Neuwahlen am 12. Dezember - Ausgangslage
Der Ausgang der Parlamentswahlen im Dezember könnte große Auswirkungen auf den weiteren Brexit-Prozess haben - je nachdem, welche Mehrheitsverhältnisse entstehen. Sowohl die konservativen Tories von Premier Johnson als auch die oppositionelle Labour-Partei und die Liberaldemokraten versprechen ihren Wählern im Falle eines Wahlsieges ein Ende des Brexit-Chaos, allerdings mit sehr unterschiedlichen Ansätzen.
Umfragen sehen Johnsons Tories seit Wochen in der Wählergunst weit in Front. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov von Ende November könnten die Konservativen auf eine Mehrheit von 68 Sitzen kommen. Demnach bekämen die Tories 359 von 650 Sitzen - 42 mehr als bei der vorangegangenen Wahl 2017. Labour würde dagegen nur noch 211 Sitze und damit 51 weniger als zuletzt erhalten. Die Schottische Nationalpartei (SNP) käme auf 43 Sitze (plus acht), die EU-freundlichen Liberaldemokraten erhielten nur einen Sitz mehr als bisher und wären mit lediglich 13 Sitzen nur vierstärkste Kraft.
Auch in anderen Umfragen lagen die Tories zuletzt deutlich vorn. Manche Analysten wiederum halten das Wahlergebnis für kaum vorhersehbar, weil traditionelle Parteipräferenzen angesichts der Brexit-Frage in den Hintergrund träten und nach drei Jahren Ringen um den EU-Austritt unklar sei, wie sich die Wähler verhalten werden. Zudem sind Wahlprognosen in Großbritannien wegen des Mehrheitswahlrechts schwierig. Denn nur wer in einem der 650 Wahlkreise die Mehrheit holt, bekommt auch den entsprechenden Sitz. Alle anderen Stimmen verfallen. Das heißt, sie sind für das landesweite Gesamtergebnis einer Partei bedeutungslos.
Wahlziel der Tories
Premierminister Johnson erhofft sich durch die Wahl eine klare Mehrheit seiner Tories im Parlament, mit der er das Land dann mit seinem Brexit-Deal spätestens am 31. Januar aus der Europäischen Union führen kann. Falls eine Ratifizierung des Austrittsabkommens vorher gelingt, wäre laut der Vereinbarung mit der EU auch ein früherer Brexit möglich. Ein No-Deal-Brexit scheint dagegen vom Tisch. Zumindest haben die Tories angekündigt, im Wahlkampf auf entsprechende Drohungen zu verzichten. Der Schritt wird als Zugeständnis an gemäßigte Wähler gewertet, die einen Brexit befürworten, die EU aber nicht ohne Vertrag verlassen wollen.
Für Johnson ist der Urnengang nicht ohne Risiko, wie das Beispiel seiner Vorgängerin zeigt: May hatte sich 2017 mit einer vorgezogen Neuwahl verzockt und ihre knappe Mehrheit im Parlament verspielt. Ob es für Johnson am 12. Dezember wirklich zu einer neuen Mehrheit reicht, ist derzeit völlig unklar. Zumal ihm Konkurrenz von den Hardlinern der Brexit-Partei droht und er sein wichtigstes Versprechen an die Brexiteers bereits gebrochen hat: "Komme, was wolle", werde er das Land am 31. Oktober aus der EU führen, hatte er angekündigt. Lieber wolle er "tot im Graben" liegen, anstatt eine Verlängerung der Austrittsfrist zu beantragen.
Wahlziel der Labour-Party
Labour-Chef Jeremy Corbyn hat angekündigt, im Falle eines Wahlsiegs binnen sechs Monaten ein weiteres Brexit-Abkommen mit EU aushandeln zu wollen. Corbyn strebt eine enge Bindung an die EU in Form einer Zollunion an. Anschließend sollen die Briten dann die Möglichkeit erhalten, in einem weiteren Referendum zwischen diesem Abkommen und einem Verbleib in der Europäischen Union entscheiden zu können.
Um eine Mehrheit zu erreichen, setzt Corbyn auch auf innenpolitische Themen wie beispielsweise das Gesundheitssystem. Der Labour-Chef wirft Johnson in diesem Zusammenhang einen Ausverkauf britischer Interessen an US-Präsident Donald Trump vor. Entgegen Johnsons Behauptungen würden US-Unternehmen in einem "Trump-artigen Handelsdeal" nach dem Nationalen Gesundheitssystem greifen, behauptet Corbyn.
Wahlziel der Liberaldemokraten
Die Liberaldemokraten, die im Moment nur 20 der 650 Sitze im Unterhaus halten, werben mit einer kompletten Abkehr vom Brexit. Sie hoffen auf ein politisches Erdbeben und haben zudem ein Bündnis mit zwei kleineren Parteien geschmiedet. Gemeinsam mit den Grünen und der walisischen Partei Plaid Cymru wollen die Liberalen einen höheren Anteil von EU-Befürwortern im künftigen britischen Parlament erreichen.
