Kurz vor Weihnachten haben wir das Interview mit Grigori Rodschenkow in New York aufgezeichnet, eine Gemeinschaftsproduktion der Deutschlandfunk Sport- und der ARD-Dopingredaktion.
Grigori Rodschenkow, der ehemalige Leiter des Dopingkontroll-Labors in Moskau, war die zentrale Figur im Zusammenhang mit dem Staatsdoping in Russland - vor allem mit dem ausgeklügelten Vertuschungssystem bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014. Später wechselte Grigori Rodschenkow die Seiten, kooperierte mit den Ermittlern und floh in die USA. Dort lebt er an einem unbekannten Ort im Zeugenschutzprogramm.
"Weil die Russen alles in ihrer Macht stehende tun, um ihn zurück nach Russland zu bringen, und angesichts der Tatsache, dass hier in den Vereinigten Staaten Leute aktiv nach Grigori suchen, um ihn zu ermorden", sagt sein Anwalt Jim Walden.
In seiner Kanzlei in Manhattan soll das Interview stattfinden. Aus dem ursprünglich geplanten persönlichen Gespräch mit dem Whistleblower ist kurzfristig aus Sicherheitsgründen ein Telefoninterview geworden. Aufnahmeort, Jim Waldens Kanzlei in Manhattan.
Der Anwalt oder seine Mitarbeiterin sind während der gesamten Zeit dabei. Alle Fragen mussten im Vorfeld exakt abgesprochen werden. Darauf haben wir uns in diesem Ausnahmefall eingelassen. Punkt 12 Uhr war an diesem Tag eine Konferenzverbindung zum Einwählen bereit. Die Fragen stellten Andrea Schültke und Hajo Seppelt:
Hajo Seppelt: Können Sie erklären, wie sich das organisierte Doping in Russland im Laufe der Zeit entwickelt hat?
Grigori Rodschenkow: Das System des Dopings ist seit Generationen noch von der Sowjetzeit "tief verwurzelt". Und auch danach wurde die Doping-Verschwörung in Russland natürlich permanent weiterentwickelt. Und sagen wir mal, in den letzten zehn Jahren, in denen ich Direktor des Anti-Doping-Labors in Moskau war, ging es hauptsächlich um die schnelle Reaktion auf neu auftretende Bedrohungen, also neue Doping-Nachweismethoden zu entwickeln und auch, wie man diese umgeht. Wir mussten also immer reagieren, zum Beispiel auf neue Anforderungen der Welt-Anti Doping-Agentur WADA, was den internationalen Standard von Laboratorien angeht.
Und dann - ganz wichtig - das war nicht meine Initiative. Das war Teamwork. Es war das Sportministerium, das alles bezahlt hat. Sie kauften für uns die neuesten Instrumente, die neuesten Modelle und neue Computer. Sie gaben Geld für wissenschaftliche und andere Forschungsarbeiten. Wir hatten gute Informationen, waren immer einen Schritt voraus.
Andrea Schültke: Wissen Sie, wann das Staatsdoping in Russland angefangen hat?
Rodschenkow: 1980. Zeitgleich mit der Anerkennung des Anti-Doping-Labors in der UdSSR, vor den 22. Olympischen Spielen in Moskau. Das kann man als Beginn bezeichnen. Sie können kein Dopingprogramm starten, ohne Zugang zu einem Dopingkontrolllabor zu haben. Das ist die goldene Regel. Als ich 1985 angefangen habe im Moskauer Labor zu arbeiten, war das ganze Dopingsystem schon an Bord.
Seitdem wurden natürlich jede Menge Verbesserungen vorgenommen. Wissen Sie, man kann 1985 und 2015 nicht vergleichen. Doping rührt aber nicht da her, dass alle so schlechte Menschen sind. Doping beginnt, wenn der Schaden durch die Trainingsbelastung gefährlicher wird als die Nebenwirkungen der Dopingmittel.
