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Großbritannien
"Die EU gehört nicht einem allein"

EU-Kommissar Günter Oettinger lehnt eine Änderung der EU-Verträge zugunsten Großbritanniens ab. "Eine Änderung der Verträge halte ich für falsch", sagte Oettinger im Deutschlandfunk. Vielmehr müsse die Europäische Union in Bereichen wie der Verteidigungs- oder Wirtschaftspolitik enger zusammenarbeiten.

Günter Oettinger im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Günter Oettinger
    CDU-Politiker Oettinger warnt vor einer Änderung der EU-Verträge (imago stock & people)
    Oettinger erklärte, eine Vertragsänderung sei eher eine Gefahr als Chance. Es gebe viele Mitgliedsstaaten, die eher eine engere Bindung in Europa wollten, sagte der CDU-Politiker. Zudem sei zu einer Vertragsänderung Einstimmigkeit nötig. "Die EU gehört nicht einem allein", sagte der EU-Digitalkommissar. Eine Reform müsse von 28 Parlamenten angenommen werden.
    Oettinger sprach sich aber auch für Zugeständnisse an Großbritannien aus. Die EU-Kommission müsse nicht von all ihren Kompetenzen Gebrauch machen. Oettinger verwies auf die Lage in Deutschland. Dort könne der Bund qua Gesetz auch weitere Kompetenzen an sich ziehen, verzichte aber darauf und überlasse diese den Ländern. Darüber hinaus müsse Großbritannien die Zusage erhalten, dass keine weiteren Kompetenzen von London nach Brüssel verlagert würden.
    Großbritanniens Premierminister David Cameron beginnt heute mit einer Reise in vier europäische Hauptstädte, um für eine Reform der EU zu werben. Er will die Beziehungen zur EU neu aushandeln, um nationale Befugnisse zurückzuerhalten.

