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Großbritannien und die EU
"Eine Chance für Reformen"

Bevor der britische Premier David Cameron im kommenden Jahr über einen möglichen Ausstieg aus der EU abstimmen lassen will, wird er mit allen Regierungen der EU-Staaten über mögliche Reformen sprechen. Vertragsänderungen werde es zwar nicht geben, äußerte sich der Ökonom Michael Wohlgemuth vom Think Tank "Open Europe" im DLF überzeugt, aber Cameron könnte einiges herausholen.

Michael Wohlgemuth im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Der EU-Ratspräsident Donald Tusk, der britische Premierminister David Cameron und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.
    Der EU-Ratspräsident Donald Tusk, der britische Premierminister David Cameron und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. (AFP / Janek Skarzynski)
    Im Wahlkampf hat der britische Premier David Cameron versprochen, über Großbritanniens möglichen Ausstieg aus der EU abstimmen lassen zu wollen. Bis zum nächsten EU-Gipfel Ende Juni will er mit den Regierungen aller EU-Staaten über sein Vorhaben sprechen - und eventuell Vertragsänderungen herausholen.
    Aber: Änderungen im Vertrag wolle in der Europäischen Union keiner, sagte der Ökonom Michael Wohlgemuth vom Think Tank "Open Europe". Mit anderen Vorschläge könne Cameron aber durchaus auf offene Ohren stoßen. Dazu gehörten die Themen Subsidiarität, Bürokratieabbau, mehr Rechte für die nationalen Parlamente, Demokratie und Binnenmarkt. Kompromisse bei diesen Themen seien auch im Interesse vieler anderer EU-Länder.
    Beim Thema Zuwanderung allerdings werde es für Cameron schwierig, unterstrich Wolgemuth. Hier habe Bundeskanzlerin Angela Merkel eine rote Linie gezogen. Gleichwohl werde dieses Thema aus britischer Sicht das entscheidendere sein. Cameron will verhindern, dass die EU Großbritannien Vorgaben darüber macht, wie viele Flüchtlinge das Land aufnehmen soll.
    Die Abstimmung über Großbritanniens möglichen Ausstieg aus der EU wird heute auch Thema der traditionellen Rede von Königin Elisabeth II. sein, in der sie Camerons Wahlprogramm vorstellt.

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Knapp drei Wochen sind vergangen, seit der Unterhauswahl in Großbritannien. David Cameron war der strahlende Sieger. Er kann jetzt mit seinen konservativen Tories allein regieren, und was er genau vorhat in den kommenden Monaten, das werden wir heute erfahren bei der sogenannten Queens Speech im britischen Parlament. Da trägt die britische Queen traditionell vor, welche Gesetzesvorhaben die Regierung im Lauf der kommenden Monate plant. Ein ganz zentrales Thema in dieser vorformulierten Rede steht bereits jetzt fest: das EU-Referendum in Großbritannien.Stefanie Piper berichtete aus London.
    David Cameron hat also in diesen Tagen eine Menge zu tun. Er will nämlich noch vor dem nächsten EU-Gipfel in gut einem Monat alle übrigen 27 EU-Regierungschefs treffen, und zwar einzeln, jeweils zu einem Vieraugengespräch. Dabei will er mit ihnen über seine Änderungswünsche für die britische EU-Mitgliedschaft sprechen und am besten auch noch Vertragsänderungen herausholen. Kann diese Strategie aufgehen? Darüber kann ich jetzt sprechen mit Michael Wohlgemuth, er ist der Direktor beim Thinktank Open Europe Berlin, das ist nach eigenen Angaben eine proeuropäische, aber EU-kritische Einrichtung. Schönen guten Morgen, Herr Wohlgemuth!
    Michael Wohlgemuth: Guten Morgen, Herr Armbrüster!
    "Ein neuer Vertrag ist sicher nicht machbar"
    Armbrüster: Herr Wohlgemuth, wird David Cameron von seinen EU-Partnern kriegen, was er will?
