Als ich die "Red Tracktor Farm" von Marcie Mayer auf der Insel Kea erreiche, empfängt mich eine mittelgroße Frau um die Fünfzig in schweren Boots und klassischem Arbeiteroutfit: weite Latzhose und langer Pullover. Die Erntezeit für Eicheln hat seit ein paar Tagen begonnen. Und das bedeutet für die Frau aus Nordkalifornien harte Knochenarbeit. Bis zu zehn Tonnen Eicheln kann Marcie mit ihrem Team in der Saison sammeln. Denn wenn sie sich für etwas in ihrem Leben jemals wirklich interessiert hat, dann sind das Eichenbäume. Deshalb zog Marcie Mayer vor einigen Jahren von ihrem Hauptwohnsitz Athen weg, um das ganze Jahr auf Kea zu leben.
Einst zur Fütterung von Schweinen genutzt
Inzwischen ist sie für die Einheimischen zu einer Leitfigur aufgestiegen. Manche sprechen sogar von ihr als die Eichelkönigin. Denn ihr allein ist es zu verdanken, dass die Keaner in der Krise die Verarbeitung eines uralten Traditionsprodukts wieder aufgenommen haben. Und dafür musste Marcie zunächst einmal die Älteren für sich gewinnen:
"Jeder hatte auf Kea während des Esten und Zweiten Weltkriegs Eicheln gegessen. Und auch in der Zeit der Hungersnot nach dem Krieg. Als ich die Keaner in der Stadtgemeinde zusammenrief, um sie zu informieren, was ich mit den Eicheln vorhatte und wie ich sie am liebsten in meine Plänen involvieren wollte, kamen vor allem die Älteren auf mich zu. Mit deutlichem Scham im Gesicht erzählten sie mir ihre Geschichten aus alten Kindertagen. Dass sie sich nämlich von Eicheln ernähren mussten, um zu überleben. Einer Baumfrucht also, die zur Fütterung von Schweinen genutzt wurde. Sie warfen sie damals ins Kaminfeuer, damit sich die Schalen lösten, aber was sie nicht wussten war, dass dies eine gute Methode war, um die Eicheln von den Bitterstoffen zu befreien."
In ihrer Küche schenkt mir Marcie eine Tasse frisch gebrühten Kaffee ein, während sie weiter über die Anfänge ihrer Initiative erzählt.
"Ich konnte feststellen, wie sich ihre Einstellung zu den Eicheln allmählich veränderte, weil sie merkten, dass ich ganz anders darüber dachte. Ich war stolz darauf, Eicheln essen zu können. Ich war stolz, dass die Ureinwohner Amerikas Eicheln als wichtige Nahrungsmittelquelle ansahen und ich von dort stamme. Für mich ist das eine äußerst intelligente Geschichte und nicht eine, für die ich mich schämen muss. Ich erklärte ihnen also, dass es überhaupt keinen Grund gab, dass sie sich schlecht dabei fühlen."
Neue Hamada-Initiative
Was Marcie darüber hinaus herausgefunden hat, war, dass die Inselwirtschaft Keas bereits viele Jahrhunderte zuvor fast ausschließlich vom Verkauf der Eichelkapsel lebte. Diese wurden für das Gerben von Leder eingesetzt, wegen ihres hohen Tanningehalts. 1965 brach dieser Wirtschaftszweig komplett zusammen, weil man angefangen hatte, auf chemische Gerbmittel zurückzugreifen. Ein fataler Fehler, wie sich viele heute eingestehen müssen. Denn es folgte eine große Bevölkerungsflucht. Viele mussten ins Ausland emigrieren. Das Wissen um die Verwendungsmöglichkeiten der Hamada, wie die Keaner die Eichenkapseln nennen, ging verloren. So gründete Marcie eine neue Hamada-Initiative.
"Als ich anfing, in aller Öffentlichkeit zu erzählen, dass ich mehr über Eicheln erfahren möchte und sie sogar essen möchte, denn das war ja mein Hauptinteresse, rief mich ganz plötzlich eine Deutsche an, die seit 40 Jahren in Griechenland lebt und ebenso wie ich ein Fan der Eicheln ist. Sie erzählte mir, dass sie eine deutsche Lederfabrik kennt, die noch immer nach dem alten Grubengerbungsverfahren arbeitet und Eichenkapseln dafür dringend braucht."
