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Großbritannien
"Es wird einen Stimmungswechsel in Richtung Boris Johnson geben"

Nach der Rücktrittsankündigung von Theresa May würden die Konservativen Boris Johnson am ehesten zutrauen, ihre Nachfolge anzutreten, sagte die britische Journalistin Anne McElvoy im Dlf. Mit Johnson werde ein "No Deal" wahrscheinlicher – auch wenn das Parlament dagegen sei.

Anne McElvoy im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
Boris Johnson (l.) und Theresa May
Der ehemalige Londoner Bürgermeister und frühere Außenminister Boris Johnson wird als heißer Kandidat auf die Nachfolge von Theresa May gehandelt (imago images / i Images)
Dirk-Oliver Heckmann: Zugehört hat Anne McElvoy. Sie ist Senior Editor des britischen Wochenmagazins "The Economist". Schönen guten Tag, Frau McElvoy.
Anne McElvoy: Guten Morgen hier!
Heckmann: Hat sich Theresa May gründlich verspekuliert?
McElvoy: Ja. Theresa May hat heute eigentlich zugegeben, dass sie falsch kalkuliert hat. Sie hat versucht, einen Kompromiss innerhalb ihrer Partei und im Parlament zu finden, und sie ist gescheitert. Und sie hat das auch ziemlich klar gesagt. Das muss man ihr zugeben. Sie hat gesagt, ihr Nachfolger muss einen Kompromiss finden, wo ich diesen Kompromiss nicht finden konnte. Sie hat, glaube ich, damit auch wiederholt betont, wie schwierig das sein wird, auch wenn sie nicht mehr da ist und ein anderer, um auf die Nachfolgefrage zu sprechen zu kommen, wenn er oder vielleicht sie da ist.
Heckmann: Dazu kommen wir später noch. Aber ich möchte zunächst noch ein bisschen bei Theresa May bleiben. Als was wird sie denn aus Ihrer Sicht in die Geschichte eingehen: Als jemand mit Steherqualität, die versucht hat, den Willen der Bevölkerung umzusetzen, den Brexit, oder als jemand, der sich verrannt hat?
May ist an ihren zahlreichen Gegnern gescheitert
McElvoy: Ich glaube, so schlecht das jetzt auch aussieht, denn sie ist gescheitert in ihrer Aufgabe, den Brexit zu liefern. Man muss sich daran erinnern: Sie hat ja selber nicht für den Brexit gestimmt. Sie hat für den Verbleib gestimmt damals in 2016. Sie hat versucht, aus diesem gespaltenen Land dann irgendwie ein Way-out zu finden, indem sie versucht hat, einen wie auch immer gearteten Brexit durchzukriegen. Und das war vielleicht das Problem. Sie hat am Anfang gesagt, wir bräuchten vielleicht eher einen härteren Brexit, weil das war dann tatsächlich ein Nein. Die Nein-Stimmen haben ja bekanntlich gewonnen in diesem Referendum. Das musste man respektieren.
Später hat sie versucht, durch dieses sogenannte Chequers-Agreement oder Chequers-Herangehensweise zu sagen, wir nehmen vor allem Dinge wie Nordirland und verschiedene sehr schwierige Fragen, die mit dem Brexit technisch zusammenhängen. Sie wollte das dann vielleicht eher nuancieren. Sie befand sich dann irgendwie in einem Niemandsland und es war fast niemand mit Theresa May zufrieden. Sie wird ja nicht als eine erfolgreiche Premierministerin in die Geschichte eingehen, aber sie hat versucht durchzustehen, und diese Qualität hat man ein bisschen heute gesehen. Sie wollte zeigen, sie hält sich bei der Stange, sie hat versucht, irgendetwas zu liefern. Das war sozusagen die Stärke, aber zugleich auch ihre Schwäche.
Heckmann: Was war ihr Hauptfehler? Hat sie zu wenig kommuniziert? Hat sie zu wenig versucht, Bündnisse zu schmieden? Oder ist sie einfach nur gescheitert an ihren zahlreichen Gegnern?
McElvoy: Sie ist vor allem gescheitert an ihren zahlreichen Gegnern. Da haben Sie völlig recht. Sie hat sowohl Brexit-Hardliner in ihrer eigenen Partei, die gegen diesen Deal gewettert haben. Sie wollte das ein viertes Mal versuchen. Ich habe ein Interview mit Jacob Rees-Mogg, diesem führenden Brexitier in der Partei gehabt. Er hat mir vorgestern gesagt: Nein, jetzt würde er absolut diesen Deal ein viertes Mal ablehnen. Beim dritten Mal hat er ein bisschen gewackelt. Das heißt, von diesem Flügel der Partei hat sie überhaupt keine Hilfe gefunden.
Man muss ja auch sagen: Nicht zuletzt von EU-freundlichen Abgeordneten und vor allem in der Labour-Partei, wo man vielleicht gedacht hätte, sie würden sagen, okay, wir müssen das dann irgendwie liefern, da sind auch zu viele, die vielleicht die Hoffnung noch hegen, dass sie ein zweites Referendum kriegen, und wollten diesen Kompromiss nicht eingehen.
"Schwierig, einen Weg an Boris Johnson vorbei zu finden"
Heckmann: Alle Seiten tragen da eine Mitverantwortung. - Wir haben gerade schon kurz die Nachfolgefrage angetippt. Wer wird ihr denn nachfolgen? Boris Johnson wird ja jetzt immer als erstes genannt. Führt ein Weg an ihm vorbei?