Die Beteiligung an einer Koalition mit den Tories oder Labour schloss die Chefin der Liberaldemokraten, Jo Swinson, aus. Ihrer Ansicht nach sind weder Johnson noch Corbyn für das Amt des Premierministers geeignet. Swinson will daher selbst Regierungschefin werden. Angesichts des britischen Mehrheitswahlsystems werden ihr aber kaum Chancen gegeben.
Wahlziel der Brexit-Partei
Die Brexit-Partei des radikalen EU-Gegners Nigel Farage fordert einen EU-Austritt ohne Vertrag. Das von Premierminister Johnson ausgehandelte Brexit-Abkommen lehnt Farage ab, weil es Großbritannien weiter an die EU binde und die Regierung zu jahrelangen Verhandlungen über das künftige Verhältnis zwinge.
Entgegen ursprünglichen Ankündigungen will Farage, dessen Partei bei der Europawahl im Mai praktisch aus dem Stand zur stärksten britischen Partei avancierte, dennoch nicht in Wahlkreisen antreten, die bisher von der Konservativen Partei gehalten werden. Farage erklärte die Abkehr von seiner bisherigen Haltung damit, dass so ein Parlament ohne absolute Mehrheit verhindert und der schnellstmögliche EU-Austritt erreicht werden solle. Er stelle damit die Interessen Großbritanniens über Parteiinteressen.
Was der Brexit für Großbritannien bedeutet
- Wirtschaft: Johnsons Brexit-Deal wird die heimische Wirtschaft einer Studie des unabhängigen National Institute of Economic and Social Research (NIESR) zufolge in den kommenden Jahren rund 81 Milliarden Euro kosten. Das Bruttoinlandsprodukt werde demnach in zehn Jahren rund 3,5 Prozent niedriger ausfallen als im Falle einer EU-Mitgliedschaft Großbritanniens. Jährlich werde die Konjunktur um drei Prozent nachgeben, das entspreche etwa der Wirtschaftskraft von Wales. Ein Grund für den Konjunkturrückgang seien nachlassende Investitionen. Ein No-Deal-Brexit würde die britische Wirtschaft sogar um 5,6 Prozent zurückwerfen, so die Autoren der Studie.
- Irische Grenze: Die umstrittene Garantieklausel für eine offene Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland - der sogenannte Backstop - war der Hauptgrund für das Scheiten der Brexit-Vereinbarung von May. Auf Wunsch von Johnson wurde die Klausel gestrichen und ersetzt. Die neue Lösung ist komplex, im Kern bedeutet sie: Es wird keine Zollkontrollen an der inneririschen Grenze geben. Dies geht nur durch einen Zwitterstatus, in dem Nordirland de facto sowohl inner- als auch außerhalb der EU ist.
Die Einigung umfasst insgesamt vier Punkte: Nordirland hält sich weiterhin an bestimmte EU-Warenstandards; Nordirland bleibt sowohl in einer speziellen Zollpartnerschaft mit der EU als auch in der Zollunion des Vereinigten Königreichs; es gibt eine Vereinbarung über die Mehrwertsteuer, um Marktverzerrungen zu vermeiden; und die nordirische Volksvertretung kann vier Jahre nach Inkrafttreten der Vereinbarung und dann nach bestimmten Zeiträumen immer wieder darüber abstimmen, ob sie weiter gelten soll.
- Unabhängigkeitsbewegungen: Nach der Einigung auf Brexit-Abkommen zwischen Johnson und der EU hat die Schottische Nationalpartei (SNP) angekündigt, eine erneute Volksabstimmung über ein Ausscheiden Schottlands aus dem Vereinigten Königreich anzustreben. Dem müsste aber die britische Regierung zustimmen. Die SNP hofft darauf, bei der Wahl am 12. Dezember die Zahl ihrer derzeit 35 Unterhausmandate deutlich zu erhöhen und in eine Schlüsselrolle zu kommen. Sollte es keine eindeutige Mehrheit für eine Partei im Parlament geben, könnte die SNP ihre Hilfe bei der Regierungsbildung von einem "Ja" zu einem Referendum abhängig machen.
Beim Unabhängigkeitsreferendum 2014 hatte sich eine Mehrheit der schottischen Wähler noch für einen Verbleib bei Großbritannien entschieden. Angesichts des Brexits könnte dies laut Umfragen bei einer erneuten Abstimmung aber anders sein, weil eine klare Mehrheit der Schotten auch gegen den Brexit gestimmt hat. Auch in Wales gibt es wegen des von Großbritannien angestrebten EU-Austritts Unabhängigkeitsbestrebungen.
- EU-Verpflichtungen: Immer wieder wird auch über mögliche Verpflichtungen Großbritanniens gegenüber der EU auch nach einem Brexit debattiert. Premier Johnson drohte zum Beispiel damit, die vereinbarten Ausstiegszahlungen zurückzuhalten. Diese werden auf etwa 45 Milliarden Euro geschätzt. Aber auf der anderen Seite ist die Frage, ob die EU überhaupt bereit wäre, über ein späteres Handelsabkommen zu verhandeln, wenn das Geld nicht gezahlt würde.
