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Grit Straßenberger und Felix Wassermann (Hg.)
"Staatserzählungen"

Was ist der Staat und was muss er leisten? Autoren verschiedener Fachrichtungen haben sich mit diesen Fragen beschäftigt - herausgekommen ist ein Sammelband zum 65. Geburtstag des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler. Das Buch ist eine lesenswerte Leistungsschau, findet unsere Rezensentin.

Von Ulrike Winkelmann |
    Reichstagsgebäude im Regierungsviertel in Berlin-Mitte am 14.06.2017. Berlin-Mitte: Wehende Flaggen auf dem Reichstagsgebäude, dem Sitz des Deutschen Bundestages.
    Im Buch " Staatserzählungen" sind Schriften u.a. von Herfried Münkler, Jürgen Kaube und Wolfgang Schäuble zusammengetragen (imago stock&people)
    Das Buch handelt von Staatlichkeit aus ganz unterschiedlichen Sichtweisen: Ein Literaturwissenschaftler, ein Kunsthistoriker, eine Zeithistorikerin und auch ein altgedienter Politiker sind unter den Autoren. Und obwohl alle ihre ganz eigenen Steckenpferde verfolgen, kreist doch jedes Kapitel indirekt um eine große Frage, die derzeit jeden halbwegs liberal Denkenden beschäftigen sollte: Was tun gegen die Welle des Rechtsradikalismus, gegen das populistische Gift, das selbst die stabileren Demokratien gerade blasser aussehen lässt?
    Nicht, dass der Band "Staatserzählungen", herausgegeben von Grit Straßenberger und Felix Wassermann, hier Antworten parat hielte. Doch der Umstand, dass so verschiedene Disziplinen so viele Perspektiven auf Macht und Mächtige ermöglichen, bietet geradezu etwas Trost: Das kulturelle Material, das die politische Welt im Innersten zusammenhält, ist dicht gefügt, und es ist wahrscheinlich reproduzierbar - denn es ist erzählbar.
    Herausgeber Felix Wassermann sagt: "Das mag vielleicht verwundern, wenn man beim Staat zuallererst an eine bürokratische Maschine denkt, an eine Administration, einen Staatsapparat, der ganz nüchtern - also mit einem Pathos der Nüchternheit funktioniert und ganz unerzählerisch wirkt. Aber schon diese Metaphern - also Staatsmaschine zum Beispiel - verweisen ja darauf, dass auch solch ein nüchternes Staatsverständnis auf Erzählungen angewiesen ist und der Auslegung der Erzählungen bedarf."
    Bekenntnis zum Staat
    Zuletzt haben in Deutschland gerade auch Linksliberale - teils Sozialdemokraten, teils Grüne, aber auch unabhängige Intellektuelle - im Angesicht des wuchernden Trumpismus ein ganz neues, lange nicht gehörtes Bekenntnis zum Staat abgelegt.
    Der Staat, ja: auch der Nationalstaat verdient mehr Respekt und Zuneigung, so der Tenor. Er schützt unser freiheitliches Miteinander. Er gibt den Gewerkschaften, den Kirchen, Parteien, Krankenkassen und so weiter ein Dach - den Orten also, wo Solidarität organisiert, manchmal bloß verwaltet, aber eben doch immer auch gelebt wird.
    Klassischen Konservativen muss man so etwas nicht lange erklären, und so beginnt das Buch mit einem Essay des FAZ-Herausgebers Jürgen Kaube zum Thema, so der Titel: "Fürstenberatung mit und ohne Fürsten". Aus der Fürstenzeit schlägt Jürgen Kaube nun sehr elegant den Bogen zur Zeit der gewählten Politiker und ihren Beratern, die oft genug Lobbyisten sind. Wie umgehen mit dem notwendigen Informationsgefälle in der Politik?
    Die politische Ordnung im Märchen
    Dass die Entscheider meistens von allem Möglichen nur ein bisschen - die Referenten, Lobbyisten und wissenschaftlichen Berater aber von bestimmten Dingen alles wissen? Und wie verändern sich der Rat der Berater und die Entscheidung der Entscheider unter massenmedialer Beobachtung und in den Augen des Volkes? Hierzu schreibt Jürgen Kaube:
    "Souveräne, die zwar nur so heißen und es gar nicht sind, sondern mehr eine Meinungswolkenformation, die aber aus ihrer Bezeichnung als Souverän durchaus Folgerungen ziehen, können ungemütlich werden, wenn ihnen Politik wiederholt Zwangsläufigkeiten vorrechnet. So wie einst der Fürst nervös geworden sein dürfte, wenn ihm die Berater sagten, es gehe nur so oder gar nicht."
    Politik, folgert er - unüberhörbar in Richtung von Bundeskanzlerin Angela Merkel -, muss daher wissen, dass Rationalität nicht alles ist. Sie benötigt…
    "…eine Sprache für das Gewollte im Unterschied zum sachlich Gebotenen. Wird zu stark betont, die politische Entscheidung sei gar keine, sondern zwangsläufig, kommt zwangsläufig vor allem Misstrauen auf".