McElvoy: Ich glaube, es ist schwierig, einen Weg an Boris Johnson vorbei zu finden. Vor allem, weil die Ergebnisse bei der europäischen Wahl, die gerade eben erst stattgefunden hat, für die Tories, für die Konservativen verheerend sein werden. Und es gibt auch vier Abgeordnete, die Boris nicht unbedingt wollen. Boris ist natürlich ein Charakter, larger than life, aber manchmal auch sehr schwierig. Auf ihn ist manchmal kein Verlass. Wenigstens in der Vergangenheit war das so.
Heckmann: Sprunghaft!
McElvoy: Aber sie finden, vielleicht ist er in diesem Moment der einzige, der gegen Labour kandidieren könnte und gewinnen könnte. Es wird jetzt, glaube ich, einen Stimmungswechsel in der Partei in Richtung Boris Johnson geben.
Heckmann: Boris Johnson stand ja immer und steht für einen harten Brexit, einen Brexit ohne Übereinkommen, ohne Vertrag. Was würde das für die Brexit-Politik der Insel bedeuten, wenn er ans Ruder käme?
McElvoy: Ich würde das bestreiten, denn ich glaube, Boris ist auch manchmal sehr schlau und flexibel, flexibler als er mit diesen Sprüchen andeutet. Er wird versuchen, noch mal zu verhandeln. Auf jeden Fall wird er nicht sofort einen "No Deal" für sich in Kauf nehmen.
Boris Johnson "vielleicht nicht unterschätzen"
Heckmann: Da sagen die Europäer, kommt nicht in Frage.
McElvoy: Entschuldigung?
Heckmann: Da sagen die Europäer, das kommt nicht in Frage.
McElvoy: Wollen wir mal sehen, was in Frage kommt. Die Zeiten ändern sich ja sehr schnell. Wenn Sie sagen Europäer - ich bezeichne mich ja auch noch irgendwie als Europäerin. Wir verlassen ja nicht den Kontinent. Boris Johnson wird das versuchen. Er wird auch sagen: Okay, wenn es soweit ist, wird er versuchen, einen sogenannten geordneten "No Deal" einzuleiten, was vielleicht auch im Sinne von Angela Merkel und der Position in Berlin nicht außer Frage kommt. Denn Deutschland, und ich denke auch zurecht, tritt nach wie vor dafür ein, auch wenn es zu einem "No Deal" kommt, dass das nicht ein chaotischer "No Deal" wird.
Ein "No Deal" liegt absolut auf der Hand. Aber ich glaube nicht, dass Boris Johnson am ersten Tag sagen wird, okay, sofort raus. Es kann kommen was sein mag. Er wird versuchen, vielleicht ein bisschen schlauer an die Sache heranzugehen. Denn er versteht seine eigene Partei sehr gut. Und wenn er versucht, Premierminister zu werden und zu bleiben, muss er auch selber eine gewisse Flexibilität zeigen. Ich würde ihn vielleicht nicht unterschätzen.
Neuwahlen eher wahrscheinlich als zweites Referendum
Heckmann: Ein "No Deal" liegt auf der Hand, sagten Sie gerade, wenn auch ein geordneter womöglich. Aber das Parlament hat sich ja eindeutig gegen ein "No Deal" ausgesprochen. Das heißt, da steuert die Insel wieder auf einen schweren Konflikt zu?
McElvoy: Ja, das kann gut sein. Ich würde sagen, in dieser Zeit rät man immer dazu zu sagen, das Parlament hat für das und das gestimmt. Es gibt im Parlament eine Mehrheit für ganz und gar nichts, und jetzt haben wir keinen Premierminister mehr. Insofern sieht morgen und übermorgen und sehen die Wochen, die auf uns zukommen, ein bisschen anders aus als vorher.
Das Parlament als Ganzes ist sehr stark gegen "No Deal" gerichtet. Es kann sein, dass es dann einen absoluten Konflikt gibt und es dann zu Neuwahlen kommt. Das ist gut möglich, vielleicht eher möglich als ein zweites Referendum, wo es auch keine Mehrheit dafür gibt und auch die Frage unklar ist. Ein "No Deal", weil das Parlament das nicht will, ist keine Begründung zu denken, dass es nicht möglich ist.
Heckmann: Eine Frage würde ich gerne noch los werden, ein bisschen mittelfristiger gedacht. Die Brexit-Partei von Nigel Farage wird ja laut Umfragen stärkste Kraft bei den Europawahlen. Steht Großbritannien vor dem Ende des traditionellen Parteiensystems mit ursprünglich zwei großen Parteien?
McElvoy: Nein, ich glaube nicht. Vor allem das Wahlsystem ist ja bekanntlich anders in Großbritannien. 40 Prozent bei den Europawahlen heißt noch lange nicht, dass man viele Abgeordnete kriegt in einer großen Wahl. Aber ich glaube, die Frage und der Sinn Ihrer Frage ist ganz richtig. Diese Parteienlandschaft zersplittert hier bei uns auch vielleicht nicht anders als in europäischen Ländern. Das muss man ja auch sagen. Aber hier ist es natürlich besonders brisant wegen Brexit.
Und wenn ein wie immer gearteter Brexit nicht kommt oder nicht geliefert wird, dann glaube ich schon, dass Nigel Farage und die Kräfte einer absolut starken Brexit-Partei vielleicht an Kraft gewinnen. Wenn wir dann doch irgendwie so einen halben Brexit oder einen Weg zum Brexit finden können, dann passiert das nicht mehr, weil das wirklich eine Ein-Thema-Partei ist. Wenn man Angst vor Farage hat, dann muss man sich daran erinnern, dass das wirklich ein Kandidat ist, der nur ein Thema hat, und das ist der Brexit.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu