Beatrix Novy: Brüssel, da waren wir jetzt. London ist um die Ecke. Sparpreis ab 59 Euro mit der Bahn, wenn es von Köln ausginge. Schnell geht das auch noch, seit der Zug durch den Tunnel fährt. Unterm Kanal durch geht das ratzfatz. Kollektive Erinnerung an stundenlange Überfahrten nach Dover verblassen heute immer mehr. Es ist doch alles nicht mehr der Rede wert. Und trotzdem bleibt dieser Kanal eine wirksame Grenze, nicht nur für die Migranten, die an der französischen Küste ihre Chance herbeisehnen. Ein trennendes Gewässer bleibt er auch im Gemüt, womöglich sogar bei einer Mehrheit der Briten. Die werden im Juni darüber entscheiden, ob das Land weiter zur EU gehören soll. Stimmen sie dagegen, wird sich vieles ändern. Aber was? Und wird das alles erwünscht sein? Würde zum Beispiel die Kultur in Großbritannien darunter leiden? Diese Frage stellte gestern die "Süddeutsche Zeitung".
Wir haben einen der Deutschen gefragt, die einer großen kulturellen Institution in London vorstehen, nämlich Martin Roth, Direktor des Victoria and Albert Museum, V&A. Die Frage an ihn lautete, ob es etwas zu fürchten gibt.
Martin Roth: Ich glaube, was viel mehr eine Rolle spielt für uns ist es, dass, ich würde sagen, alle oder 90 Prozent von denjenigen, die in der Kultur tätig sind, natürlich an Transparenz, an Offenheit, an gute Kooperation über jegliche Grenzen hinweg glauben. Sonst wären wir nicht in diesen Berufen tätig. Wenn Sie mich jetzt aber fragen würden, was bedeutet es im Alltag, dann wissen wir das nicht. Was wir alle nicht wollen ist wieder an Grenzen warten. Was wir alle nicht wollen, ist dumme Zölle zahlen. Was wir alle nicht wollen ist mit Visa kämpfen. Aber natürlich kann sich niemand mehr nach all den Jahren vorstellen, was es wirklich bedeuten würde, sozusagen in frühere Zeiten zurückzufallen.
"Man hat immer die Distanz zu Europa gewahrt"
Novy: Wie groß ist denn die Bedeutung der Förderungen durch die EU? Was würde da möglicherweise wegfallen?
Roth: Das ist wirklich ein interessantes Thema. Ich habe in Deutschland deutlich mehr mit EU-Mitteln gearbeitet. Hier bin ich wirklich auf einer Mission, um meinen Kollegen zu erklären, dass man Geld in Brüssel beantragen kann. Wir arbeiten hier im V&A komplett ohne EU-Mittel und ich kenne wenige Kollegen aus dem Kulturbereich, die EU-Mittel haben. Das hängt schon damit zusammen, dass Europa so weit von uns entfernt ist, dass man eigentlich auch nicht unbedingt Geld nehmen möchte. Aber zumindest ist es weit vom Bewusstsein entfernt. Ich erzähle immer wieder gern dieselbe Geschichte, dass meine Mitarbeiterin vor Jahren, als sie hier anfing, durch die Tür trat und sagte, "Martin, your guest from over seaside is here", und ich dachte, es wären Leute aus den USA, aber sie kamen tatsächlich aus Holland. Man hat immer die Distanz zu Europa gewahrt, aber - und das dürfen wir alle nicht vergessen - das ist nicht unbedingt splented isolation, sondern das heißt natürlich auch, dass man auf selbe Weise ganz nah an Indien ist. Es hängt einfach auch mit der Geschichte und mit der Sprache zusammen, und dann kann eben Europa schon mal weiter weg sein als die Ostküste der USA oder Indien oder andere Teile der Welt.
Was man nicht unterschätzen darf - und deshalb bin ich auch so ein glühender Befürworter für Europa; ich meine, ich bin es immer gewesen und ich halte mich für einen 150-prozentigen Europäer, dass es für mich auch persönlich wirklich ein großer Konflikt wäre, wenn bei dem Referendum gegen Europa entschieden würde. Aber was ich hier sehr schätze, auch im Alltag schätze, und ich komme gerade wieder aus einer Sitzung mit ganz vielen unterschiedlichen Nationalitäten in meinem engsten Team hier. Wir haben 28 Nationen allein am V&A. Wir haben hier ganz viele Engländer, zutiefst hier verwurzelt, mit internationaler Herkunft, und das würde ich auf gar keinen Fall verlieren wollen.
"Ich glaube, dass es schon so was gibt wie einen inneren Konflikt"
Novy: Da will ich jetzt noch einen Satz dran anschließen, dass auf der einen Seite das mentale Problem oder die mentale Einstellung der Britishness so eine große Rolle zu spielen scheint in dieser ganzen Europa-Diskussion, und auf der anderen Seite haben wir dann die einzig wirklich globale Megacity, die auf dem Kontinent keine Parallele hat, mit so viel Vielfalt. Das ist ja eigentlich enorm, die Spannweite zwischen diesen beiden Begriffen. Und doch scheinen sie zusammenzupassen?
Roth: Ich glaube, da liegt irgendwo das Problem begründet. Ich glaube, dass es schon so was gibt wie einen inneren Konflikt, und zwar nicht jetzt erst. Den gibt es schon seit langer Zeit. Nämlich, dass London aufgrund der Insellage, aufgrund des Handels, aufgrund der internationalen Dimension immer eine absolut offene Stadt, ein offenes Land war, und in dieser grundsätzlichen Offenheit denkt man in ganz anderen Dimensionen. Insofern ist man auch mit großer Freude hier international, wenn es um Europa geht, und übrigens nicht nur in London. Gehen Sie nach Manchester, gehen Sie nach Liverpool, das ist in vielen anderen größeren Städten genauso, etwa Birmingham. Das ist identisch.
In diesem Konflikt zwischen global vernetzt und äußerst weltoffen und äußerst europäisch liegt, glaube ich, hier dieser Entscheidungspunkt und für viele ist das viel zu reguliert, was Europa von England erwartet. Britishness bedeutet nicht eine abgeschlossene britische Haltung, sondern Britishness bedeutet durchaus auch für die ganze Welt offen sein.
Novy: ... sagt Martin Roth, Leiter des Victoria and Albert Museum in London.
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