    Von der Schaffung von Vertrauen berichtet auch der Literaturwissenschaftler Steffen Martus in seinem Beitrag mit dem Titel "Politische Erzählkunst im 19. Jahrhundert: Die 'Kinder- und Hausmärchen' der Brüder Grimm". Diese Märchen halfen, so Steffen Martus, den napoleonischen Umbruch im zerfallenden Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zu verkraften.
    All die Kinder, die sich vielleicht immer schon gefragt haben, wie es sein kann, dass die Königstochter im "Froschkönig" für ihre Gemeinheit dem Frosch gegenüber so belohnt wird, bekommen es endlich erklärt:
    "Wie in vielen Märchen der Brüder Grimm steht auch im 'Froschkönig' die politische Ordnung auf dem Spiel."
    Soll heißen: Die Königstochter handelt unrecht, wenn sie den Frosch an die Wand wirft. Aber so etwas muss man aushalten, damit es nachher ein glückliches Brautpaar gibt und die Machtverhältnisse gesichert sind. Die Brüder Grimm waren keine Revolutionäre, keine Feministen oder Arbeiter- und Bauernbefreier, darüber ist viel geschrieben worden - aber sie waren eben auch keine Fürstenknechte. Sie wollten gesellschaftlichen Kitt herstellen, schreibt Steffen Martus:
    "Die Märchen stimmen inhaltlich auf eine unberechenbare Wirklichkeit ein und vermitteln zugleich in ihrer Tonlage unauffällig jenes Grundvertrauen, ohne das man an der offensichtlichen Ungerechtigkeit der Welt, am Grauen und an der Brutalität, die sie Menschen zumutet, verzweifeln würde. Nur wenn die politische Ordnung die Zuversicht nicht verliert, dass es trotz allem gut weitergeht, bricht sie den Zauber- und Hexenbann."
    Geschichtsschreibung und Erzählverweigerung
    Aber hilft das Wissen darüber, wie Staatlichkeit herbeierzählt wurde, dem "Zerfasern der großen Erzählungen" vom Staat entgegenzuwirken? Das fragt sich die Historikerin Gabriele Metzler und schildert, wie sich die Idee von Staatlichkeit in der deutschen Geschichtsschreibung nach dem zweiten Weltkrieg ungefähr alle zehn Jahre geändert hat. Überwogen zunächst Varianten der Frage, wie Weimar untergehen konnte, übernahm dann die marxistische Sicht, und später die Vorstellung von der geglückten "Ankunft im Westen". Doch nach der deutschen Einheit, schreibt Gabriele Metzler, setzte sich ein neues Motiv durch:
    "Die Jüngeren erzählten nun von einem Staat, der sich in seinen Gestaltungsansprüchen völlig übernommen hatte; und sie erzählten von staatlichen Akteuren, deren Verheißung, 'mehr Demokratie wagen' zu wollen, doch nur auf die öffentlichen Institutionen beschränkt geblieben sei. Der Sozialstaat galt nun nicht mehr als Lösung, sondern als Ursache weitreichender Probleme."
    Sehr deutlich wird in Metzlers Übersicht, wie zeit- und damit eben auch interessen- und trendgebunden die Geschichtsschreibung über den Staat ist.
    Der Staat ist gefragt
    Auch Herausgeber Felix Wassermann sagt über die jüngere zeithistorische Forschung: "Man könnte sogar zugespitzt von einer Art Erzählverweigerung sprechen. Demnach geht es ihnen vor allem darum, den Staat zu kritisieren, und auch die Erzählungen, die im Umlauf sind über den Staat, zu kritisieren - man könnte sogar sagen, den Staat zu zerreden vielleicht. Und wenn überhaupt noch erzählt wird, dann wird vom Ende des Staates erzählt, also vom Staatszerfall oder vom Aufgehen des Staates in der Europäisierung und Globalisierung."
    Doch habe die Entwicklung außerhalb der Wissenschaft gezeigt, dass der Staat durchaus nachgefragt werde - als Sicherheitsgarant nach dem 11. September 2001, als Regulator nach der Finanzkrise, und auch als Grenzensicherer in der Migrationsfrage: "Weswegen es dringend ist, neu darüber nachzudenken, was den Staat zusammenhält und stabilisiert, was der Staat leisten kann", so Felix Wassermann. "Denn letztlich geht es um Zukunftsszenarien, um Erzählungen, die tauglich sind auch unter veränderten Bedingungen von Politik, und eben auch im 21. Jahrhundert tragfähig sind."
    Keine "großen Erzählungen" also, aber auch kein "Ende der großen Erzählungen" mehr. Sondern: eine Verpflichtung auf Erzählungen, die wenigstens helfen, den Laden zusammenzuhalten - und damit ein klares Bekenntnis zur politischen Verantwortung der Sozial- und Geisteswissenschaften: Das leistet dieses Buch.
    Grit Straßenberger, Felix Wassermann (Hg.): "Staatserzählungen. Die Deutschen und ihre politische Ordnung"
    Rowohlt Berlin, 320 Seiten, 26 Euro.