    Wohlgemuth: Noch wissen wir ja gar nicht genau, was er wollen wird. Einiges ist sicher gut verhandelbar. Wie Sie richtig sagen, die Sache mit den Vertragsänderungen, das ist so ein bisschen die Büchse der Pandora, die will so in dieser Form niemand wirklich öffnen im Sinne, ein neuer Vertrag bis 2016 oder 2017, das ist sicher nicht machbar. Aber es gibt einige Vorschläge, da dürfte er durchaus auf offene Ohren treffen. Im Prinzip ist man sich ja auch einig, dass die Europäische Union Reformen braucht, dass sie wettbewerbsfähiger werden muss, dass Subsidiarität, Haftung, Demokratie, Bürokratieabbau wichtig sind. Und wenn man das konkreter mal durchgeht, glaube ich, gibt es dann doch viele Überschneidungen, sodass Cameron etwas bekommen könnte, aber auch die EU als Ganze.
    Armbrüster: Aber würden sich die EU-Regierungschefs sich nicht eine Blöße geben, wenn sie Cameron in dieser Lage Zugeständnisse machen und sozusagen auf seine Drohungen eingehen?
    Wohlgemuth: Wenn er es geschickt macht, dann wird er es gar nicht so sehr erpresserisch darstellen, sondern einfach sagen, hier habe ich Vorschläge, die sind im Interesse der gesamten EU und helfen dann noch dabei, Großbritannien innerhalb der EU zu lassen, was durchaus im Interesse vieler Länder ist, besonders von Deutschland aus ökonomischen und politischen Gründen.
    "Große Themen auch im Interesse anderer EU-Länder"
    Armbrüster: Was genau sind solche Punkte, bei denen er auf Zugeständnisse hoffen kann?
    Wohlgemuth: Ich denke mal, Bürokratieabbau ist ein großes Thema, mehr Rechte für nationale Parlamente bei der Kontrolle der Gesetzgebung der Europäischen Union. Manchmal ist es auch mehr Europa in dem Sinne, dass der Binnenmarkt für Dienstleistungen, für Energie oder Kapital …
    Armbrüster: Ja, Entschuldigung, Herr Wohlgemuth, aber das sind ja Forderungen, die werden seit Jahren immer wieder von allen möglichen Ländern aus allen möglichen politischen Parteien erhoben. Das ist ja nichts Neues.
    Wohlgemuth: Nein, es ist nichts Neues, aber jetzt ist die Gelegenheit da, darüber ernsthaft zu reden, weil jetzt dieser Anlass durch dieses Referendum gegeben ist, und das ist durchaus eine Chance für diese Reformen.
    "Beim Thema Zuwanderung gibt es eine rote Linie"
    Armbrüster: Was noch außer Bürokratieabbau und mehr Rechte für Parlamente?
    Wohlgemuth: Ich denke, was schwierig ist und was die Diskussion vor dem Referendum besonders prägen wird, ist Zuwanderung. Hier hat die Kanzlerin, und ich denke auch zu Recht, eine rote Linie gezogen, dass man sagt, eine rein quantitative Quote für Zuwanderung aus EU-Staaten kann es nicht geben, aber trotzdem sollte es Möglichkeiten geben, die direkte, sofortige Zuwanderung in die jeweiligen Sozialsysteme zu regulieren. Und darüber wird es jetzt gehen. Das sind ziemlich komplizierte rechtliche Dinge, die auch momentan vor dem Europäischen Verfassungsgerichtshof stehen. Da muss man abwarten, wie das ausgeht. Ich glaube, das wird am Ende entscheidender sein als die vielen wohlfeilen Reformvorschläge, auf die man sich vielleicht eher wird einigen können.
    Armbrüster: Da geht es ja konkret um das Prinzip der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union. Können die EU-Staats- und Regierungschefs das denn so ohne Weiteres aufgeben?
    Wohlgemuth: Nein. Das werden sie auch nicht. Das ist ja wirklich der Kern der EU und der europäischen Integration, die vier Grundfreiheiten. Und da wird man keine aufgeben können. Aber es geht natürlich schon um Regulierung, zum Beispiel, wie es mit dem Kindergeld ist, wenn Zuwanderer kommen und das Kindergeld dann an Kinder in anderen EU-Staaten übertragen wird. Hier gibt es durchaus nationale Kompetenzen noch da zu regeln. Wie weit man das machen kann, ohne dann das Prinzip der Freizügigkeit zu gefährden, das muss man noch verhandeln oder sehen, wie es rechtlich wirklich aussieht.
    "Brüssel braucht Reformen"
    Armbrüster: Das heißt, Sie sehen in diesen Gesprächen, die wir da in den kommenden Tagen und Wochen erleben werden, auch durchaus eine Chance für die Europäische Union?
