Michael Köhler: Wohnen wir beim Brexit, dem Referendum, das den EU-Ausstieg beschlossen hat, einem Königsdrama à la Shakespeare, einem Spaghetti-Western oder einem EU-Groschenroman bei?
Boris Johnson, ehemaliger Bürgermeister Londons, wurde gemeuchelt. Favorit Michael Gove erdolcht sich selber, Premier Cameron wurde politisch exekutiert. Nigel Farage tritt theatralisch ab, weil er alles erreicht hat. Was tun die politischen Eliten da und was macht das mit den Abgehängten und Armen im Land. Denn England ist über weite Strecken ersichtlich immer noch eine Klassengesellschaft. Darüber habe ich mit dem Publizisten und Buchautor Thomas Kielinger gesprochen, der seit 20 Jahren in London als Korrespondent lebt. Er hat gerade eine "Kleine Geschichte Großbritanniens veröffentlicht. Zuerst habe ich ihn gefragt, was erleben wir da gerade bei den Tories, zerfleischt sich da eine politische Klasse?
Thomas Kielinger: Es gibt eine herrliche Karikatur, wie der Michael Gove sein Messer zückt und es dem ihm in die Arme fallenden Boris Johnson in den Rücken sticht. Und das Messer ist lang, das geht durch und es sticht gleichzeitig den Michael Gove selber ins Herz. Da haben Sie sozusagen den Mord, der auch ein Selbstmord ist.
Nein! Ich glaube, dies ist ein Spiel einer auslaufenden Kaste, muss man fast mit indischem Namen sagen, diese aristokratischen Eaton- und Oxford-Erzogenen, obwohl Michael Gove nicht dazugehört. Da muss man auch vorsichtig sein. Er ist auf staatlichen Schulen erzogen. Aber hier tritt doch die tonangebende Schicht der Männer zurück und überlässt die Zukunft des Landes den Kräften, die nun wirklich mit der Krise Englands fertig werden müssen. Dies war ja kein Aufstand gegen die EU; es war ein Aufstand gegen Westminster, gegen London.
"Das Phänomen der ungleichen Gesellschaft wird deutlich"
Köhler: Es war Brüssel nicht nur gemeint, sondern London auch.
Kielinger: Ganz stark eine Vernachlässigung großer Teile dieses Landes durch wechselnde Regierungen, Labour und Konservative, die sich hier in ihrem Londoner Paradies einrichten und den Blick für das übrige Land verloren haben. Dies, glaube ich, ist die eigentliche Ablösung Englands. Sie werden wach, die politische Kultur wird wachgerüttelt über das Phänomen der ungleichen Gesellschaft, in der man hier lebt.
Köhler: Darüber wollen wir gleich im zweiten Schritt sprechen. Ich möchte noch eine Sekunde bei einem wichtigen Stichwort bleiben, das Sie gerade haben fallen lassen: den sogenannten Etonians, den Musterschülern der Eliteschulen. Cameron, Boris Johnson sind das.
Kielinger: George Osborne könnte man noch nennen.
Köhler: Ist das immer noch so, Thomas Kielinger, in London? Man wird Mitglied einer Eliteschule, dann kommt man in den Gentlemen‘s Club oder das Elitekorps und dann nach Westminster?
Kielinger: Dieses Muster gilt immer noch. Die Mehrzahl der Kabinettsminister sind auf Eliteschulen gewesen, Frauen und Männer. Das ist ein traditionelles Aufstiegsmodell der Briten, welches jetzt ein bisschen an seine Grenze kommt, denn die Fragen des 21. Jahrhunderts und der Globalisierung sind nicht allein durch Eliteansprüche zu fassen und zu regeln und zu lösen. Da müssen andere Kräfte in der Gesellschaft herankommen. Und ich sehe deshalb doch eine allmähliche Ablösung von diesem Modell, was bisher noch gilt. Sie haben ganz Recht. Aber ich glaube, das läuft aus.
Köhler: Wir haben es uns kurz nach dem Brexit einfach gemacht und haben gesagt, na ja, die Armen, die Alten, die Ungebildeten, die haben den Ton angegeben, deshalb sind die rausgeflogen. Das sind die Enttäuschten, das sind die sozialen Abstiegsängste. Lassen Sie uns einen Blick doch mal darauf werfen, was da los ist. Haben wir es in England, in United Kingdom immer noch mit einem undurchlässigen Klassensystem zu tun, das soziale Mobilität verhindert?
Kielinger: Ihre Frage trifft den Kern übrigens, und zwar will ich sie beantworten mit einer Studie, die vor einer Woche, gerade vor wenigen Tagen herauskam, wonach 76 der befragten Briten äußerten, sie halten ihre Aufstiegschancen für beendet. 76 Prozent sagten, die "upward mobility", die Mobilität in der Gesellschaft ist ans Ende gekommen. Jeder sitzt dort in seinem Mus, wo er sitzen kann und sich nicht mehr verbessern. Wenn drei Viertel der Gesellschaft glaubt, sie können nicht mehr hochklettern, dann ist hier ein Drama, ein S.O.S. ausgerufen, welches Ihnen sagt, dass in der Tat die Elite sündhafterweise übersehen hat, was sich im Rest des Landes tut, welcher Abstieg, welcher Verlust an Lebensqualität, und das kommt jetzt scharf zum Vorschein.