"Die Spitzenathleten waren immer sicher"
Schültke: Richard McLaren hat etwa 1.000 Athleten identifiziert, die an dem Dopingprogramm beteiligt waren. Stimmt diese Zahl oder waren es noch mehr?
Rodschenkow: Ehrlich gesagt, ich kenne die genaue Zahl nicht, niemand kennt sie. Wir sprechen hier von einem staatlich unterstützen System, denn die Spitzenathleten waren komplett geschützt, sie konnten nicht disqualifiziert werden. Das bedeutet, sie waren vor Dopingkontrollen in Russland geschützt. Sie waren immer sicher.
Seppelt: In welchen Sportarten und welchen Disziplinen war das so?
Rodschenkow: In Bezug auf Sotschi waren die korruptesten Verbände Ski, Biathlon, Skeleton, Bob, Rennrodeln und teilweise Frauen-Eishockey. Vielleicht Eisschnelllauf. Ich habe allerdings nie Kontakt zu Athleten aus dem Wintersport aufgenommen.
Wie genau dieser "Schutz" ablief, von dem Grigori Rodschenkow gesprochen hat, hat der kanadische Rechtsprofessor Richard McLaren im Auftrag der Welt-Anti-Doping Agentur WADA untersucht. Dabei hat sich der Jurist auf Unterlagen und Aussage von Grigori Rodtschenkow, gestützt. Daraus geht unter anderem hervor, dass es eine Liste gab, die sogenannte "Duchess-List" also Herzogin-Liste. Darauf waren die Namen der "geschützten" Athleten, die nicht positiv getestet werden durften, obwohl sie Dopingmittel eingenommen hatten. Ihr Urin wurde im Labor in Sotschi mithilfe eines ausgeklügelten Systems gegen sauberen Urin ohne Rückstände von Dopingmitteln ausgetauscht.
Schültke: War es möglich, dass diese Vertuschungsaktion passiert ist, ohne dass die beteiligten Athleten davon etwas mitbekommen haben?
Rodschenkow: Nein, das war absolut nicht möglich. Kein Top-Sportler aus der Nationalmannschaft ist so naiv. Es wurde ihnen ja auch 2012 beigebracht wie sie ihren sauberen Urin sammeln. Die Athleten gaben nach dem Training oder nach dem Saunagang Urin ab oder nach dem Essen.
Und auch später war unser Duchess-Team diszipliniert und war sich voll bewusst, was da vor sich ging. Und warum leugnen sie das? Weil sie nicht einfach nur Sportler sind. Sie sind Armee- und Polizeioffiziere. Und sie geben niemals einen Trick oder eine Verschwörung zu.
"Es hat alles gut funktioniert"
Seppelt: Können Sie beschreiben, wie genau die Vertuschung der positiven Dopingproben in Sotschi funktioniert hat? Haben Sie die A-Probe ausgetauscht und wenn ja warum und was geschah mit der B-Probe?
Rodschenkow: Die Antwort ist einfach. Wir haben die A- und die B-Probe nachts ausgetauscht. Zuerst die A-Probe, damit wir schon mal eine saubere Probe zum Empfang des Labors bringen konnten. Das alles musste vor der Analyse vor den ersten Testverfahren um sieben Uhr morgens fertig sein. Das war das Wichtigste im Vergleich zu den Vorjahren. Es wurde nicht nach der Analyse getauscht, sondern vor der Analyse. Denn das Ergebnis der Analyse wurde ja von ausländischen "Experten" überprüft.
Seppelt: Und die B-Probe?
Rodschenkow: ein Agent des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Anm. der Redaktion
Also, die A-Probe wurde durch das Loch gegeben, da war der Plastik-Deckel schon geöffnet und dann kam die B-Probe, ebenfalls durch das Loch. Dann habe ich die beiden Flaschen wieder verschlossen, versiegelt und zum Empfang des Labors gegeben. Es hat alles gut funktioniert. Nur manchmal gab es Probleme mit dem Entsiegeln einiger B-Proben, wenn die zu fest verschlossen waren. Aber im Allgemeinen gab es keine Probleme.
