Archiv

Großbritannien-Experte zu Johnson
"Er versucht zu bluffen und die EU umzustimmen"

Mit seiner Kabinettsumbildung habe der neue britische Premierminister Boris Johnson bereits erste Duftspuren gesetzt, sagte Gerhard Dannemann vom Großbritannien-Zentrum der HU Berlin im Dlf. Ob Johnson wirklich einen harten Brexit wolle, wisse man nicht genau. Um diesen durchzusetzen, könnte er mit Neuwahlen drohen.

Gerhard Dannemann im Gespräch mit Peter Sawicki |
Boris Johnsons, Großbritanniens neuer Premierminister und Tory-Vorsitzender am 24. Juni 2019
Der neue britische Premierminister Boris Johnson setze bereits die ersten Duftspuren, sagte Gerhard Dannemann vom Großbritannien-Zentrum der Humboldt-Universität Berlin im Dlf (picture alliance / Matrixpictures)
Peter Sawicki: Das großartigste Land soll Großbritannien bald werden, so das Ziel von Boris Johnson, dem neuen Regierungschef dort, also ganz im Stil von Donald Trump. Voraussetzung dafür ist aus Sicht Johnsons der Austritt aus der EU, diesen werde es Ende Oktober definitiv geben – notfalls ohne Abkommen mit Brüssel. Das hat Johnson gestern noch einmal betont in seiner ersten Rede als Premier im Parlament. Zuvor hatte er die erste Sitzung seines neuen Kabinetts geleitet, an dessen Zusammenstellung es aber viel Kritik gibt. In welche Richtung bewegt sich die Regierung Johnson und wie stabil ist sie überhaupt? Das fragen wir Gerhard Dannemann, er arbeitet am Großbritannien-Zentrum der Humboldt-Universität Berlin. Schönen guten Morgen, Herr Dannemann!
Gerhard Dannemann: Guten Morgen!
Sawicki: Boris Johnson ist jetzt ungefähr eineinhalb Tage im Amt, und das Vereinigte Königreich ist noch nicht untergegangen. Ist das ein gutes Zeichen?
Dannemann: So schnell geht das Vereinigte Königreich nicht unter, auch nicht durch einen harten Brexit, aber wir sehen jetzt, dass Boris Johnson die ersten Duftspuren setzt als Premierminister. Es waren jetzt tatsächlich einige überrascht, wie viel von seinen alten Freunden und Bekannten aus der Kampagne zum Austritt er mit in die Regierung gebracht hat, und vor allem, wenn er auch alles hat fallen lassen. Das sieht schon sehr danach aus, dass er den rechten Flügel der Tories sehr gut eingebunden hat und die harten Brexiteers sehr gut eingebunden hat, aber die anderen halt nicht.
"Kabinett der Hölle ist es nicht"
Sawicki: Ja, die SNP, die schottische Nationalpartei, spricht von einem Kabinett der Hölle. Stimmen Sie zu?
Dannemann: Nein, Kabinett der Hölle ist es nicht, aber er meint, einen der Fehler von Theresa May dadurch vermeiden zu können, weil ob es wirklich ein Fehler war – Theresa May hat versucht, alle Seiten der Tory-Parteien in ihr Kabinett mit einzubinden und hat damit natürlich Schwierigkeiten gehabt, Mehrheiten im Kabinett glaubwürdig herzustellen. Aber Boris Johnson hat damit ein anderes Problem, nämlich dass er den größeren Teil derjenigen ausschließt, die mehr in der Mitte anzusiedeln sind, und dadurch seine sehr, sehr knappe Mehrheit im Parlament weiter gefährdet. Das heißt, er wird eine effektive Regierung haben, die als Regierung einigermaßen geschlossen auftritt, die aber im Parlament keine Mehrheit hat.
Sawicki: Schauen wir doch mal kurz auf die einzelnen Personen, die ja zum Teil sehr scharf kritisiert werden, die jetzt im Kabinett sitzen. Was sind das für Leute, welcher Kurs in den wichtigen Ressorts wird da verfolgt?
