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Großbritannien
Auf Anti-Brexit-Kurs

Auch wenn die Verhandlungen zwischen London und Brüssel über den britischen EU-Austritt längst laufen: Die Brexit-Gegner in Großbritannien geben die Hoffnung nicht auf. Mit einem Anti-Brexit-Bus wollen sie jetzt eine Woche durchs Land fahren und gegen den EU-Ausstieg mobil machen.

Von Stephanie Pieper |
    Pro-EU-Demonstranten gehen in der britischen Hauptstadt London gegen den EU-Austritt des Landes auf die Straße.
    Mittlerweile geben immer mehr Briten zu: Es war ein Fehler, das Kreuz bei der Brexit-Abstimmung bei "Ja" zu machen (AFP / NIKLAS HALLE'N)
    Philip Richmond begutachtet an seinem Schreibtisch die frisch gedruckten Flyer, die er in den nächsten Tagen an möglichst viele Briten verteilen will. Nicht nur diese Flyer sind rot, sondern auch der große Reisebus, der durchs Land tourt. Nicht irgendein Rot, sondern dasselbe Rot wie der berühmte Bus der Brexit-Kampagne, der vor dem Volksentscheid durch Großbritannien rollte – und der den Menschen in großen Lettern 350 Millionen Pfund für den nationalen Gesundheitsdienst versprach. Das Geld, das angeblich bislang jede Woche nach Brüssel fließt. An diese umstrittene Zahl knüpft Richmond an.

    2.000 Millionen – also zwei Milliarden Pfund wird der Brexit kosten, jede Woche: Diese Schätzung hat Richmond aus einem durchgesickerten Szenario der konservativen Regierung, wie stark der EU-Austritt das Wirtschaftswachstum dämpfen könnte. Eine beeindruckende Zahl, findet er – genau richtig, um sie auf einen Bus zu kleben. Der 55-Jährige hat die Initiative "Brexit: Is it worth it?" gestartet – ist der Brexit es wirklich wert?
    Von der Graswurzelbewegung zur Kampagne
    "Die Tatsache, dass es eine Abstimmung gab – heißt ja nicht, dass wir unsere Argumente nicht mehr vorbringen können", entgegnet Richmond den "Brexiteers". Entstanden ist die Bus-Idee in der Gruppe "Camden for Europe", die sich in diesem Londoner Stadtteil nach dem Referendum gegründet hat – eine Graswurzel-Bewegung, finanziert über Online-Crowdfunding.
    "Wir sagen: Lasst uns eine Abstimmung über den Brexit-Deal machen. Als wir beim Referendum befragt wurden, da wusste keiner, was der Brexit eigentlich bedeutet. Jetzt sehen wir die Konturen – und haben von der Regierung selbst erfahren, wie groß der wirtschaftliche Schaden ist."
    Richmond hat erst als Fondsmanager in der City of London gearbeitet, später im Immobiliengeschäft – und sattelte dann ein Studium europäischer Politik oben drauf. Doch seine Doktorarbeit muss warten, die Anti-Brexit-Bewegung ist ihm wichtiger. Sein Ziel: dass wenigstens ein kleiner Teil jener 52 Prozent, die für den EU-Austritt gestimmt haben, Reue zeigt. Wenn die Meinungsumfragen weiter in Richtung der Skeptiker kippen, dann werden sich auch mehr europäisch gesinnte Parlamentarier aus der Deckung wagen, hofft Richmond.
    Der Traum von einem zweiten Referendum
    Er träumt davon, dass im Herbst eine Mehrheit der Abgeordneten auf ein zweites Referendum drängt – vor allem die aus der Labour-Opposition, unterstützt von Rebellen aus den Reihen der regierenden Tories.
    Auch der Student William Dry aus Oxford arbeitet darauf hin. Er ist einer derjenigen, die ihre Meinung geändert haben: Der 20-Jährige hat – wie viele in seiner Familie – sein Kreuz für den Brexit gemacht. Ein Fehler, wie er heute sagt:
    "Damals gab es die Euro-Krise, die Flüchtlingskrise, den drohenden türkischen EU-Beitritt, das 350-Millionen-Versprechen. Heute steht Europa wirtschaftlich besser da. Und die Lügen der Brexit-Befürworter sind ans Licht gekommen: Wir müssen 50 Milliarden dafür zahlen, dass wir rausgehen – und alle Regeln weiter ohne Mitsprache akzeptieren."
    "Wir wissen: Wir können etwas dagegen tun"
    Dann doch lieber gleich in der EU bleiben, meint William nun. Er engagiert sich bei der Initiative "Our Future, Our Choice", die junge Leute ansprechen will – weil es um ihre Zukunft geht. Die Jungen sind mehrheitlich gegen den Brexit, oft aus idealistischen Motiven. Doch die Debatte dreht sich meist um die Wirtschaft: um Binnenmarkt, Zollunion und Freihandelsabkommen. Schwerer Stoff. Aber davon lässt sich der 25-jährige Calum Millbank nicht bange machen:
    "Manche sagen, wir seien apathisch, resigniert, deprimiert über die Situation, die beschissen ist. Aber wir wissen: Wir können etwas dagegen tun. Ich werde das alle meinen Freunden sagen und die werden es ihren Freunden sagen. Es ist unsere Zukunft, unsere Wahl."
    Hier und dort versammeln sich mal Hunderte, seltener Tausende zu Demonstrationen gegen den EU-Ausstieg. Ob "Best for Britain", "European Movement", "Open Britain" oder die neue Partei "Renew": Es gibt eine ganze Reihe von Initiativen, die mindestens einen harten Brexit verhindern wollen, wenn nicht gar den EU-Austritt überhaupt. Der Milliardär George Soros hat dafür gespendet, und auch Labours Ex-Premier Tony Blair mischt hinter den Kulissen mit. Manche sehen diese Vielfalt als Manko – und fordern eine landesweite, schlagkräftige Kampagne. Richmond dagegen setzt auf eine Bewegung von unten:
    "Wenn es ein zweites Referendum über den Brexit-Deal gibt und eine Mehrheit dafür ist: fein. Großbritannien könnte dann vielleicht später – zu anderen Bedingungen – wieder eintreten. Diese Entscheidung wird eine jüngere Generation treffen. Europa ist clever genug, sich anzupassen – deshalb denke ich, es wird irgendeine Art von EU geben, der Großbritannien in irgendeiner Form angehört."
    Westminster bleibt bisher hart
    Die britische Regierung bleibt bislang hart: Premierministerin Theresa May will den Brexit durchziehen – und lehnt einen weiteren Volksentscheid ab. In Umfragen sagen zwar zunehmend mehr Briten, der EU-Austritt sei ein Fehler; gleichwohl wünscht sich bisher nur etwa jeder dritte eine weitere Abstimmung darüber. Philip Richmond aber lässt sich nicht beirren: Er wird die nächsten acht Tage mit seinem knallroten Anti-Brexit-Bus unterwegs sein – und 33 Stopps in England, Wales und Schottland einlegen. Für ihn ist der Brexit kein Segen, sondern Fluch – und jeder Brite, den er davon überzeugt, zählt.