Bei Olympischen Spielen ist es üblich, dass internationale Experten im Dopinganalyse Labor vor Ort zusammen arbeiten. Daher konnte der Austausch der verunreinigten Proben russischer Athleten gegen sauberen Urin nur im Verborgenen stattfinden. Dazu gab es einen Raum, der offiziell als Lagerraum fungierte, tatsächlich aber ein zweites Labor war. Durch ein kleines Loch in der Wand wurden die versiegelten Fläschchen mit den A- und B-Proben in dieses Labor gereicht und dort für den Urinaustausch bearbeitet.
Bei einer Dopingkontrolle füllt der Athlet seinen Urin in zwei kleine Spezialfläschchen, eigens für Dopingkontrollen hergestellt von einer Schweizer Firma. Nachdem der Urin eingefüllt ist, verschließt der Athlet selbst die Flaschen, so dass der Drehverschluss mit einem lauten Geräusch einrastet. Damit sind die Flaschen versiegelt und nur mit einer speziellen Maschine im Dopingkontroll-Labor wieder zu öffnen. Dabei werden die Verschlüsse allerdings zerstört. Und hier setzt der nächste Teil des russischen Betrugssystems an. Wie der Bericht des Wada-Ermittlers McLaren aufzeigt, hatten die Russen unter anderem eine Methode entwickelt, um die Spezialflaschen der Schweizer Firma so zu öffnen, dass die Versiegelung des Deckels nicht zerstört wurde. Das schien bis dahin unmöglich. Laut Grigori Rodschenkow waren dafür Mitarbeiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB zuständig. Die waren während der Winterspiele von Sotschi in einem Gebäude direkt neben dem Labor untergebracht. Das war ein Teil des Dopingvertuschungssystems.
Der zweite Teil ist eine von Grigori Rodschenkow entwickelte Dopingmethode, der sogenannte "Duchess-Cocktail". Drei anabole Steroide in Mikrodosierung gemischt mit Whisky für die Männer oder Martini für die Frauen. Dadurch wirkten die verbotenen Substanzen schneller und waren nur kurz nachweisbar. Wie dieser Cocktail auf Athleten wirkt hat Gregori Rodschenkow so erklärt:
Rodschenkow: Mein Cocktail macht nicht aus normalen Athleten Spitzensportler. Mein Cocktail bringt Dich nicht ins olympische 100-Meter-Finale in der Leichtathletik. Und mein Cocktail hilft Dir auch nicht in diesem Finale eine Medaille zu gewinnen. Nicht mein Cocktail. Es ist dein Training und deine Vorbereitung.
Aber wenn Du auf den letzten ein oder zwei Metern der 100 Meter bist und wenn es um Hundertstel oder Tausendstel Sekunden geht, dann wirkt mein Cocktail. Mit meinem Cocktail kannst Du anstatt der Silbermedaille Gold gewinnen.
Mein Cocktail ist das letzte Quäntchen, das den Ausschlag zu Deinen Gunsten bringt, zum Gewinn einer Medaille. Aber Du musst sehr gut vorbereitet und trainiert sein für meinen Cocktail. So wie bei einer Rakete. Wenn Du den Kraftstoff für eine Rakete in einen "Bulldozer" füllst, bleibt der ein "Bulldozer". Sogar mit meinem Cocktail.
Seppelt: Welche Rolle hatte der Inlandsgeheimdienst FSB, speziell FSB-Agent Blochin, vor und während der Spiele?
"Natürlich kam das von ganz oben, vom Präsidenten"
Rodschenkow: Blochin hat alles kontrolliert. Er hat die installierten Überwachungsmechanismen im Labor in Sotschi gehackt. Alles wurde ja aufgezeichnet. Zum Beispiel wurde der Alarm am Kühlschrank mit den Dopingproben manipuliert. So konnten wir die Dopingproben für den Austausch aus dem Kühlschrank herausnehmen und danach wieder hineinstellen, ohne dass der Alarm ausgelöst oder die Entnahme aufgezeichnet wurde.
