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Großbritannien vor dem Brexit
Zwischen Depression und Gleichgültigkeit

Wenige Tage vor dem Brexit sei die Bevölkerung in Großbritannien gespalten: Die eine Hälfte sei deprimiert, die andere gleichgültig, sagte der emeritierte Cambridge-Professor Nicholas Boyle im Dlf. Was der Brexit wirklich bedeute, werde sich erst ab dem 1. Februar wirklich zeigen.

Nicholas Boyle im Gespräch mit Anja Reinhardt |
Protestierende gegen den Brexit nehmen an einer Kundgebung in der Innenstadt von London teil.
"Ich bin müde" - Protestierende gegen den Brexit bei einer Kundgebung in London (dpa / Sputnik / Justin Griffiths-Williams)
Am 31. Januar soll Großbritannien aus der Europäischen Union austreten, das britische Parlament hat den Gesetzesentwurf zum Brexit ratifiziert. Am 29. Januar soll das EU-Parlament zustimmen. Bis Ende des Jahres wird in einer Übergangszeit versucht, eine Form, also Verträge und Abkommen für die neuen Beziehungen zu finden.
Vor dem Hintergrund der höchst emotional geführten Debatte um den EU-Austritt seit dem Referendum und der tiefen Spaltung innerhalb der Bevölkerung herrsche wenige Tage vor dem Vollzug des Austritts eine erstaunliche Ruhe, sagte Nicholas Boyle, Germanist und emeritierter Cambridge-Professor. "Die eine Hälfte ist deprimiert, hat nichts zu sagen. Die andere Hälfte ist gleichgültig, wie schon immer."
Brexit - weiter ein leerer Begriff
Entsprungen aus einem vagen Gefühl des Unbehagens und einer Fantasie von Unabhängigkeitserklärung sei den meisten bis heute nicht klar, was der Brexit konkret bedeute, sagte Boyle im Dlf. Das werde erst ab dem 1. Februar deutlich werden: "Die Frage, wozu das Land Unabhängigkeit und Freiheit braucht, wurde nie beantwortet. Brexit war lange nach dem Referendum und unter Theresa May ein leeres Wort. Und ebenso leer ist der Begriff der großartigen Zukunft, die Boris Johnson nun verspricht."
Der Premierminister habe sich bewusst von der Verantwortung losgesagt, das britische Volk darüber aufzuklären, was es nach dem Brexit zu erwarten habe.
Dossier Brexit
Der Glanz des Empires
Die Abkehr von der Europäischen Union hänge stark mit der Frage der nationalen Identität zusammen. Seit dem Verlust des Empire habe England immer an der eigenen Identität gezweifelt, so Boyle. Die Frage nach der EU-Mitgliedschaft sei ein Ersatz für das verloren gegangene imperiale Denken. Der Glanz des Empires habe auch deshalb immer noch eine große Strahlkraft, weil die Institutionen des Königreichs weiterhin, für alle sichtbar, fortbestünden. Das Parlament sei seit zwei, drei Jahrhunderten so konstruiert, dass es für die Verwaltung eines Weltreichs ausgerichtet sei. "Dieses veraltete Denkmodell, diese Gedanken, bilden die Einheit, zu der wir in England gehören."
Der Sprachwissenschaftler sieht auch kein baldiges Ende der Spaltung der britischen Bevölkerung, vor allem dann, wenn den Menschen die Folgen des Brexit bewusst würden. Sollte Johnson sein Versprechen von der glanzvollen Zukunft nicht einhalten können, würde wohl bald ein Referendum über die Abspaltung Nordirlands folgen - und die Wiedervereinigung Irlands.