Dannemann: Ja, also von der Mitte argwöhnisch betrachtet wird die Ernennung der Innenministerin Priti Patel, die noch im Jahre 2011 die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert hat – davon ist sie allerdings inzwischen abgerückt. Die kritischste Personalie ist vielleicht nicht mal im Kabinett, sondern fungiert als ein enger Berater, das ist Dominic Cummings, der seinerzeit die strategische Leitung der Austrittskampagne übernommen hat, in der er sich zuletzt beim Parlament einen ganz schlechten Ruf eingehandelt hat, weil er einfach einer Vorladung nicht gefolgt ist und behauptet hat, das habe er nicht nötig, dem Parlament Auskunft zu geben. Ansonsten sind auch einige im Kabinett drin, die im vorherigen waren, aber mehr als die Hälfte ist ausgetauscht worden. Ganz besonders unerwartet war, dass auch Brexit-Befürworterinnen wie die Verteidigungsministerin Penny Mordaunt ausgeschieden ist. Ihr hat Johnson wohl nachgetragen, dass sie den Gegner Jeremy Hunt unterstützt hat. Das sieht auch ein bisschen nach persönlichem Racheakt aus.
Dannemann: Johnson setzt andere Akzente als seine Vorgängerin
Sawicki: Sie haben die Duftspuren erwähnt, die er jetzt personell hinterlassen hat. Wenn man auf die erste Rede im Parlament blickt, was bleibt da besonders bei Ihnen hängen?
Dannemann: Ja, er setzt auch dort einige andere Akzente als seine Vorgängerin. Theresa May war sehr, sehr hart, was Einwanderung betraf und hielt auch an dem Ziel fest, die Einwanderung unter 100.000 pro Jahr zu halten. Das hat er gleich aufgegeben, er will sich großzügiger, sagt er, als Theresa May um die 3,2 Millionen EU-Bürger bemühen, die sich im Land befinden, und ihnen gleiche Rechte zukommen lassen, ist dabei allerdings sehr vage geblieben. Er hat aber vor allem noch mal betont, dass das Land auf jeden Fall zum 31. Oktober aus der EU aussteigen wird, allerdings hat er kein bisschen Detail dazu angegeben, wie er das nun bewerkstelligen will.
Sawicki: Glauben Sie, dass er das ernst meint, einen Brexit notfalls ohne Abkommen?
Dannemann: Ja, er muss zumindest sehr glaubwürdig zu bluffen und ist inzwischen von einer Regierung umgeben, in der sehr viele drinsitzen, die das als Hauptziel sogar ansehen. Da sind eine ganze Reihe von Brexiteers: Jacob Rees-Mogg, auch der deutschen Öffentlichkeit inzwischen bekannt geworden, ist jetzt Leader of the House of Commons geworden, also sozusagen ein Chef aller Parlamentarier, der sitzt mit im Kabinett, Dominic Raab, ehemals Brexit-Sekretär. Da sind eine ganze Reihe von Leuten, die genau das wollen. Ob Boris Johnson das wirklich auch will, weiß man noch nicht so genau, aber es könnte natürlich einen Automatismus dahin geben, wenn das Parlament ihm nicht sozusagen in die Arme fällt und ihn daran hindert und einen Mechanismus dafür findet, es auszuschließen, dass Großbritannien ohne einen Deal aussteigt. Der Machtkampf, der wird im September stattfinden.
Sawicki: Und gestern hat Boris Johnson ja dann eben auch noch mal darauf hingewiesen, dass er auf Nachverhandlungen setzt. Hat er aus Ihrer Sicht irgendwie zu erkennen gegeben, was praktisch möglich wäre – aus seiner Sicht?
Dannemann: Nein, er setzt darauf, dass die EU das exakte Gegenteil von dem macht, was sie immer gesagt hat, nämlich dass man den irischen Backstop, diese Notfallauffangslösung für Irland, nicht einfach weglassen kann, dass man auch vieles andere nicht anders regeln will, als es in diesem Übereinkommen drinsteht, und dass man eigentlich nur über Änderungen in dieser politischen Absichtserklärung verhandeln will. Darüber geht er einfach hinweg. Die Strategie, die vorher auch schon harte Brexiteers verfolgt waren, das glauben wir nicht, die werden im letzten Moment schon nachgeben. Das allerdings hat schon mehrfach nicht funktioniert, deswegen sitzen wir ja schon in der zweiten Verlängerung. Ob Boris Johnson wirklich glaubt, dass die EU ihre Position dazu ändert, das ist eine andere Frage, und die kann ich nicht beantworten, möglicherweise glaubt er das selber nicht.
Sawicki: Und die Drohung, die er jetzt auch noch mal wiederholt hat, dass er die sogenannte Austrittsrechnung nicht bezahlen würde, ist das sozusagen noch ein Hebel, den er in der Hand hat gegenüber Brüssel?