Was der Brexit für die EU und Deutschland bedeutet
- Wirtschaft: Vor allem die Unsicherheit schadet der Wirtschaft: Viele Unternehmen haben versucht, sich auf einen Brexit vorzubereiten. Die Verschiebungen verursachen zusätzliche Unsicherheit, denn die Firmen wünschen sich vor allem auch Planungssicherheit.
- Grenzverkehr: Was passiert eigentlich an der neuen EU-Außengrenze, wenn Großbritannien die EU verlässt? Das betrifft nicht nur die neue Außengrenze zwischen Irland und Nordirland, sondern auch den generellen Warenverkehr in und aus der EU. In einigen Szenarien wird befürchtet, dass es hier zu großen Staus kommen könnte.
- EU-Freizügigkeit: EU-Bürger dürfen in anderen EU-Ländern arbeiten. Sobald Großbritannien aus der EU ausgetreten ist, gilt diese Freizügigkeit in Richtung Großbritannien und für Briten in der EU prinzipiell nicht mehr. Das betrifft einige Bereiche, so zum Beispiel auch die Kultur und Wissenschaften. Schon länger wird hier versucht, Regelungen zu finden.
Was bisher beim Brexit geschah
Bei einem Referendum am 23. Juni 2016 votieren 51,9 Prozent der Abstimmungsteilnehmer für einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Premierminister David Cameron tritt daraufhin zurück. Seine Nachfolgerin wird am 13. Juli Theresa May, der Wortführer des Brexit-Lagers, Boris Johnson, Außenminister.
Es dauert knapp acht Monate, bis Großbritannien am 29. März 2017 offiziell den Austrittsantrag in Brüssel einreicht. Damit beginnt die zweijährige Frist bis zum 29. März 2019, in der beide Seiten die Details des Brexits aushandeln sollen. Während die Unterhändler Großbritanniens und der EU sich bereits in Verhandlungen befinden, setzt May für den 8. Juni 2017 vorgezogene Neuwahlen an. Ihre konservativen Tories verlieren dabei die Mehrheit im Parlament, May ist nun auf die Unterstützung der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) angewiesen.
Widerstand gegen Brexit-Abkommen von Theresa May
Nach 16-monatigen Verhandlungen liegt am 14. November 2018 ein Vertragsentwurf vor, der den Austritt Großbritanniens aus der Union regeln soll. Doch das britische Parlament verweigert diesem wiederholt die Zustimmung. In der Folge bittet die britische Regierung um eine Verschiebung des Austritts-Datums, zunächst bis zum 12. April. Am Tag vor diesem Termin einigen sich EU und Großbritannien auf einem Sondergipfel dann auf eine weitere Verschiebung des Brexits bis zum 31. Oktober 2019.
Angesichts des anhaltenden Widerstands gegen ihren Brexit-Deal, gibt May am 24. Mai 2019 ihren Rücktritt als Parteivorsitzende der Tories und damit auch als Regierungschefin bekannt. Nach einem aufwendigen Auswahlverfahren wählen die Konservativen knapp zwei Monate später Johnson zum neuen Parteichef und damit auch zum neuen Premierminister. Johnson tritt am 24. Juli sein Amt an und verspricht, Großbritannien am 31. Oktober aus der EU zu führen - mit oder ohne Brexit-Abkommen.
Erneute Brexit-Verschiebung und Neuwahlen
Ende August 2019 kündigt Johnson an, das Parlament ab der zweiten September-Woche bis zum 14. Oktober in eine Zwangspause zu schicken. Die Empörung ist groß: Gegner eines harten Brexit vermuten, dass der Premier das Parlament ausschalten will, um seine Pläne durchzusetzen. Nach einer Serie von Rücktritten und Ausschlüssen von Abgeordneten seiner eigenen Partei verliert Johnson seine Mehrheit im Parlament. Am 24. September erklärt das Oberste Gericht die von Johnson verhängte Parlamentspause für "illegal" und "unwirksam", die Abgeordneten kommen daraufhin wieder in Westminster zusammen.
Nach weiteren Verhandlungen von Johnson mit Brüssel einigen sich die EU-Kommission und der britische Regierungschef kurz vor Beginn des EU-Gipfels am 17. Oktober auf eine neue Brexit-Vereinbarung. Doch Johnson gelingt es nicht, seinen Deal wie angestrebt bis Ende des Monats durchs Parlament zu bringen. Auf Druck der Abgeordneten muss er zähneknirschend bei der EU eine weitere Verlängerung der Austritts-Frist beantragen. Nachdem die EU-Staaten grünes Licht für die Verschiebung des Brexits bis zum 31. Januar 2020 gegeben haben, stimmt das britische Parlament auf Initiative von Johnson schließlich für Neuwahlen am 12. Dezember.