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Großbritannien und die EU
"Ein heilsamer Schock, der mit dem Brexit verbunden ist"

Michael Roth (SPD), Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, hat die Brexit-Verhandlungen als sehr schwierig bezeichnet. Für Großbritannien sei die Situation geradezu tragisch, sagte Roth im Dlf. Die Auffassung, Probleme durch einen EU-Austritt lösen zu können, höre er deshalb kaum noch in Europa.

Michael Roth im Gespräch mit Stefan Heinlein |
    07.06.2018, Berlin: Michael Roth, SPD, spricht bei der Plenarsitzung des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude. Hauptthemen der 36. Sitzung der 19. Legislaturperiode sind die geplante Neuregelung des Familiennachzugs für Flüchtlinge, die von der FDP geforderte Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Affäre im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), Auslandseinsätze der Bundeswehr, und die steigenden Mieten in Deutschland. Foto: Sina Schuldt/dpa | Verwendung weltweit
    Der SPD-Politiker Michael Roth ist Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt (picture alliance / dpa / Sina Schuldt)
    Stefan Heinlein: Keine neuen Beitritte ohne tiefgreifende EU-Reformen. Vertiefung statt Erweiterung. Das war nach der Herkules-Aufgabe der EU-Osterweiterung zunächst die selbstverordnete Devise in Brüssel. Doch nicht lange hielt man sich an diese Marschrichtung. 2007 folgten Rumänien und Bulgarien, sechs Jahre später dann Kroatien. Nun, während die Briten sich von der Europäischen Union verabschieden, drängen weitere Balkan-Staaten in die EU. Doch nicht alle sind begeistert. Viele Konferenzen, viele Debatten. Heute will man sich auf einer großen Westbalkan-Konferenz in London auf eine Strategie verständigen.
    In der britischen Hauptstadt begrüße ich jetzt am Telefon Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt (SPD). Guten Morgen, Herr Roth.
    Michael Roth: Ja, guten Morgen, Herr Heinlein.
    Heinlein: Frage zunächst an den Europaminister Roth. Sie sind in London, dort überschlagen sich derzeit die politischen Ereignisse mit dem Rücktritt der Minister. Beides sind ja Brexit-Hardliner. Ist das eine gute Nachricht für Europa?
    Roth: Wir haben gestern auf unseren Gastgeber Boris Johnson gewartet, leider vergeblich. Die Uhr läuft. Wir wollen mit den Brexit-Verhandlungen bis Oktober fertig werden. Dafür brauchen wir einen Verhandlungspartner und wir brauchen auch ein klares Verhandlungskonzept der britischen Regierung. Das scheint ja immer noch so umstritten zu sein, dass es jetzt zu diesen Rücktritten geführt hat, und wir können nur hoffen, dass wir uns jetzt alsbald an einen Tisch setzen, damit Herr Barnier für die EU der 27 dann auch die Verhandlungen erfolgreich abschließen kann. Denn wir wollen ja Großbritannien nicht bestrafen, aber man muss auch klar und deutlich sagen, man kann nicht das Beste beider Welten haben, einmal die Vorzüge eines Nicht-EU-Mitgliedslandes genießen und gleichzeitig die Vorteile eines Mitgliedslandes der EU mitnehmen. Das muss geklärt werden. Das ist zugegebenermaßen sehr, sehr schwierig. Aber dafür brauchen wir auch Partner, mit denen man verhandeln kann.
    Heinlein: Sie haben sich jetzt ein wenig um die Antwort gedrückt, Herr Roth. Ohne Boris Johnson, ohne diesen britischen Brexit-Hardliner, den Außenminister, wird es leichter zu verhandeln mit London?
    Roth: Da will ich überhaupt nicht spekulieren, denn am Ende entscheidet ja nicht ein Minister alleine. Am Ende entscheidet die Regierung insgesamt und dafür bedarf es ja einer Grundlage. Deshalb haben sich die Ministerinnen und Minister ja mit Frau May vergangene Woche zusammengesetzt und haben einen Kompromiss zu schmieden versucht zwischen denjenigen, die einen harten, und denjenigen, die einen weichen Brexit bevorzugen. Nur hat der Kompromiss nicht lange gehalten und das besorgt mich schon.
    "Wir haben keinerlei Erfahrung"
    Heinlein: Es besorgt Sie. In der Tat: Es bleibt ja – Sie haben es erwähnt – nicht mehr viel Zeit, den Brexit zu verhandeln. Die Uhr tickt. Im März 2019 soll der Schlussstrich gezogen werden. Wie will man das hinbekommen? Sind Sie da zuversichtlich?