"Die Menschen haben ihre Hoffnung verloren"
Köhler: Thomas Kielinger, erklären Sie mir das. Ich verstehe es, ehrlich gesagt, nicht. Hat es ähnlich wie in Nordfrankreich damit zu tun, dass weite Teile deindustrialisiert sind, dass die Prekarisierung zunimmt, oder ist es das falsche Bildungssystem, oder sind es auch die falschen Vorbilder, oder von allem etwas?
Kielinger: Es ist von allem etwas, aber vor allen Dingen ist es eine Vernachlässigung der historischen Periode nach der Entindustrialisierung, die unter Margaret Thatcher begann: Privatisierung der Industrie, verlorene Arbeitsplätze, die nicht mehr wettgemacht werden konnten und wo die Menschen plötzlich abstiegen in Sozialempfänger und ihre Hoffnung verloren, siehe diese jüngste Umfrage. Drei Viertel der Menschen glauben, dass es keine Mobility mehr gibt, keine Möglichkeit aufzusteigen in England. Hinzu kommt die pausenlose Austerity, die hier herrscht. Wir haben Kürzungen des Haushalts.
Köhler: Armutspolitik!
Kielinger: Armutspolitik, Kürzungen der Bezüge, auch der Sozialbezüge. Die Menschen kommen nicht mehr mit mit den steigenden Lebenskosten. Die gehen ja hoch, aber die Bezüge stagnieren. Sieben Jahre keine Gehaltserhöhung mehr im öffentlichen Dienst. Das ist dramatisch und dann bricht eine ganze Gesellschaft ab und koppelt sich ab von der Elite in Westminster, die nicht mehr zuhört. Das ist kein Populismus übrigens, Herr Köhler, kein Populismus. Das ist ein Schrei aus der Tiefe sozusagen, de Profundis: Wir wollen, dass unser Los sich bessert. Wir wollen finanziell bessergestellt werden. Das geht so nicht weiter. "We’ve had enough" sozusagen. Das ist ganz sicher der Kern dieser Krise, die wir in England haben.
Köhler: Zerfleischen sich die Tories gerade selber? Der ehemalige Lordkanzler Kenneth Clarke wird in der "Süddeutschen Zeitung" zitiert mit dem Nachklapp eines Interviews, wo er sich über alle Kollegen lustig macht. Die mögliche Nachfolgerin Theresa May, sagt er, oh Gott, oh Gott, eine verdammt schwierige Frau. Boris Johnson - die Vorstellung, ihn als Premierminister, ist lächerlich. Michael Gove - mit ihm als Premier wären wir gleich im Krieg mit drei Ländern. Und Andrea Leadsom - sie gehört wenigstens nicht zum winzigen Haufen von Spinnern. - Zerfleischen die sich da gerade selber?
Kielinger: Der Kenneth Clarke, den muss man als einen Alleinunterhalter einstufen. Der hat immer ein offenes Wort riskiert und eine scharfe Zunge. Und dass er so redet, wie er dort unüberwachterweise redet, als sein Mikrofon noch nicht abgestellt war, das kennt man von ihm. Das sozusagen nicht das tonangebende Thema.
Köhler: Aber hat er nicht doch Recht, Thomas Kielinger, in einem Punkt, indem er sagt, danke, jetzt ist Schluss mit upper class?
Kielinger: Nein. Er hat insofern Recht, als diese etwas zynische Äußerung, unter Gelächter vorgetragen, die Meinung wiedergibt, dass die Tory-Elite abgewirtschaftet ist und nur noch Brudermord hervorbringt. Insofern trifft seine Äußerung wunderbar auf die Lage zu, die wir jetzt haben. Wir haben nämlich zwei Frauen, die auf der Liste stehen, über die die Mitglieder der Partei jetzt entscheiden müssen, wer wird Premierminister. Das ist eine ganz neue Lage. Das Feminat, sage ich immer, tritt an die Macht. "Women to the front!" Und wir werden eine ganz andere Art der Regierungsauftritte erleben als diese Alpha Animals, diese großen Alphatiere, diese Männer, die ihre Bedeutsamkeit hervorkehren. Dies wird eine sehr viel mehr verständliche Regierung sein, die den Nöten von großen Teilen der Gesellschaft zuhört und nicht mehr auf Elite setzt, sondern auf reine Kompetenz und auf Compassion, auf zuhören können, auf Mitleid mit den vernachlässigten Schichten dieses Landes.