    Wohlgemuth: Ja. Ich denke, alle sind sich einig, dass die EU Reformen braucht, die auch wieder Brüssel wieder näher an die Bürger bringt und die ökonomische Leistungsfähigkeit des Europäischen Binnenmarktes verstärkt, auch Außenhandel mit USA und so weiter. Da könnte jetzt wieder Bewegung reinkommen.
    Armbrüster: Heißt das denn auch, dass wir dann, wenn Cameron tatsächlich damit Erfolg hat, dass wir in den kommenden Jahren eine EU sehen werden, die sich tatsächlich wieder mehr auf die Binnenmarktdebatte konzentrieren wird, darauf, dass die Märkte in Europa funktionieren und nicht unbedingt darauf, dass die Länder innerhalb der EU politisch weiter zusammenwachsen?
    Wohlgemuth: Ja, denke ich schon. Ich meine, momentan ist die Debatte natürlich nach wie vor von Griechenland beherrscht und den Problemen der Eurozone. Merkel und Hollande haben jetzt eine Initiative gestartet, aber die gesamte EU und der Binnenmarkt, das sind ja eigentlich immer noch Wachstumspotenziale, die man heben kann, ohne mit gigantischen, schuldenfinanzierten Transfers zu agieren. Und das ist etwas, was man sich wirklich jetzt genauer anschauen sollte. Und da ist man in der Kommission auch bereit dazu. Das wäre eine Debatte, die man sich jetzt durchaus zumuten sollte.
    Armbrüster: Woher nehmen Sie Anlass für diesen Optimismus, dass man auch in der EU-Kommission dazu bereit ist?
    Wohlgemuth: Zum Beispiel jetzt die Aufstellung von Herrn Timmermans als Vizekommissar, der sehr engagiert ist und scheint, hier wirklich Bürokratie abzubauen. Es gibt den britischen Kommissar Lord Hill, der sehr engagiert ist, jetzt hier den Binnenmarkt, er nennt es Capital Market Union, eine Kapitalmarktunion zu vertiefen. Da sind durchaus, auch in der Energiepolitik ist man jetzt dabei, hier einen wirklich gemeinsamen europäischen Binnenmarkt für Energie zu schaffen. Digitales, diese Agenda. Das sind Wachstumsthemen, die die Kommission durchaus ernst nimmt.
    "Der Schottland-Faktor spielt auch mit rein"
    Armbrüster: Und wenn man dann diese – ich sage mal, eher kosmetischen Änderungen, wenn man die dann zusammenfasst und dem britischen Volk in einem Referendum vorlegt – werden die Euroskeptiker in Großbritannien sich dann umstimmen lassen und sagen, eigentlich gar keine so schlechte Sache, diese Europäische Union?
    Wohlgemuth: Ich glaube schon, dass ähnlich wie bei dem Schottland-Referendum die Leute dann so ein paar Wochen oder Monate vor der Entscheidung sich auch mal überlegen, was ist eigentlich die Alternative? Wo sind wir drin, wenn wir aus der EU draußen sind? Und welche Handelsmöglichkeiten haben wir noch, welchen Zugang haben wir noch zum Binnenmarkt? Und am Ende ist es vielleicht doch gar nicht so schlecht, in der EU zu bleiben, im Vergleich zu anderen Modellen, wie das Norwegen hat oder die Schweiz. Und der Schottland-Faktor spielt auch noch mit hinein, weil es kann ja gut sein, dass, wenn Großbritannien aus der EU austritt, dass dann in Schottland ein neues Referendum stattfinden wird, ob nicht Schottland dann aus Großbritannien austritt, weil die Schotten eigentlich gern in der EU bleiben möchten. Und am Ende würde Großbritannien als Little England dastehen, und das ist, glaube ich, auch etwas, was, wenn die Leute darüber nachdenken, wirklich über die Alternativen und über die Konsequenzen ökonomischer und politischer Art, dass das doch recht wahrscheinlich macht, dass das Referendum für den Verbleib in der EU ausgeht.
    Armbrüster: David Cameron, der britische Premierminister startet in dieser Woche eine Charmeoffensive vor dem angekündigten EU-Referendum in Großbritannien. Wir sprachen darüber mit Michael Wohlgemuth, dem Direktor beim Berliner Thinktank Open Europe Berlin. Vielen Dank, Herr Wohlgemuth, für das Gespräch!
    Wohlgemuth: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.