    Roth: Wir haben keine Blaupause. Wir haben keinerlei Erfahrung, und das aus guten Gründen, denn Großbritannien ist das erste Land, was die EU verlassen möchte, und wir sehen ja, was für Schwierigkeiten das mit sich bringt, nicht nur für die EU der 27. Wir sind geschlossen, wir treten geeint auf und wir haben auch eine gute Verhandlungsstrategie, die sich ja in entsprechenden Leitlinien widerspiegelt, anhand derer Herr Barnier zu verhandeln hat. Aber es ist für Großbritannien als Land, das auszutreten beabsichtigt, sehr, sehr schwierig. Es ist geradezu tragisch. Insofern bin ich mir ziemlich sicher: Wenn jemand meint, die Probleme dadurch lösen zu können, indem man den Club verlässt - diese Auffassung, die höre ich kaum noch in der EU. Das ist der einzige heilsame Schock, den ich derzeit sehe, der mit dem Brexit verbunden ist. Ansonsten ist es eine schlimme und eine traurige, deprimierende Situation.
    "Scheiden kann man sich relativ leicht"
    Heinlein: Also tickt die Uhr für Brüssel, aber gegen London?
    Roth: Sie tickt erst mal gegen uns alle, weil wir haben ja auch ein Interesse daran, möglichst eng mit Großbritannien zusammenzuarbeiten. Es gibt eine Reihe von Themen, da wünschte ich mir schon, es würde weiterhin eine Partnerschaft geben, auch auf Augenhöhe. Aber am Ende liegt der Schlüssel für diese Verhandlungen auch in London und London muss jetzt erklären, mit welchen Forderungen, mit welchen Erwartungen es auch an diese zukünftigen Beziehungen herangeht. Scheiden kann man sich relativ leicht, aber wie es dann weitergehen soll, das ist sehr schwer.
    "Der Westbalkan gehört zu Europa"
    Heinlein: Herr Minister Roth, Grund Ihrer London-Reise ist nicht der Brexit, sondern der Balkan, eine große Westbalkan-Konferenz. Ganz einfache Frage an Sie als Experten: Warum braucht Brüssel den Balkan?
    Roth: Stabilität, Frieden und Demokratie im Westbalkan sind für uns alle in der Europäischen Union von herausragendem Interesse. Was Krieg und Unfrieden bringen können, das haben wir ja in den 90er-Jahren schmerzhaft erlebt mit hunderttausenden Toten, Millionen von Geflüchteten. Der Westbalkan gehört schlicht und ergreifend zu Europa. Er ist von EU-Mitgliedsstaaten umgeben. Deshalb müssen wir uns ja auch ganz besonders anstrengen, dass dieser Beitritt von weiteren sechs Staaten – und das wird ein langer beschwerlicher Weg – gelingen kann. Dafür müssen ja auch entsprechende Kriterien erfüllt werden. Der Beitritt ist ja kein Geschenk, sondern er ist Ergebnis eines mühsamen Prozesses, der vor allem auch den Menschen einiges abverlangt.
    Heinlein: Die meisten Balkan-Länder – nehmen wir nur Albanien -, das sind wirtschaftlich eher ganz, ganz schwache Staaten. Wird das in jedem Fall ein garantiertes Zuschussgeschäft für die europäischen Nettozahler, also auch für Deutschland, für die deutschen Steuerzahler?
    Roth: Das sehe ich erstmal überhaupt nicht. Natürlich verlangt uns der Transformationsprozess auch etwas ab, aber am Ende sind das alles Staaten, die auch eine Chance haben, sozial stabil, wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Und dann will ich noch mal eines hervorheben: Demokratie und Frieden kann man nicht in Euro und Cent bemessen. Das ist für uns wichtig. Deswegen sind die Verhandlungen ja auch so schwierig, weil wir jetzt nicht über binnenmarktrelevante Fragen reden, über Fischerei und Landwirtschaft, sondern wir reden jetzt über Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit der Justiz, die Freiheit der Medien, respektvoller Umgang mit Minderheiten. Das alles wird derzeit in den Verhandlungen geklärt. Das ist zugegebenermaßen nicht ganz leicht, aber vielleicht können wir ja sogar was vom Westbalkan lernen. Der Westbalkan ist ja eine multiethnische, multireligiöse Region. Dort kooperieren die Religionen überwiegend friedlich miteinander. Der Westbalkan kann auch etwas einbringen in die Europäische Union, aber dazu gehört, dass unsere gemeinsamen Werte uneingeschränkt respektiert und gelebt werden und dass die Reformen jetzt auch durchgezogen werden.