Dannemann: Ja, das versucht er natürlich, wobei von den 39 Milliarden einiges sowieso nicht zu zahlen wäre, wenn es keine Übergangsphase gibt. Das sind sozusagen Beiträge für die weitere Zeit des Übergangs, die würden ohnehin nicht fällig bei einem harten Ausscheiden, aber da sind viele Sachen drin, für die Großbritannien zweifelsohne haften würde. Wer soll denn beispielsweise die Pensionen für die vielen britischen EU-Abgeordneten zahlen, wie zum Beispiel Nigel Farage, wer soll die Kosten dafür zahlen, dass jetzt noch die zwei EU-Agenturen in Großbritannien, deren Mietverträge abgewickelt werden müssen? Da ist sehr, sehr viel drin, wo man sich nach, ja, Völkerrecht zumindest einer Verpflichtung gar nicht entziehen kann. Aber das wird man auch noch sehen.
"Das will doch kein Tory, dass Jeremy Corbyn gewinnt"
Sawicki: Und Sie haben ja schon angesprochen, dass die Tory-Fraktion da durchaus nicht unbedingt fest hinter Boris Johnson steht. Wie würde denn die Situation im Parlament aussehen, wenn dann die EU hart bleibt?
Dannemann: Also ich denke, erst mal probiert er das. Er versucht zu bluffen und die EU umzustimmen, und anschließend versucht er zu bluffen und noch mal das Parlament umzustimmen. Und der Hebel, der bei den Tories angesetzt wird, wenn ihr mich jetzt nicht unterstützt, den harten Ausstieg nicht unterstützt, dann gibt es Neuwahlen, und dann wird Jeremy Corbyn gewinnen, und das will doch kein Tory, dass Jeremy Corbyn gewinnt. Das ist gar nicht mal so sicher, weil die persönlichen Umfragewerte für Jeremy Corbyn auch nicht so toll sind. Der neue Star am Horizont sind die Liberaldemokraten, die sich ganz klar gegen einen Austritt ausgesprochen haben, und deren jugendliche, neu frisch gewählte Parteivorsitzende Jo Swinson. Insofern ist das noch sehr offen, ob auch diese Drohung wirken wird. Es sind aber die Anzahl derjenigen, die sich gegen einen harten Brexit wenden werden, unter den Tories gestiegen durch diese Ernennung im Parlament. Er hat halt auch einige Leute vor den Kopf gestoßen, bei denen das nicht unbedingt notwendig gewesen wäre, die mit ihm noch hätten stimmen müssen, wenn sie in die Kabinettsdisziplin eingebunden wären – das sind sie aber nicht. Insofern denke ich, ist die Anzahl derjenigen, die gegen einen harten Austritt stimmen, eben halt keinen Deal, größer geworden. Bei der letzten Abstimmung gab es eine Mehrheit von 40 Abgeordneten, die sich gegen ein Ausscheiden ohne ein Abkommen ausgesprochen haben.
Sawicki: Und nun hat man aber auch gesehen, in den letzten Wochen war eine Mehrheit der Briten regelmäßig für einen Verbleib in der Europäischen Union – nicht deutlich, aber zumindest hat sich da sozusagen die Stimmung so ein bisschen gewandelt.
Dannemann: Nein, das war eher demografisch, da ist ein bisschen Stimmungswandel drin. Aber Sie müssen bedenken, dass von den 17,4 Millionen, die vor über drei Jahren für einen Ausstieg gestimmt haben, über eine Million tot ist. Die sind ersetzt worden durch die damals 15- bis 17-Jährigen, die überwiegend für einen Verbleib sind. Es gab auch ein bisschen Stimmungsänderung, aber eben halt nicht dramatisch, das ist auffällig.
Sawicki: Würden Sie Johnson zutrauen, wenn er spüren würde, dass die Stimmung sich wandelt, dann plötzlich doch für ein zweites Referendum einzutreten?
Dannemann: Johnson ist in der Lage, unglaubliche Kehrtwendungen zu vollziehen, wenn er es für opportun und für richtig hält, allerdings gehen ihm dann in diesem Moment alle Stimmen am anderen Ende der Tory-Partei verloren, und das sind auch nicht wenige. Die harten Brexiteers in der Partei sind nicht einfach zu zählen, aber ich würde mal denken, so etwa 90 zählen dazu, und 50 von denen würde er sicher sofort verlieren, wenn er von dem harten Kurs abrückt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.