziert zu werden."

    Die Bankenkrise war der symptomatische Anfang vom systematischen griechischen Desaster. Fünf Jahre in Folge schrumpft die griechische Wirtschaft bereits. Ein Ende der Talfahrt ist nicht in Sicht. Der wirtschaftliche Niedergang und die gesellschaftliche Erosion führen zu Verwerfungen, deren drastische Folgen sichtbar werden: Die Zahl der Obdachlosen nimmt zu; die Arbeitslosigkeit ist auf 22 Prozent gestiegen, viele junge Menschen gehen in die Fremde, weil sie in der Heimat nicht finden, was sie sich erhoffen. Der griechischen Gesellschaft droht eine Polarisierung und Radikalisierung ungekannten Ausmaßes.

    Vögel, Vorgärten, Verandas. Nicht reich, aber beschaulich - It'ies - ein Stadtteil in Patras.

    Ende Mai waren die Bewohner von It'ies plötzlich in den Schlagzeilen. Hunderte von Neonazis waren angerückt, skandierten fremdenfeindliche Parolen, belagerten eine von illegalen Migranten behauste alte Fabrik, versuchten diese mit einem Bagger zu stürmen und lieferten sich bis tief in die Nacht heftige Straßenschlachten mit der Polizei.

    Auslöser war der Mord an Thanassis Lazanas. Nachts um zwei ist der 30-Jährige neben dem Bahndamm niedergestochen worden, sagt der 52-Jährige Spiros.

    "Er ist mit seinem Hund Gassi gegangen. Dabei hat er zwei Afghanen getroffen. Der Hund hat die wohl angebellt und die haben nach ihm getreten. Thanassis war 1,95 Meter groß, der war stark und hat wohl gedacht, er kann sich mit denen anlegen. Aber dann hat einer ein Riesenmesser gezogen und mehrfach in ihn gerammt."

    Der Cousine des Ermordeten, Elina Makrioriou, sitzt der Schrecken noch in den Gliedern.

    "Alle fingen an zu schreien - meine Tante, meine Mutter, die Nachbarn. Der Junge war noch bei Bewusstsein, "Afghanen" hat er gesagt. In der Nachbarschaft wohnen fast ausschließlich Verwandte. Wir sind alle hingerannt, um zu helfen; bis zum Morgen waren wir im Krankenhaus. Da ist er gestorben. Alle Versuche zu helfen waren umsonst."

    Der Mord war ein Schock, die Krawalle waren ein Schock. Die 215.000 Einwohner zählende Hafenstadt Patras versucht, zur Besinnung zu kommen. Am schlimmsten ist es im Stadtteil It'ies.

    "Wer kann sich noch sicher fühlen, wenn ein Mord in seinem Vorgarten passiert? Wir haben kleine Kinder. Die Schule droht zu schließen. Wir haben Angst die Kinder hinzuschicken. Hier herrscht quasi Ausnahmezustand, wegen der vielen Migranten, und es werden immer mehr."

    Drei bis 5000 sollen es gegenwärtig sein. Sie sind illegal im Land. Sie bewohnen aufgegebene Fabriken, alte Lagerhallen, leer stehende Häuser. Davon gibt es viele in Patras, erklärt Yannis Dhimaras. Der Stadt, so der parteilose Bürgermeister, gehe es nicht gut:

    "Viele Fabriken haben zugemacht, viele Arbeitsplätze sind verloren gegangen, viele Menschen haben keinen Job, etliche Geschäfte haben geschlossen. Früher gab's hier eine Tafel für Bedürftige. Heute ist es so, dass sich viele einstige Spender selbst um Spenden für sich bemühen, weil sie mittellos geworden sind. Die Stadt ist auf Mittel des Staates angewiesen. 2012 bekommen wir als Stadt noch die Hälfte dessen, was wir 2010 bekommen haben. Die kommunalen Steuern sind eingebrochen. 29 Prozent der Bürger können ihre Abgaben nicht mehr bezahlen. Viele städtische Ausgaben für Kultur, Kinderbetreuung etc. - sind deswegen gestrichen worden."