"Hier kommt ein neuer Zug in die Regierung"
Köhler: Dann lassen Sie uns gegen Schluss doch mal Ross und Reiter nennen. Sie haben die Frauen an die Front genannt. Die Zukunft ist weiblich, das wissen wir alle, und in England wird sie vielleicht Theresa May heißen. Ist das die neue Zahl- und Zuchtmeisterin auf der Insel?
Kielinger: Das sieht so aus nach allen Umfragen, aber man muss bedenken, was wir in den letzten zwei Wochen alles an Eruption erlebt haben, an überraschenden Wendungen in der Personallage des Landes. Es kann durchaus möglich sein, dass die zweite, die halb so viele Stimmen bekommen hat wie sie, die Andrea Leadsom, erfahren wie sie ist in der City im Finanzbereich, dass man ihr plötzlich den Zuschlag gibt als der kompetenten Frau. Auf jeden Fall wird sie, selbst wenn die Theresa May es wird, in der May-Regierung eine Rolle spielen, vielleicht sogar als Finanzministerin. Ich bin gespannt und freue mich, dass hier ein neuer Zug kommt in die Regierung und andere Töne angeschlagen werden.
Köhler: Ein Letztes, um unser Thema abzurunden. Was müsste sie dann dringend anfassen, was vernachlässigt worden ist? Die Bildungspolitik, die Flüchtlingspolitik, welche Baustellen sehen Sie?
Kielinger: Ja, Bildungspolitik ist ganz wichtig. Sie muss dafür sorgen, dass hier mehr Menschen Gesellenausbildung bekommen und ihre Skills, wie es heißt, ihre Fähigkeiten entwickeln. Man hat das hier vernachlässigt, weil England sich ganz auf die Dienstleistungsindustrie stürzte.
"Temporär vielleicht Einschränkungen in der Freiheit der Bewegung"
Köhler: Und dann kamen die Polen.
Kielinger: Ja, dann kamen die Polen. Das kam noch hinzu. Natürlich, das ist das Problem: Man hat nicht genügend eigene Kräfte ausgebildet, um die Vakanzen zu füllen, und man hat sich damit beholfen, dass man Einwanderung, Migranten zuließ, die diese Stellen schlossen und füllten. Es ist also ein großes Soll hier zu erledigen, dass man das Bildungsniveau der Menschen, die Ausbildung für praktische Tätigkeiten, nicht das Akademische, sondern die praktischen Tätigkeiten müssen hier ausgebildet werden. Und dann weiterhin muss man den Haushalt umstrukturieren. Man muss mehr für Infrastrukturen ausgeben, vielleicht sogar Schulden aufnehmen in überschaubarer Zeit, um mehr Impulse zu geben der Arbeit und der Arbeitsmöglichkeiten im Norden dieses Landes. Ich glaube, hier sind viele Baustellen, und natürlich muss auch gefragt werden, ob es nicht temporär vielleicht Einschränkungen in der Freiheit der Bewegung gibt. England ist ja ein attraktiver Ort, es ist eine völlig deregulierte Arbeitswelt, und selbst der billigste Job, den man hier kriegt, ist immer noch zehnmal besser wie eine Sozialzahlung, die man in Polen oder Rumänien bekommt. In der EU herrscht ja eine unglaubliche Diskrepanz der ökonomischen Leistungen im Norden und Süden und dadurch werden solche Länder wie England natürlich attraktiv für Zuwanderer. Da sehe ich wirklich großen Bedarf auch an Verhandlungen übrigens mit der EU, mit Brüssel. Das wird spannend werden, ob Brüssel hier etwas nachgibt.
Köhler: Es gibt eine wichtige ökonomische Schrift eines Wuppertaler Industriellen, der sich Friedrich Engels nannte und wichtig war nicht nur für die Geistesgeschichte, sondern auch für die ökonomische Geschichte. Und eines seiner wichtigsten Werke heißt "Die Ökonomische Lage der arbeitenden Klasse in England". Würde es lohnen, Thomas Kielinger, da heute noch mal einen Blick reinzuwerfen?
Kielinger: Nicht nur einen Blick reinzuwerfen. Es würde sich lohnen, diesen Text noch mal sich vorzunehmen, ihn zu aktualisieren und ruhig unter dem alten Namen neu herauszugeben: Die Lage der arbeitenden Klassen in Großbritannien - in England, sagte damals Engels. Es ist wirklich ein schauerliches Bild, wenn man mal in den Norden reist und in Slum-Gegenden kommt, dass sich eine moderne Industriegesellschaft leistet, solche desolaten heruntergekommenen Zustände zuzulassen. Schon Winston Churchill, als er Innenminister der liberalen Partei 1911 war, hat das Wort, das berühmte Wort geprägt von den "left out millions", von den Millionen, die übersehen worden sind. Die gibt es heute auch wiederum und deshalb ist eine Neuauflage von Friedrich Engels sehr willkommen mit dem Ziel, an dieser Lage der arbeitenden Klasse etwas zu verbessern.
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