Natürlich kam das von ganz oben, vom Präsidenten. Denn nur der Präsident konnte den FSB für eine solche spezifische Aufgabe "engagieren".
Seppelt: Sind Sie sich hundertprozentig sicher, dass Wladimir Putin von dem Doping-Vertuschungssystem in Russland wusste?
"Putin wusste alles"
Rodschenkow: Ich weiß von Mutko (russischer Sportminister, Anm. der Redaktion), dass Putin viele Details kannte. Mutko erzählte mir, dass Putin sich an meinen Namen erinnern konnte. Er wusste alles. Es war ja eine ganz einfache Kette: Ich habe an Nagornykh (den stellvertretenden Sportminister, Anm. der Redaktion) berichtet, Nagornykh an Mutko und Mutko an Präsident Putin. Putin wollte alles wissen. Und seine Herangehensweise war so: "Sag mir, was dein Problem ist, und wir werden alles tun, um es zu lösen."
Seppelt: Aus Ihrer Sicht ist es also völlig klar, dass Putin von den Plänen für die Dopingvertuschung bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi wusste?
Rodschenkow: Ja, er kann es nicht leugnen.
Seppelt: Was war also der Grund, dass sich Putin so sehr dafür interessierte? Wegen der Bedeutung der Olympischen Spiele für Russland?
Rodschenkow: Natürlich, natürlich. Die Sotschi-Spiele in Russland waren ein absolut bedeutendes Projekt für Putin. Er musste nichts beweisen, nur Erfolge bei den Olympischen Spielen - das ist alles.
Schültke: Stimmt es, dass Nagornykh wollte, dass Sie die Probe einer ukrainischen Biathletin manipulieren?
"Er fragte mich, ob wir eine saubere Dopingprobe positiv machen könnten."
Rodschenkow: Ja, ja, ja, der stellvertretende Sportminister Nagornykh wollte gewinnen um jeden Preis. Als wir dann in der Lage waren, die Flaschen mit den Dopingproben unbeschädigt zu entsiegeln, überlegte er in eine andere Richtung. Ich war schockiert. Er fragte mich, ob wir eine saubere Dopingprobe positiv machen könnten. Für mich war das völlig inakzeptabel. Im April 2013 hatten wir ein Biathlon-Rennen in Moskau, ein schicker Wettbewerb auf Kunstschnee. Sehr viele Zuschauer waren da und die Atmosphäre war prima. Nagornykh gab den Befehl, er gab der russischen Anti-Doping-Agentur RUSADA den Auftrag, Proben von der ukrainischen Athletin Wita Semerenko zu nehmen. Egal wo sie war, oder was der Testplan vorsah.
Sammeln Sie einfach die Probe. Er kannte die Nummer, den Zahlencode ihrer Probenflaschen und fragte mich, ob wir das machen könnten. Ob wir ihre Probenflaschen öffnen und den Inhalt durch Dopingurin ersetzen können. Ich war absolut schockiert. Bis dahin hatte ich Hunderte oder vielleicht Tausende von positiven Dopingproben zu negativen gemacht, aber nie andersrum. Können Sie sich das vorstellen? In 20 Jahren hat mich nie jemand gebeten aus negativen Proben positive zu machen, aber Nagornykh wollte das. Können Sie sich das vorstellen? Natürlich habe ich ihm gesagt, dass sie eine Spitzensportlerin ist und wir ihren Urin nicht einfach manipulieren können.
Das können wir nicht tun. Stellen Sie sich vor, dass wir in Moskau ein positives Ergebnis haben, aber zwei Tage später wird sie von internationalen Doping-Kontrolleuren getestet. Sie gehört ja zum Pool der internationalen Athleten, die überall auf der Welt für Dopingtests zur Verfügung stehen müssen. Und wenn ihre Probe dann sauber ist - wie will man das erklären: in Moskau dopingpositiv und zwei Tage später ist die Athletin sauber?
