"Ich habe schon bis zu 40 Personen auf Lastwagen gesehen, aber hier sprechen wir von 15, 16, manchmal bis zu 40 Menschen in kleinen Booten und an manchen Tagen laufen bis zu 17 Boote aus. Das sind gigantische Zahlen."
Kevin Mills arbeitet beim britischen Grenzschutz. Dieser Tage traut der Gewerkschafter oft seinen Augen nicht: Mehr als 200 Personen landen manchmal an einem Tag an der englischen Küste. Mehr als 4000 sind es bislang dieses Jahr und damit mehr als doppelt so viele wie im gesamten letzten Jahr, die von Frankreich aus kommend den Weg über den Ärmelkanal geschafft haben. Geschuldet ist der unerwartete Ansturm dem guten Wetter, der ruhigen See und Schleppern, die die Angst vieler Migranten vor der Verschärfung der Einwanderungsbestimmungen in Großbritannien skrupellos ausnutzen.
Angst vor schärferen Einwanderungsbestimmungen
"Bis zum 1. Januar gelten noch die Bestimmungen des Dublin Abkommens der EU. Danach kann Großbritannien anders vorgehen, aber wir werden nicht so lange warten und schon jetzt diese von Kriminellen ausgenutzte Route völlig dichtmachen."
Darüber sei man sich mit den Franzosen einig, so der für Immigration zuständige Staatssekretär Chris Philip. Gemeinsam mit Frankreich werden nicht nur die Häfen, sondern auch die Küsten kontrolliert. Großbritannien zahlt für drei Dutzend französische Sicherheitskräfte. Jetzt wurde auch eine eigene binationale zwölfköpfige Taskforce eingesetzt.
Dennoch bleiben Zweifel, ob der Einwanderungsstrom gebremst werden kann. Diejenigen, die es über den Ärmelkanal schaffen, sind allerdings nur ein verschwindend kleiner Teil der Migranten. Per Saldo kamen rund 280.000 Personen auf die Insel. Zusätzlich suchten 49.000 Menschen Asyl, nur etwa ein Drittel so viele wie in Deutschland beispielsweise. Generell hat sich die britische Regierung unter Boris Johnson jedoch auf die Fahnen geschrieben, die Einwanderung spürbar zu drosseln – das war jedenfalls ein Versprechen der Brexit Befürworter! Gelingen soll das nun durch ein Punktesystem. Innenministerin Priti Patel:
Migranten für die "hocheffiziente und produktive Wirtschaft"
"Ziel ist es ein von der britischen Regierung kontrolliertes globales Einwanderungssystem aus einem Guss zu schaffen. Wir werden die Zahlen reduzieren, indem wir weniger gering Qualifizierte ins Land lassen und nicht mehr Teil des freien Personenverkehrs der EU sind. Wir dürfen nicht mehr nur auf gering qualifizierte, billige Arbeitskräfte aus der EU bauen, von denen wir durch unsere EU Mitgliedschaft abhängig geworden sind. Unser Punktesystem will die Intelligentesten und Besten, die wir für unsere hocheffiziente und – produktive Wirtschaft brauchen."
70 Punkte braucht ein Bewerber, um einwandern zu dürfen: 20 gibt es, wenn er einen Arbeitsplatz nachweist, 20 für gute berufliche Qualifikation, 10 Punkte für Englischkenntnisse. Wer garantiert 25.600 Pfund im Jahr verdient bekommt weitere 20 Punkte und erreicht somit die Mindestzahl von 70 Punkten. Für einen Doktortitel gibt es ebenfalls 10, bzw. 20 Punkte je nach Fachrichtung etc.
"Ich habe wenig Vertrauen in die Fähigkeit der Regierung ein solides Punktesystem zu schaffen – zum einen, weil sie zu ignorieren schien, dass es bereits eins gab, und dass das von der Labour Regierung 2008 eingesetzte System ziemlich genau dem entsprach, was sie plante und über das sie seit fünf Jahren redet. Eine größere Anpassung ist natürlich, das existierende System auf EU Bürger auszudehnen,"
kritisiert Professor Thom Brooks, Spezialist für Migrationspolitik an der University of Durham. Viele Kategorien im Punktesystem müssen noch definiert werden. Die Gefahr besteht zudem, dass durch die Festlegung der Jahreseinkommensgrenze, einige Sektoren wie die Pflege nicht die Arbeitskräfte finden, die sie dringend benötigen.
"Es gibt sehr viele Menschen, die zu uns kommen und hart arbeiten und viele Überstunden machen, weil sie Geld nach Hause schicken. Diese Arbeitskräfte werden schwer zu ersetzen sein."
Ein Wirrwarr an Einwanderungsbestimmungen
Sagt Pflegeheimbetreiber Michael Rose. Das wegen Corona darniederliegende Hotel- und Gaststättengewerbe wird im Falle einer Erholung auch Probleme haben, Personal zu finden. Für den nationalen Gesundheitsdienst NHS soll es allerdings eine Sonderregelung geben. Statt eines Systems aus einem Guss, droht insgesamt jedoch ein Wirrwarr an Einwanderungsbestimmungen, denn, so Thom Brooks:
"Im zweiten Absatz des Gesetzentwurfes steht, dass die Punkte länderspezifisch variieren können je nachdem ob Handelsabkommen geschlossen werden. Wenn Großbritannien also ein Handelsabkommen mit Deutschland, Indien, China, den USA oder einem anderen Land schließt, dann wird die Immigrationspolitik eine andere sein als für den Rest."
Thom Brooks zweifelt, dass es am 1. Januar ein wirkungsvolles Einwanderungssystem geben wird, nicht nur, weil das Punktesystem unausgegoren scheint. Auch der Familiennachzug muss geklärt und mit der EU müssen Abkommen über Rückführung und Abschiebung von illegalen Einwanderern geschlossen werden. Im Zweifel dürfte alles in einer Verschärfung nicht nur der Einwanderungs-, sondern auch der Asylbestimmungen münden.