    Diese missliche und explosive Lage versuchen Neonazis auszunutzen. Sie wissen, dass es vielerorts in Griechenland ein wachsendes Unbehagen wegen illegaler Migranten gibt. In Patras - wie in vielen Städten und Dörfern Griechenlands - fehlt in diesen Tagen vor allem eins: die Zuversicht auf eine bessere Zukunft. Es ist in den vergangenen Jahren unglaublich viel schiefgegangen. Anders ist es kaum zu erklären, dass die neofaschistische Partei Goldene Morgenröte beim Urnengang am 6. Mai sieben Prozent der Stimmen bekommen und 21 Sitze erringen konnte. Deren Chef Nikolaos Michaloliakos verkündet am Tag nach der Wahl sein wichtigstes Ziel:

    "Für diejenigen, die es nicht verstehen, werde ich deutlicher: "Veni, vidi, vici". Das heißt: Ihr habt mich diffamiert, geschmäht und stumm gemacht. Ich (aber) habe Euch besiegt. Der Sieg der Goldenen Morgenröte ist ein Sieg gegen die Tyrannei der Massenmedien, gegen die Junta der TV-Kanäle und die Boulevardpresse. Der Kampf geht weiter."

    Griechenland gehört den Griechen, rufen einige Tausend Parteigänger der extrem rechten Partei Goldene Morgenröte bei einem Umzug durch Athens Innenstadt am 29. Mai. Es ist der Tag, an dem die türkischen Osmanen im Jahr 1453 die byzantinische Hauptstadt Konstantinopel erobert haben. Für Partei-Chef Nikolaos Michaloliakos eine anhaltende Schmach, die es irgendwann zu tilgen gelte. Doch vorher müsse Hellas zu neuer Größe erstehen. Ein wichtiger Schritt dazu ist die Ablehnung des Memorandum genannten Hilfs- und Sparprogramms, deren Umsetzung die sogenannte Troika gewährleisten soll. Kaum jemand ist in Griechenland so verhasst wie die "Troikaner" - die Abgesandten von EU, Europäischer Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds.

    "Der Widerstand der Goldenen Morgenröte gegen das Sparprogramm wird weitergehen. Innerhalb und außerhalb des griechischen Parlaments werden wir weiter für Griechenland kämpfen - frei von globalen Spekulanten für ein stolzes und unabhängiges Griechenland. Für ein Griechenland ohne die Sklaverei des Sparprogramms und den Verlust von nationaler Unabhängigkeit."

    "So etwas wie ein gutes oder schlechtes Rettungsprogramm gibt's nicht..."

    ...doziert Alexis Tsipras, Chef der Linksradikalen Partei Syriza.

    "So etwas wie schlechtere Medizin gibt's nicht. Du setzt das Rettungspaket entweder um, oder aber du kippst es. Der Unterschied zwischen uns und der PASOK sowie der Nea Dimokratia ist der, dass sie die öffentliche Zustimmung haben wollen, das umzusetzen. Wir aber möchten die Stimmen der Menschen, damit wir es kippen können."

    Links- und Rechtsradikale haben nicht viel gemein in Griechenland. Zu den Gemeinsamkeiten gehört auf jeden Fall das konsequente Nein zum Rettungspaket mit seinen harten Auflagen. Mehr Wähler denn je haben sich beim letzten Urnengang am 6. Mai zu den politischen Rändern des Parteienspektrums orientiert. Syriza wurde mit fast 17 Prozent zweitstärkste Kraft im Land.

    Star der Linksradikalen Partei ist Alexis Tsipras. Den Vorwurf, die Syriza-Partei vertrete euro- und europafeindliche Thesen, lässt er nicht gelten:

    "So wie wir in Europa dargestellt werden, sind wir nicht. Wir sind keine antieuropäische Kraft. Wir sind eine Kraft, die dafür kämpft, den sozialen Zusammenhalt in Europa zu sichern. So gesehen kann man sagen, wir sind gegenwärtig die europafreundlichste Partei in Europa, weil die dominierenden Kräfte die EU in die Instabilität und sogar den Zusammenbruch treiben, wenn sie an ihrer Sparpolitik festhalten."

    "Es gibt keinen einzigen seriösen Ökonom in Europa und dem Rest der Welt, der dem nicht zustimmt, dass dieses Rettungspaket der Autopilot in die totale Katastrophe ist. Es ist ein Mechanismus zum endgültigen Bankrott unseres Landes und zum freiwilligen Ausstieg aus dem Euro."