Mit so einer Aktion könnten wir das gesamte Sotschi-Projekt untergraben. Ich habe Nagornykh überzeugt, dass das eine gefährliche Idee wäre und der falsche Weg. Und schließlich stimmte er mir zu. Aber er hatte vorausgesehen und befürchtet, dass die ukrainische Läuferin in Sotschi Gold gewinnen würde und für Russland nur Platz zwei bliebe. Das war im Oktober 2012, da haben wir den Medaillenplan für Sotschi 2014 diskutiert.
Nach drei Goldmedaillen in Vancouver sagte mir Nagornykh, dass wir in Sotschi 15 bis 16 Goldmedaillen gewinnen sollen. Ich war total verärgert, wie sollte das funktionieren? Ihre Rechnung zwei Jahre vor Sotschi war 15 mal Gold.
Am Ende wurden es 13 Medaillen. Vier russischen Wintersportlern wurden die Medaillen wegen des staatlichen Dopings inzwischen aber wieder aberkannt.
Grigori Rodschenkow war selbst Leichtathlet und Chemiker. Er hat diverse Dopingmittel im Selbstversuch getestet. 2006 wurde der Wissenschaftler Leiter des Dopingkontroll-Labors in Moskau und damit zum Dreh- und Angelpunkt für systematisches Doping russischer Top-Athleten. Ende 2014 zeigte das Whistleblower-Ehepaar Stepanov in der ARD-Dokumentation: "Geheimsache Doping – Wie Russland seine Sieger macht" wie das Dopingsystem auf Athletenseite funktioniert hat.
Laborleiter Rodschenkow war für die andere Seite zuständig. Nämlich dafür, dass die gedopten Athleten bei Kontrollen negativ getestet wurden. Er erdachte ein ausgeklügeltes System, entwickelte einen Dopingcocktail für den er die Nachweiszeiten analysiert hatte und tauschte positive Proben gegen sauberen Urin aus. Über diesen Betrug, den er maßgeblich durchgeführt hat, berichtete der Chemiker in Zeugenaussagen dem kanadischen Ermittler Richard McLaren, der das Doping in Russland für die Welt-Anti-Doping-Agentur untersucht hatte. Rodschenkow wechselte die Seiten, wurde zum Kronzeugen und floh Anfang 2016 aus Moskau in die USA.
Schültke: Wie viele Urinproben waren ungefähr im Anti-Doping-Labor in Moskau als Sie Moskau verlassen haben?
Rodschenkow: Es könnten 2000 sein. Ich habe alles im Computer. Wir können es berechnen. Das wichtigste dabei ist: Alle Proben im Moskauer Labor sind "sauber".
Eine sehr wichtige Sache ist, die DNA der Elitesportler zu überprüfen, bevor der Urin ausgetauscht wird. Aus diesem Grund musste der Urin in unserem Moskauer Labor kontrolliert werden. Wir waren die letzte Verteidigungslinie. Und die wichtigste Arbeit für den "Schutz" gedopter Athleten war der Austausch des Urins. Dafür nahmen wir eigentlich den sauberen Urin, den die Sportler vorher schon abgegeben hatten. Den haben wir in der Tiefkühltruhe gelagert. Aber sehr oft war Urin aus dem Gefrierschrank nicht verfügbar. Dann haben wir Urin von anderen sauberen Athleten genommen oder von Trainern. Es war Korruption in der Russischen Anti-Doping Agentur RUSADA.
Wenige Tage nach Rodschenkows Flucht starb überraschend Wjascheslaw Sinew, der Gründer der russischen Anti-Doping-Agentur RUSADA. Die Todesursache ist nicht bekannt - anders als bei seinem Nachfolger Nikita Kamajew, 52. Er starb knapp zwei Wochen nach Sinew völlig überraschend an einem Herzinfarkt. Die beiden Verstorbenen waren nach dem Bericht von Richard McLaren, über das festgestellte Dopingsystem zurückgetreten.