    "Der Westbalkan ist kein homogener Block"
    Heinlein: Das klingt ein bisschen, als ob das Ganze, die ganze Sache, dieser Beitritt dieser sechs Länder ein Wechsel auf die Zukunft ist. Aber der Alltag ist ja durchaus deprimierend: Korruption, Kriminalität. Das prägt den Alltag in vielen Ländern dieser Region. Warum sollten wir Europäer uns diese Probleme jetzt ins europäische Haus holen?
    Roth: Wir holen sie uns ja ins Haus. Wenn der Westbalkan nicht zur Ruhe kommt, wenn er instabil bleibt, wenn die Korruption dort nicht eingedämmt wird, und vor allem auch die organisierte Kriminalität, dann verstößt das auch gegen unsere Sicherheitsinteressen. Wir können nur hoffen, dass der Westbalkan insgesamt stabiler wird, und es gibt ja doch erhebliche Fortschritte. Nicht zuletzt haben deshalb auch Mazedonien und Albanien eine Empfehlung bekommen von der Kommission, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Kosovo, Bosnien-Herzegowina sind noch weit davon entfernt. Mit Serbien und mit Montenegro werden schon Beitrittsverhandlungen geführt. Der Westbalkan ist kein homogener Block. Man muss die Länder sehr genau und im Einzelnen betrachten. Im Übrigen ist der Beitritt zur Europäischen Union noch ein langer und beschwerlicher Weg. Der steht ja nicht morgen oder übermorgen vor der Tür.
    "Perspektive für die junge Generation"
    Heinlein: Ist denn die Europäische Union schon bereit für eine erneute Erweiterung? Braucht es nicht erst nachhaltige Reformen in Brüssel, um handlungsfähiger zu werden? Das ist ja eine Frage, die sich vor allem die Franzosen, vor allem Macron ja gestellt hat in den letzten Wochen und Monaten.
    Roth: Viele überzeugte Europäerinnen und Europäer stellen sich diese Fragen übrigens schon seit Jahren: Muss man nicht erst das Haus renovieren und sanieren und muss man nicht sich erst mal krisenhaft aufstellen, um dann neue Menschen aufzunehmen in der WG? – Ich bin von diesem Argument nicht sonderlich überzeugt, weil wir können unser Interesse am Westbalkan ja jetzt nicht einfach zu den Akten legen. Es gibt ja für uns herausragende Interessen. Ich will das noch mal sagen: Frieden und Stabilität. Deswegen helfen wir ja jetzt auch schon dabei. Die Verhandlungen sind ja kein abstrakter Prozess. Deswegen sind wir ja jetzt auch in London zusammengekommen. Dieser sogenannte Berlin-Prozess soll ja vor allem auch dabei helfen, dass die Menschen wieder Hoffnung schöpfen, dass die junge Generation auch eine Perspektive sieht in ihrem eigenen Land, und dass es sich lohnt, sich auch zu den gemeinsamen europäischen Werten zu bekennen. Und wenn im Übrigen die Europäische Union Desinteresse zeigt, wird dieses politische Vakuum von anderen gefüllt. Russland, China, die Türkei, Katar, Saudi-Arabien sind aus vielerlei Gründen dort in dieser Region aktiv. Ich kann das denen doch nicht vorwerfen. Ich würde mir nur vorwerfen können, wenn wir selber uns in Desinteresse üben und wenn wir diese, für uns so wichtige Region einfach links oder rechts liegen lassen.
    "Wir müssen für unsere Werte kämpfen"
    Heinlein: Ist das das wichtigste Stichwort, das Sie gerade genannt haben, Herr Roth? China ist sehr aktiv auf dem Balkan, auch Russland, Stichwort neue Seidenstraße. Ist diese EU-Beitrittsperspektive für diese sechs Balkan-Länder auch dieser Entwicklung geschuldet? Will man Peking, will man Moskau außen vor halten?
    Roth: Es gibt viele Gründe. Eine Reihe von Gründen habe ich ja schon genannt. Aber diese europäische Arroganz, als würden sich automatisch alle nur nach Europa richten, die finde ich etwas aus der Zeit gefallen. Auch wir müssen doch anerkennen, dass diese Verbindung aus Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, individueller Freiheit mit Wohlstand und Solidarität kein Selbstläufer mehr ist. Es gibt zunehmend autoritäre Regime, die versprechen Ordnung, die versprechen Sicherheit, die versprechen Wohlstand. Aber sie sind weit von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Menschenrechten entfernt. Deswegen müssen wir jetzt auch für unsere Werte kämpfen, und diese Auseinandersetzung, friedlich, mit guten Argumenten, die wird derzeit natürlich auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, im Westbalkan ausgetragen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zueigen.