    Antonis Samaras ist Chef der konservativen Nea Dimokratia. Die Thesen seines politischen Gegenspielers Tsipras hält er für groben Unfug.

    "Diejenigen, die das Rettungspaket verurteilen, sind wie kleine Kinder, die in einem Pulverlager mit Streichhölzern spielen. Sie treiben Griechenland in die Isolation."

    Nur zögerlich hat sich der 61-Jährige Chef der Nea Dimokratia auf die von der Troika verordnete Spar- und Reformpolitik eingelassen. Sein zweijähriges Zaudern in Zeiten der Krise, als die sozialistische PASOK mit absoluter Mehrheit regierte und auf den Horror des Niedergangs keine weise Antwort wusste, hat Griechenland noch tiefer in die Krise gezogen. Samaras beharrte auf Neuwahlen, als mit Lukas Papadimos ein hochkarätiger und überparteilicher Technokrat das Spar- und Reformprogramm ins Werk setzte. Samaras verhinderte, dass Papadimos mit der Unterstützung der beiden damals noch großen Parteien PASOK und Nea Dimokratia Reformen vorantreiben konnte. Heute knüpft ND-Chef Samaras sein politisches Schicksal an das von ihm lange heftig abgelehnte Rettungspaket und er gibt den Schwarzmaler:

    "Wenn Griechenland das Spar- und Rettungsprogramm aufkündigt, wird es auf Jahre hinaus international isoliert sein und von allen Seiten ausgebeutet werden. Es wird nichts zu essen geben, keine Medikamente, kein Benzin. Nachts werden wir in ständiger Dunkelheit ohne Strom leben und unsere Gesellschaft wird auseinanderbrechen."

    Hiob, der biblische Bote schlechter Nachrichten, hat viele Nachahmer im heutigen Griechenland. Der Fluss der Schreckensmeldungen ist binnen zweier Jahre zu einem reißenden Strom geworden. Jüngstes Beispiel: Verabschieden sich die Hellenen aus dem Euro, würde das einer Studie der griechischen Notenbank zufolge zum Schrumpfen von Wirtschaftskraft und Wohlstand mit unkalkulierbaren Folgen führen. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen droht demnach von 19.000 Euro jährlich auf 9000 einzubrechen. Das Bruttoinlandsprodukt könnte um bis zu 55 Prozent sinken. Dora Bakogianni setzt nicht auf Panikmache. Aber auch sie wird nicht müde, auf die Bedeutung dieser Schicksalswahl hinzuweisen:

    "Die europäisch denkenden Griechen müssen diese Wahl gewinnen. Es geht um Griechenland in der Eurozone, es geht um Europa, es geht um den Euro."

    Für Dora Bakogianni wäre ein Scheitern Griechenlands als Euroland eine nationale Katastrophe. Aber es wäre gleichzeitig auch ein böses Menetekel für die Währungsunion und die EU.

    Die Währungsunion steht unter Dauerstress. Griechenland ist nicht der Auslöser der gegenwärtigen Kalamitäten. Griechenland verzeichnete bislang nur die höchsten Ausschläge dieser finanzpolitischen Erdbeben. In Hellas werden nationale wie auch europäische Versäumnisse und Fehler wie unter einem Brennglas verdichtet und sichtbar gemacht. Griechenland ist krank - bis ins Mark. Die griechische Wirtschaft gleicht einem Schwerverletzen im Gipsbett, die griechische Politik geriert sich wie ein Patient im Wachkoma. Dora Bakogianni:

    "Das politische System ist praktisch zugrunde gegangen mit dieser Krise. Alles, was wir kannten, können wir vergessen. Und wir müssen's auch vergessen, wenn wir unsere Selbstkritik auch (so) meinen, die wir an uns üben. Und wir müssen sie meinen, wenn wir wirklich Griechenland helfen wollen."

    Umfragen zufolge liefern sich die Konservative Nea Dimokratia und die linksradikale Syriza ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Beide Parteien rangieren zwischen 20 und 30 Prozent. Wer am Ende die Nase vorne hat, ist völlig offen. Nie waren griechische Wähler unberechenbarer als heute. Sie sind ein genauer Spiegel der griechischen Politik in diesen Tagen.

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