Rodschenkow: Nikita Kamaev wurde getötet. Dadurch war ein beträchtlicher Teil der Beweise und Informationen, wie das staatliche Programm außerhalb des Labors betrieben wurde, verschwunden, zum Beispiel wie abhängig die Athleten von der Urin-Sammelstelle waren. Das war's dann wohl.
Schültke: Was würden Sie im Allgemeinen vorhersagen, wenn alle langzeitgelagerten Proben von Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften jetzt noch einmal getestet würden?
"Alle bisherigen Dopingkontrollen waren wirkungslos"
Rodschenkow: Das Ergebnis wäre die Häufigkeit von Doping im Sport. Und dass alle bisherigen Dopingkontrollen wirkungslos waren. Das ist das einzige Ergebnis.
Schültke: Wie war die Qualität der Tests im Dopingkontrolllabor bei den Olympischen Spielen 2012 in London?
Rodschenkow: Armselig. Ehrlich gesagt, das Labor war nicht dafür ausgerüstet, neue Substanzen wie Langzeit-Metaboliten oder "Ostarin" oder "GW1516" zu entdecken. Für mich ist es absolut merkwürdig, warum das Londoner Labor die neuesten Erkenntnisse ignoriert hat, obwohl sie bereits veröffentlicht waren. Um meine Aussage zu untermauern: Sie sehen, wie viele positive Ergebnisse nach der erneuten Analyse der Londoner Proben gemeldet wurden. Das spricht für sich. Das Labor war nicht vorbereitet. Stellen Sie sich vor, das Labor wäre während der Londoner Spiele auf dem neuesten Stand der Wissenschaft gewesen, hätte es damals zwanzig positive Tests in der Leichtathletik und zwanzig Positive im Gewichtheben gegeben. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass Gewichtheben für - sagen wir acht Jahre - nicht bei den Olympischen Spielen sein sollte.
Seppelt: Hat es irgendeine Art von staatlichem Plan oder Dopingkonzept gegeben - vielleicht nicht so ausgeklügelt wie in Sotschi 2014 - um Doping in Russland zu vertuschen. Wie lief die Vorbereitung der Athleten auf die Olympischen Spiele in Peking 2008 und London 2012 - vor allem in der Leichtathletik?
Rodschenkow: Als wir uns auf Peking vorbereitet haben, war es Oralturinabol. Sie denken, eine halbe Pille Oralturinabol, am nächsten Tag eine halbe Pille Metanolon, dann am nächsten Tag eine halbe Pille Oxandrolon. Zwischen Peking 2008 und London 2012 haben wir unsere Strategie des Vertuschens geändert. Wir haben alles kontrolliert.
Schültke: Sehen Sie in Russland eine Veränderung der Mentalität in Bezug auf Doping?
"Russland ist nach wie vor ein Doping-Land"
Rodschenkow: Nein. Die Mentalität ist gleich geblieben. Es ist eine Mentalität des Betrügens, Lügens und Leugnens. Wissen Sie, es gibt eine "Wahrheit" für draußen, besonders für Sebastian Coe, (den Präsidenten des Leichtathletik-Weltverbandes, Anm. der Redaktion) oder Craig Reedie (Präsidenten der Welt-Anti-Doping-Agentur, Anm. der Redaktion) oder für Thomas Bach (den Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees, Anm. der Redaktion), dass Russland einen großen Schritt nach vorn gemacht hat, dass russische Athleten jetzt die saubersten der Welt sind. Das ist natürlich nur eine Ausrede und eine Art Propaganda. Denn alle Sportfunktionäre, die involviert waren und von Doping wussten, sind unantastbar und nach wie vor im Amt. Es gibt keine Strafe für Athleten. Wissen Sie, warum sollten Athleten die Wahrheit über sich selbst sagen, dann müssten sie Goldmedaille zurückgeben und dann gibt es keine Bestrafung.
Du bleibst in deinem Auto, du bleibst in deinen Wohnungen. Das Leben ist gut. Und dann bereiten die Russen eine weitere gefälschte Goldmedaille vor und du behältst die Goldmedaille an deiner Stelle in deinem Haus. Es gibt also keinerlei Änderungen. Russland ist nach wie vor ein Doping-Land. Es hat sich absolut nichts geändert.