Marcie Mayers Ziel ist es, das Wissen um die Eichel mit allen zu teilen und sich gegenseitig in diesem Bemühen zu unterstützen. Ihr Wunsch: Eicheln sollen wieder attraktiv für den Menschen werden.
"Was mich am meisten interessiert hat, war herauszufinden, warum Eicheln nicht mehr für die menschliche Ernährung wertgeschätzt wurden. Nicht allein in Griechenland, sondern überall auf der Welt. Was ich aber herausgefunden habe, ist, dass sich Mensch und Eichel unglaublich gut zusammenfügen. Die Eichel fügt sich in die menschliche Ernährung wie der passende Schlüssel ins Schloss. Sie ist glutenfrei, hat hohe Werte an Magnesium, Potassium, Eisen und Protein. Sie ist voll von Flavonoiden und Phenolen, die heute wirklich sehr schwer in der Ernährung zu finden sind. Deshalb erstaunt es mich immer wieder, dass der Mensch keine Eicheln isst."
So zögerte Marcie nicht lange. Jedes Jahr während der Erntezeit lädt sie auf ihrem großangelegten Hof für viele Wochen Volontäre aus der ganzen Welt ein, die ihr bei der Eichelernte helfen. Dafür erhalten sie in den dafür hergerichteten Gästezimmern freie Kost und Logie. In diesem Jahr ist Niamh O Mahony, eine irische Akademikerin, dabei. Ich treffe sie in dem Moment an, als sie auf dem Boden sitzend mit einem Hammer in der Hand versucht, eine von Tausenden Eicheln, die vor ihr ausgebreitet liegen, von der Außenkapsel zu lösen.
"Zunächst sind wir unterwegs zu den Bäumen, wir schlagen die Äste und die Eicheln fallen zu Boden. Wir wollen sie am liebsten, wenn sie noch grün sind, weil sie dann noch nicht von Insekten befallen sind. Wir schaffen sie alle hier auf den Hof, es sind Tausende Eicheln. Jetzt müssen sie in der Sonne braun werden. Für mich ist es hier, wie Urlaub. Obwohl mir die ersten Tage die Muskeln wehtun, weil man sechs bis sieben Stunden unterwegs ist und auf die Äste schlägt. Gewöhnlich arbeite ich nur mit meinem Kopf und verbringe meine Arbeit sitzend im Büro. Hier zu sein, befreit mich, ich höre auf zu denken, es ist wie bei einer Meditation."
Eichel-Cookies
Anschließend werden die Eicheln in der durch Sonnenenergie betriebenen, von Marcie selbstkonstruierten Trockenanlage über mehrere Tage bei 150°C getrocknet, bevor sie geschält und in Marcies Mühle zu Mehl verarbeitet werden. Denn, was ich noch gar nicht erwähnt habe: Marcie macht die besten Eichelkekse, Acorn Cookies, wie sie es nennt, weit und breit und verkauft sie seit zwei Jahren erfolgreich im ganzen Land.
"Ich hatte keinen konkreten Plan. Ich wollte lediglich den Menschen begreiflich machen, wie gut man Eicheln essen kann. Mir war nur bewusst, dass ich ein gutes Rezept erfinden musste. So dachte ich hin und her. Ich liebe Kekse, wissen sie, ich bezeichne mich selbst als Cookiemonster. Es gab keine Frage, bei mir würde es immer irgendwelche Kekse geben. So fing ich an, Kekse in kleinen Mengen aus Eichelmehl zu backen und verteilte sie unter den Keanern. Ich erhielt so viel positive Rückmeldung, dass die Keksfirma plötzlich wie aus dem Nichts gegründet war."
Marcie Mayer gibt die Hoffnung nicht auf, dass Eicheln in der Ernährung wieder so wertgeschätzt werden wie einst in der Antike. In guten Jahren sammelt Marcie bis zu zehn Tonnen dieser wertvollen Nuss, während sie sich in diesem Jahr mit nur zwei Tonnen begnügen muss. Aber sie bleibt gelassen dabei. Dann gibt es eben weniger Kekse, sagt sie.
Aber wenn Volontärin Niamh bei der Arbeit zu singen beginnt, dann muss Marcie Mayer immer wieder feststellen:
"Es ist schon verrückt, wie Eicheln die Menschen begeistern können. Sie reagieren ganz enthusiastisch darauf."