New York, kurz vor Weihnachten.
Ein Bürogebäude in Manhattan. Aufzug in den 32. Stock.
Hier ist die Kanzlei des renommierten New Yorker Anwalts Jim Walden. Sein derzeit möglicherweise prominentester Mandant: Grigori Rodschenkow. Der Russe ist aktuell wohl der wichtigste Whistleblower im Weltsport. Als ehemaliger Leiter des Dopingkontroll-Labors in Moskau war er die zentrale Figur im Zusammenhang mit dem Staatsdoping in Russland. Vor allem bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi.
Rückblick, 8. Februar 2014:
"Enjoy the Olympic Games of Sotschi", genießt die Olympischen Spiele von Sotschi, jubelte Thomas Bach, der deutsche Präsident des Internationalen Olympischen Komitees. Und der russische Präsident Wladimir Putin eröffnete die Spiele.
Die wahrscheinlich größte Dopingverschwörung der Geschichte
Zwei Wochen, in denen seine Athleten Bestleistungen bringen und möglichst viele Goldmedaillen gewinnen sollten. Und zwei Wochen, in denen wahrscheinlich die größte je dagewesene Dopingverschwörung während Olympischer Spiele stattgefunden hat.
Ein Dopingsystem - umgesetzt von Grigori Rodschenkow. Der Chemiker hatte eine Methode entwickelt, mit der im Labor in Sotschi dopingbelasteter Urin russischer Athleten gegen sauberen ausgetauscht wurde. Als das Vertuschungssystem ans Licht kam, wechselte Rodschenkow die Seiten und floh in die USA.
Dort lebt er in einem Versteck im Zeugenschutzprogramm, abgeschnitten von der Außenwelt: "Weil die Russen alles in ihrer Macht stehende tun, um ihn zurück nach Russland zu bringen und angesichts der Tatsache, dass hier in den Vereinigten Staaten Leute aktiv nach Grigori suchen, um ihn zu ermorden", sagt Jim Walden. Der Kontakt zu seinem Mandanten Grigori Rodschenkow läuft nur über ihn.
Hajo Seppelt von der ARD-Dopingredaktion hat ein Interview verabredet. Ein exklusives Gespräch mit dem Whistleblower - in Kooperation mit der Deutschlandfunk-Sportredaktion.
Der Termin kurz vor Weihnachten in New York steht. Allerdings wird aus dem persönlichen Gespräch aus Sicherheitsgründen kurzfristig ein Telefoninterview in der Kanzlei von Jim Walden. Aus Sorge um Rodschenkows Sicherheit.
"Putin wusste alles"
Hajo Seppelt kennt Grigori Rodschenkow aus persönlichen Begegnungen zuvor. Für ihn kein Zweifel, dass es der Whistleblower ist, der da spricht. Seine Aussagen sind brisant. Denn während die russische Staatsführung immer erklärt, sie habe von allem nichts gewusst, hat der ehemalige Laborleiter eine klare Botschaft: Die russische Staatsführung sei sehr wohl über das Doping-Vertuschungssystem informiert gewesen:
"Ich weiß von Mutko (den russischen Sportminister, Anm. d. Red.), dass Putin viele Details kannte. Mutko erzählte mir, dass Putin sich an meinen Namen erinnern konnte. Er wusste alles. Es war ja eine ganz einfache Kette: Ich habe an (den stellvertretenden Sportminister, Anm. d. Red.) Nagornykh berichtet, Nagornykh an Mutko und Mutko an Präsident Putin. Putin wollte alles wissen. Und seine Herangehensweise war so: "Sag mir, was dein Problem ist und wir werden alles tun, um es zu lösen".
Grigori Rodschenkow setzte sich Anfang 2016 aus Russland ab und wechselte die Seiten. Wo er sich aufhält, wissen wir nicht. Während wir in der Kanzlei seines New Yorker Anwalts mit ihm telefonieren, gewähren die großen Fenster des Raumes den perfekten Blick auf die Freiheitsstatue.
Der Mann, der uns ein exklusives Interview gibt ist nicht frei. Er ist in Gefahr. Auch, weil sich die internationalen Ermittler auf seine Aussagen und Belege stützen - bei der Einordnung des Dopingsystems und dem Umgang mit involvierten Athleten.
"Unwissend gedopt? Nein, niemand ist so naiv"
Im Interview geht es auch um die Rolle der Athleten und die Frage: War es möglich, dass die Sportler ohne ihre Wissen in das Dopingsystem involviert waren? "Nein, das war absolut nicht möglich. Kein Top-Sportler aus der Nationalmannschaft ist so naiv."
Zumindest einige der vom IOC lebenslang für Olympia gesperrten russischen Athleten dagegen bestreiten, etwas gewusst zu haben. Insgesamt 42 Sportlerinnen und Sportler sind vor den Internationalen Sportgerichtshof CAS gezogen. Die Verhandlungen laufen.
Einer der Zeugen: Grigori Rodschenkow.
Der wichtigste Kronzeuge in der Aufarbeitung des russischen Staatsdopings ist überzeugt:
"Russland ist nach wie vor ein Doping-Land. Es hat sich absolut nichts geändert."
"Russland ist ein Land, in dem es keine Moral gibt"
Wenn er Sätze wie diesen sagt, wirkt der ehemalige Laborleiter am Telefon sicher und furchtlos. Erst als wir fragen, wie er sich persönlich fühlt, wird klar, wie sehr ihn die Situation belastet:
"Wie kann ich abschätzen, ob ich sicher bin oder nicht. Wenn ein Auftragsmörder in der Nähe ist, kann man das nicht abschätzen. Das einzige, was mir wirklich Sorgen macht - ich sorge mich um meine Familie, die noch in Russland ist, ich mache mir Sorgen um meine Kinder, meine Frau und um meinen Hund übrigens auch."
Grigori Rodschenkow wusste, was er tat, als er ein groß angelegtes Dopingvertuschungssystem umgesetzt hat. Nach seiner Flucht und den Drohungen, sehen einige in ihm ein Opfer. Bereuen tut er nichts, erzählt er uns. Weder, dass er als Whistleblower das System zum Einsturz gebracht hat, noch, dass er der Kopf hinter dem Betrug war.
"Ich schäme mich nicht, ich habe den Menschen die Wahrheit gesagt, denn all diese Dinge im Sport haben solchen Einfluss auf politische und sogar historische Dinge, die nach dem Erfolg bei Olympischen Spiele geschehen können. Der Erfolg in Sotschi hat Putin aggressiv gemacht. Russland ist ein Land, in dem es keine Moral gibt, keine Scham. Und dummerweise bin ich Russe – alles klar?"