    Das Interview in voller Länge:
    Jasper Barenberg: Jetzt gibt es endgültig kein Zurück mehr. Heute schon wird David Cameron dem Unterhaus in London seine Pläne für ein Referendum vorlegen. Ob die Briten dann im nächsten oder erst im übernächsten Jahr abstimmen werden, das dürfte auch davon abhängen, welche seiner Reformideen der konservative Premierminister bei den europäischen Partnern durchsetzen kann. Heute schon wird Cameron in Kopenhagen, in Den Haag und in Paris vorstellig und in den nächsten Tagen und Wochen dann in allen europäischen Hauptstädten.
    Und mitgehört hat der CDU-Politiker Günther Oettinger, in der EU-Kommission zuständig für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft. Schönen guten Morgen!
    Günther Oettinger: Guten Morgen!
    Barenberg: Der Reformeifer von David Cameron, seine Forderungen, ist das eine Gefahr für die Zukunft der Europäischen Union oder eine Chance?
    Oettinger: Wir sind erneut bereit zu prüfen, wo die Europäische Union von Kompetenzen nicht Gebrauch machen muss. Wir können auch zusagen, dass die neue Kommission unter Jean-Claude Juncker von allen Zuständigkeiten zurückhaltend Gebrauch macht. Aber ich glaube, jetzt, wenn man einen Konvent einberuft und den gesamten Vertrag, also unsere europäische Verfassung überprüft, was kann man den Mitgliedsstaaten zurückgeben, was braucht man an mehr Europa, ist dies eher eine Gefahr als eine Chance, und zwar eine Gefahr für ihn.
    Er hat große, ich glaube, zu große Erwartungen geweckt in der eigenen Bevölkerung. Und eine Gefahr für den Bestand der europäischen Gemeinschaft. Denn es gibt viele Mitgliedsstaaten, die wollen deutlich mehr Europa und sind nicht bereit, auf die Ideen, die Herr Cameron hat, einzugehen. Und wenn man einmal die Entwicklungen in der Welt sieht, dann ist unverkennbar: In der Außenpolitik, in der Nachbarschaft, in der Verteidigungspolitik, in der Wirtschaftspolitik müssen enger zusammenrücken und können nicht so tun, als ob wir noch immer mit nationalstaatlichen Größenordnungen erfolgreich sind.
    Barenberg: Aber ich habe da durchaus Sympathie für den Grundgedanken durchgehört, Kompetenzen zurückzuverlagern. Da kann er also mit Entgegenkommen rechnen?
    Oettinger: Nicht in dem Sinne, dass wir den Vertrag ändern. Aber man muss ja nicht als Kommission, als Rat, als Parlament von allen Kompetenzen Gebrauch machen. Gestatten Sie mir einen Vergleich: Im Grundgesetz standen seit Beginn die konkurrierenden Zuständigkeiten. Das heißt, der Bund konnte – Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat –, konnte ein Bundesgesetz schaffen, konnte Kompetenzen an sich ziehen, musste es aber nicht. Und hat das in vielen Fällen bis heute nicht gemacht. Und damit blieben die Aufgaben bei den Ländern. Und so sollten wir auch klug sein – und dies haben wir fest vor –, nicht von all den Zuständigkeiten, die wir formal haben, auch Gebrauch zu machen, sondern wir wollen uns auf Schwerpunkte in den nächsten fünf Jahren konzentrieren.
    "Zu Vertragsänderungen gehört Einstimmigkeit"
    Barenberg: Sie sehen es also nicht so, dass David Cameron Europa zwingen will, sich zurückzunehmen, und das einem Erpressungsversuch gleicht?
    Oettinger: Ob er es will, das weiß ich nicht, aber er kann es nicht. Denn zu Vertragsänderungen gehört Einstimmigkeit. Die Europäische Union gehört nicht einem alleine. Und Sie werden sicherlich in den nächsten Wochen beobachten und dann werden wir alle sehen, dass David Cameron in den Hauptstädten auf nur eingeschränkte Zustimmung stößt, namentlich eine Vertragsänderung, die durch 28 und mehr Parlamente gehen muss, die zum Teil einen Volksentscheid auslöst, dies wird im Grunde genommen ernsthaft. Da wird niemand unsere Kräfte falsch binden, die wir woanders brauchen. Und das würde das Risiko bergen, dass wir in einem oder mehreren Mitgliedsstaaten nicht durchkommen. Und deswegen, eine kluge Wahrnehmung unserer Kompetenzen ja, Zurückhaltung bei vielen der Möglichkeiten ja, aber eine Änderung der Verträge, die halte ich für falsch.
    Barenberg: Beim letzten Mal, als es um Vertragsänderungen ging, als es um einen Konvent ging, hat die ganze Prozedur ja zehn Jahre gedauert. Vielleicht wäre das ja David Cameron auch zu lang! Andererseits – Sie haben von den Staaten gesprochen, die mehr Europa wollen –, andererseits gibt es ja durchaus auch Staaten schon mal, die eher weniger Europa wollen, dafür jedenfalls Sympathien haben. In Skandinavien möglicherweise, in den Niederlanden, in Schweden. Wie groß ist die Macht derjenigen, die dafür sind, wie David Cameron, dass Europa eher ein wenig sich zurücknehmen sollte?
    Oettinger: Das, glaube ich, hat Jean-Claude Juncker richtig gesagt: Wir sollten als Europa stark sein bei den großen Aufgaben und zurückhaltend sein bei den kleinen Aufgaben. Und deswegen, nehmen Sie die Ukraine-Russland-Krise: Eine gemeinsame Stimme in die Welt, eine gemeinsame Außenpolitik wird immer notwendiger. Nehmen sie das Thema digitale Revolution: Es hat nur Sinn, mit einer gemeinsamen europäischen Strategie den Wettbewerb mit den Amerikanern und Südkoreanern aufzunehmen. Nehmen Sie Klimaschutz: Zu glauben, dass die Mitgliedsstaaten je einzeln in Paris etwas bewirken, ist schlichtweg abwegig! Eine gemeinsame Position der Europäischen Union von 510 Millionen Menschen, unsere Wirtschaft hat mit Sicherheit Gewicht. Und deswegen, wir müssen abwägen, was auf der Grundlage des bestehenden europäischen Verfassungsrechts europäisch wahrgenommen werden muss. Und dort, wo dies nicht der Fall ist, können wir auch Cameron zusagen, dass wir in den nächsten Jahren keine Verlagerung von Kompetenzen von London nach Brüssel vorhaben.
    Barenberg: Ja, er verlangt ja geradezu eine Rückverlagerung, also, da geben Sie ihm keine Hoffnung, dass er da in der einen oder anderen Frage sich wird durchsetzen können?
    Oettinger: Ich glaube, dafür ist in den Mitgliedsstaaten im Europäischen Parlament, auch der Kommission für formale Zurückverlagerungen keine Bereitschaft da.
    Barenberg: Die Europawahlen, die letzten, haben ja noch etwas anderes gezeigt, Herr Oettinger, nämlich eine große Skepsis, wenn nicht eine Ablehnung bei vielen Menschen in Europa, die gar nicht wollen, dass immer mehr Macht nach Brüssel verlagert wird. Die Erfahrung hat ja auch gezeigt, dass Brüssel ganz gut darin ist, neue Regeln zu erfinden, aber nicht ganz so gut, diese Regeln auch durchzusetzen. Hat da David Cameron nicht auch eine wichtige Entwicklung im Auge, was die Begeisterung, was die Empathie in Europa für dieses Projekt angeht?
    Oettinger: Die Euro-Skepsis hat zugenommen, das stimmt. Aber aus völlig unsinnigen Gründen. In Deutschland zum Beispiel wollen manche, dass wir weniger solidarisch sind Richtung Griechenland, Portugal, Irland. Und in Griechenland und Portugal sind viele gegen die EU, weil wir ihnen zu viele Reformen abverlangen. Das heißt, wir liegen eigentlich in unserer Politik genau in der Mitte dieser Skepsis. Es gibt nicht die Skepsis wegen eines Themas. Es gibt zwischen Reich und Arm, zwischen Groß und Klein, zwischen Nord und Süd zunehmend Differenzen, die müssen wir aushalten. Aber die Antwort kann nicht sein, dass Griechenland einen einzelnen Weg geht, dass Deutschland einen Weg geht, dass die Holländer machen, was sie wollen. Dann würden wir alle in der Welt von morgen keinerlei Bedeutung haben.
    Barenberg: EU-Kommissar Günther Oettinger heute Morgen hier live im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Oettinger!
    Oettinger: Einen guten Tag, auf Wiederhören!
    Barenberg: Ihnen auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.