Schültke: Was bedeutet es für die russische Seele, bei den Winterspielen unter der neutralen Flagge anzutreten, ohne Nationalhymne und in eine neutraler Kleidung?
Rodschenkow: Diese Symbole interessieren niemanden, es ist eine symbolische Sache. Russland hat keine Wahl, es gibt jetzt die neutrale Kleidung und das wird einfach akzeptiert werden. Wissen Sie, es ist nur eine erste Welle der Emotion und dann ist das wieder vergessen, das mit Hymne, Flagge und neutraler Uniform. Es ist okay.
Schültke: Also glauben Sie nicht, dass das der russischen Seele schaden wird, ohne Flagge?
Rodschenkow: Auf keinen Fall. Die russische Seele wird nicht verletzt. Es verletzt nur die russische Propaganda und die "seltsame" politische Atmosphäre.
Seppelt: Wie fühlen Sie sich persönlich nach all den Drohungen, gegen Ihre Person?
"Ich sorge mich um meine Familie, die noch in Russland ist"
Rodschenkow: Ich genieße jeden neuen Tag, und freue mich, dass ich lebe, dass ich meine Lieblingssachen mache. Wie kann ich abschätzen, ob ich sicher bin oder nicht. Wenn ein Auftragsmörder in der Nähe ist, kann man das nicht abschätzen. Das einzige, was mir wirklich Sorgen macht - ich sorge mich um meine Familie, die noch in Russland ist, ich mache mir Sorgen um meine Kinder, meine Frau und um meinen Hund übrigens auch.
Seppelt: Grigori, nach all den Konsequenzen, die Sie erfahren haben, bedauern Sie, dass Sie das russische Dopingsystem öffentlich gemacht haben, und würden Sie das Gleiche noch einmal tun? Würden Sie noch einmal Whistleblower sein?
Rodschenkow: Ich habe eine Aufgabe erfüllt, die wichtig ist für die ganze Welt. Ich habe gezeigt, wie viele Probleme wir im Sport und in der Dopingkontrolle noch haben. Irgendjemand musste das sagen und ich bin froh, dass ich im Zentrum eines Dopingkontrollsystems stand, und dass sich dann später alles geändert hat und ich die Verschwörung öffentlich gemacht habe. Also ich bedauere es nicht. Ich würde es wieder machen.
Schültke: Sie haben uns Ihre ganze Geschichte erzählt, haben gesagt, Sie wussten, dass Sie Ihre Geschichte irgendwann offenlegen müssen - schämen Sie sich dafür, dass Sie Teil des Doping-Systems in Sotschi oder in Russland waren?
Rodschenkow: Warum sollte ich mich schämen? Es waren zwei verschiedene Männer, ein Mann, der in Sotschi war, der stolz war auf die Dinge dort. Und der andere Mann, der jetzt mit Ihnen spricht nach dem Tod seines Freundes Nikita, nach dem Tod von Boris Nemzow. Nach den Olympischen Spielen in Sotschi gab es die Invasion in der Ukraine und den Abschuss des Flugzeugs.
Ich schäme mich nicht. Ich habe den Menschen die Wahrheit gesagt, denn all diese Dinge im Sport haben solchen Einfluss auf politische und sogar historische Dinge, die nach dem Erfolg bei Olympischen Spiele geschehen können. Der Erfolg in Sotschi hat Putin aggressiv gemacht. Russland ist ein Land, in dem es keine Moral gibt, keine Scham. Und dummerweise bin ich Russe - alles klar?
Grigori Rodschenkow war für die praktische Umsetzung des staatlich organisierten Dopingsystems in Russland verantwortlich und damit für jahrelangen groß angelegten Betrug im Sport. Dann wechselte er die Seiten und gab seine Informationen weiter. Aktuell lebt Grigori Rodschenkow im Zeugenschutzprogramm in den USA.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.