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Großbritannien
Ein Ministerium leistet Pionierarbeit

Neun Millionen Briten gelten als einsam. Als erstes Land weltweit hat Großbritannien ein Ministerium für Einsamkeit ins Leben gerufen. Seit 2018 koordiniert es die Versuche der Regierung, Menschen aus der Isolation und der Anonymität zu holen.

Von Marten Hahn | 23.12.2019
Ein Werbeschild des Ministeriums für Einsamkeit am Leicester Square in London
Mit Werbeplakate weist das Ministerium auf das Problem der Einsamkeit hin (Deutschlandradio / Marten Hahn)
Es riecht nach Popcorn. Ein großer Bildschirm zeigt den Trailer des neuen Godzilla Films. Aus den Lautsprechern tönt Filmmusik.
Normalerweise finden in dem Kino am Leicester Square Filmpremieren statt. Aber Amy Perrin ist nicht hier, um sich unterhalten zu lassen:"So my name is Amy Perrin and I'm the founder of Marmalade Trust. We launched the UK's Loneliness Awareness Week back in 2017."
Über Einsamkeit reden
Perrin hat vor einigen Jahren die Einsamkeit-Bewusstseins-Woche ins Leben gerufen. Gemeinsam mit anderen Experten und Organisationen gibt sie hier den Startschuss für die diesjährige Kampagne. "Let’s talk loneliness." Lasst uns über Einsamkeit reden.
"Ich habe 15 Jahre für den Gesundheitsdienst NHS gearbeitet und viel Einsamkeit gesehen. Ich habe gesehen, wie sich langanhaltende Einsamkeit auf die Gesundheit auswirkt und habe gemerkt, dass man sich darum kümmern muss."
Seit 2013 kämpfen Amy Perrin und ihr Marmalade Trust gegen die Einsamkeit in Großbritannien. Lange war das ein mühsames Unterfangen. Doch seit einiger Zeit gibt es Unterstützung von ganz oben. Anfang 2018 führte die britische Regierung den Posten der Einsamkeitsministerin ein.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Allein auf der Insel - Großbritannien und die Einsamkeit".
Perrin ist begeistert. Sie hat jahrelang Alarm geschlagen und hinter den Kulissen gewirkt. Dass das Thema politisch Gehör gefunden hat, ist auch ihr Verdienst. Aber Studien zeigen mittlerweile, dass sich ganze neun Millionen Briten einsam fühlen. Kann die Politik das Problem lösen?
"Ich glaube nicht, dass man Einsamkeit ‘lösen’ sollte. Ich glaube, was wir tun müssen ist, anzuerkennen, dass Einsamkeit etwas Normales ist, das wir alle irgendwann einmal durchleben. Die Politik kann dafür sorgen, dass sich das herumspricht."
Das Einsamkeitsministerium soll auch dafür sorgen, dass die Politik der Regierung in London die Sache nicht noch schlimmer macht. Dafür stimmt sich die zuständige Ministerin mit Verantwortlichen aus anderen Bereichen ab, so Perrin:
"So kann sichergestellt werden, dass das Thema in allen Ministerien eine Rolle spielt, vom Verkehrsministerium bis zum Gesundheitsministerium."
Projekte sollen Einsamkeit verhindern
Schließt eine Gemeinde Jugendclubs oder hebt die Preise für den Nahverkehr an, würde das Einsamkeit befördern. Entscheidungen mit solchen Konsequenzen sollen im Voraus erkannt und verhindert werden. Schon jetzt stellt die Londoner Regierung 20 Millionen Pfund zur Verfügung. Das Geld geht an über 120 Projekte im ganzen Land, deren Ziel es ist, Einsamkeit zu lindern. Auch an Amy Perrins Marmalade Trust.
Kerzen brennen vor einem Bild der ermordeten britischen Politikerin Jo Cox.
Die Labour-Politikerin Jo Cox wurde im Vorfeld des Brexit-Referendums im Juni 2016 ermordet (AFP/DANIEL LEAL-OLIVAS)
Es geht nach draußen. Perrin und die anderen Gäste lassen sich unter einem Bildschirm vor dem Kino fotografieren. Über den Köpfen von Touristen und Straßenmusikern bewirbt der riesige Screen die neue Kampagne.
Eine Frau ist allerdings nicht auf dem Foto: Jo Cox, ohne die es wahrscheinlich weder die Kampagne noch den Ministerposten gäbe: "Ich glaube es ist fair, zu sagen, wenn Jo diese Arbeit nicht begonnen hätte, wäre es nicht möglich gewesen, all das so schnell umzusetzen: Die politische Strategie. Die Einsamkeitsministerin."
Die Arbeit der ermordeten Labour-Politikerin Jo Cox weiterführen
Catherine Anderson erinnert an die Politikerin Jo Cox, die 2016 von einem Rechtsradikalen erstochen wurde. Anderson leitet heute die Jo Cox Foundation. Die Organisation macht da weiter, wo die Labour-Abgeordnete aufgehört hat.
"Sie wollte Einsamkeit thematisieren, war dabei eine Minikommission aufzustellen, gemeinsam mit einem Kollegen der Konservativen. Sie hatte das Gefühl, das Einsamkeit in Großbritannien das Ausmaß einer Epidemie erreicht hat. Daran arbeitete sie gerade, als sie ermordet wurde."
Nach dem Tod der Politikerin stellte die Jo-Cox-Stiftung gemeinsam mit anderen Organisationen eine Einsamkeitskommission zusammen. Sie empfahlen der Regierung: eine landesweite Strategie, ein Budget, ressort-übergreifendes Arbeiten und eine Ministerin, die all das koordiniert.
Alles erreicht, sagt Anderson. Und nun?