Gab es vor mehr als 30 Jahren in Westminster einen Kinderschänderring mit Verbindungen in höchste politische Kreise? Aufgedeckt haben will ihn der 1995 verstorbene konservative Abgeordnete Geoffrey Dickens. Gegenüber dem "Daily Express" behauptete Dickens schon 1983, er kenne die Namen von acht Betroffenen, wirklich prominenten Politikern, die pädophil seien. Gegenüber seinem Sohn sprach er von einer Zeitbombe, die er hochgehen lassen wolle. Er habe die Informationen und Aussagen von Opfern in einem 40-Seiten-Dossier zusammengefasst und Leon Brittain, dem damaligen Innenminister Maggie Thatchers und späteren EU-Kommissar übergeben. Letzte Woche hat Sir Leon den Erhalt des Dossiers bestätigt und sich verteidigt, er habe es damals an seine Beamten weiter geleitet.
Der Labour-Innenpolitiker Simon Daczuk:
"Die Stellungnahme von Leon Brittain ist enttäuschend. Die Wahrheit ist doch, dass er sich mit Dickens, einem bekanntes Mitglied seiner eigenen Partei, der sich gegen Pädophilie engagierte, getroffen und von ihm ein Dossier mit Beschuldigungen gegen verschiedene Leute erhalten hat. Und das hat er dann einfach an seine Beamten weitergereicht und vergessen."
Eine erste interne Untersuchung des Innenministeriums im vergangenen Jahr kam zu dem Schluss, dass das Pädophilenring-Dossiers glaubwürdig war und Potenzial für Strafverfolgung enthielt, aber auch, dass sich Leon Brittain korrekt verhalten habe. Unklar ist dennoch, warum damals kein Verfahren eingeleitet wurde, warum Geoffrey Dickens nicht Alarm schlug, als seine Zeitbombe nicht explodierte und warum das Dossier anschließend verschwunden ist. Lord Norman Tebbit, seinerzeit Brittains Kabinettskollege und Ex-Vorsitzender der Konservativen, erklärt das heute zum Teil damit, dass Dickens den Ruf eines Spinners hatte:
"Er wurde von vielen als jemand angesehen, der immer über die eigenen Füße fiel. Außerdem: zu jener Zeit haben die meisten geglaubt, dass das Establishment, das System, geschützt werden müsse. Auch wenn einige kleinere Dinge hier und dort falsch liefen, war es wichtiger, das System zu schützen."
Jungen aus Kinderheim missbraucht?
In Dickens Dossier soll der Name des BBC-Moderators und vielhundertfachen Kinderschänders Jimmy Saville auftauchen, ebenso wie die Namen von Politikern aller Parteien, die in einem Gasthaus im Südwesten Londons verkehrten und dort minderjährige Jungen aus einem nahe gelegenen Kinderheim missbraucht haben sollen.
Letzten Monat ist Sir Leon Brittain von Scotland Yard zur Vernehmung vorgeladen worden und vor wenigen Tagen verlangte Premierminister David Cameron vom Innenministerium Aufklärung, wieso das Dossier verschwunden ist.
"Ich kann die Sorgen der Menschen über die Geschehnisse vor über 30 Jahren verstehen. Deswegen sind Nachforschungen richtig, aber wir dürfen nichts tun, was Polizeiermittlungen beeinträchtigt. Wenn irgendwer irgendwelche Informationen über kriminelles Verhalten hat, sollte er es der Polizei melden."
Inzwischen musste das Innenministerium einräumen, dass nicht bloß dass Dossier, sondern über 100 Akten mit Hinweisen auf den Pädophilieskandal verschwunden sind. Lord Tebbitt will eine gigantische Vertuschungsaktion nicht ausschließen:
"Das mag geschehen sein. Aber fast unbewusst, es war üblich, das zu jener Zeit so zu machen. Man redete nicht über solche Dinge."
Heute aber verlangen immer mehr Abgeordnete eine unabhängige Aufklärung der Vorgänge. Keith Vaz, mächtiger Vorsitzender des Innenausschusses, erklärt:
"Lasst uns jemanden außerhalb von Whitehall und Westminster beauftragen, der eine umfassende Untersuchung durchführt. 114 Akten zu vermissen, ist ja schon ein Verlust im industriellen Ausmaß. Wir kennen immer wieder Fälle, wo einzelne Pässe oder Akten verschwinden. Aber nicht so viele. Wir brauchen jetzt eine unabhängige Persönlichkeit, wir brauchen seinen Namen und einen Zeitplan, so schnell wie möglich."