Peter Kapern: Wohin soll dieser ganze Hass noch führen? Diese Frage wirft Justizminister Heiko Maas in seiner Reaktion auf den Mord an der britischen Labour-Abgeordneten Jo Cox auf. Die entschiedene Befürworterin eines Verbleibs ihres Landes in der Europäischen Union war gestern auf offener Straße angegriffen worden, von einem Mann, der Zeugen zufolge "put Britain first" gerufen haben soll, als er mit einer Pistole und einem Messer auf die Frau losging.
Die Frage, die der deutsche Minister da stellt, die treibt seither viele Menschen um, diesseits und jenseits des Kanals. Die britische Polizei hingegen, die beschäftigt sich mit einer anderen Frage: Woher stammt der Hass? Oder anders ausgedrückt: Was war das Motiv des Täters?
In London am Telefon ist Thomas Kielinger, Buchautor, langjähriger Korrespondent der Tageszeitung "Die Welt" und ein Kenner der Insel. Guten Tag, Herr Kielinger.
Thomas Kielinger: Guten Tag, Herr Kapern.
"Angriffe auf Menschen in öffentlicher Stellung nehmen zu"
Kapern: Herr Kielinger, haben Sie die Debatte um den Brexit als so aufgeheizt erlebt, dass eine Gewalttat zu befürchten oder gar zu erwarten war?
Kielinger: Wer vom Rathaus kommt, ist immer klüger, und so glauben viele, dass dieses sozusagen im Kommen war. Soweit würde ich nicht gehen. Das kann man leicht sagen, vielleicht ist es hier nur die Einzeltat eines Verrückten oder was. Aber was man festgestellt hat ist, dass in der Tat der Ton, was auch Ihre Korrespondentin sagte, sich so verschärft hat in den letzten Tagen und Wochen, dass die Spaltung der Gesellschaft, ganz abgesehen von der Spaltung der konservativen Regierungspartei, immer tiefer wird und die Anwürfe von beiden Seiten gegeneinander haben einen Ton der Schärfe und der Aggressivität erreicht, der mir sehr zu denken gegeben hat und befürchten lässt, einmal, wie diese Partei überhaupt wieder neu sich zusammenfinden soll, und wie der Riss in der Gesellschaft zu kitten ist. Diese Frage des Referendums geht tief in viele Bereiche der Menschen hier hinein.
Kapern: Aber ich möchte gerne noch mal beim Ausgangspunkt meiner Frage bleiben, Herr Kielinger. Sie sagten, das sei möglicherweise nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Aber gleichzeitig lesen wir, dass Jo Cox schon die ganze Zeit über Drohungen, Bedrohungen erhalten habe anonymer Art.
Kielinger: Ja. Dieses Phänomen der Drohungen an Menschen in öffentlichen Funktionen ist nun nicht nur auf England bezogen. Das finden wir überall heute in der Welt. Das Netz, Twitter, Facebook ist offenbar ein Medium der Enthemmung gewesen. Früher, als das begründet wurde, dachten wir, das könnte zur Emanzipation der Menschen führen und sie leichter in Umgang miteinander bringen. Heute ist das Gegenteil zu befürchten. Die Angriffe auf Menschen in öffentlicher Stellung nehmen zu.
"Das Referendum gibt den Menschen die Gelegenheit, sich zu identifizieren"
Aus der Anonymität kommt ein Schwall von Hass auf sie zu, und hier bei Frau Cox haben wir das auch. Wir haben auch andere ihrer Kollegen im Unterhaus, die dasselbe erleiden. Es ist noch kein Mittel gefunden worden, sich dagegen zu wehren, aber diese Entwicklung beunruhigt viele, weil der Graben zwischen der Politik in diesem Fall und vielen anderen Menschen offenbar so groß geworden ist, dass sich keiner mehr an die Regeln des Anstandes und des Umgangs gebunden fühlt.
Kapern: Jetzt haben Sie in diesem, bislang noch sehr kurzen Gespräch schon drei Spaltungen thematisiert, die innerhalb der konservativen Partei, die zwischen der Politik und dem politischen Establishment und den Menschen und die Spaltung innerhalb der Gesellschaft. Schauen wir mal auf die erstgenannte. Da bezeichnen sich Parteifreunde, wenn man die denn noch so bezeichnen darf, als Lügner, Betrüger und dergleichen im Zuge dieser Brexit-Debatte. Das klingt ganz anders als eine gepflegte Debatte in einem Londoner Club. Welche Sicherung ist da durchgebrannt?
Kielinger: Herr Kapern, das ist ja eine grausame Ironie, wenn man sich dieses Referendum anschaut. Der Premierminister hatte vor drei Jahren diese berühmte Rede gehalten, wo er es ankündigte, in der Hoffnung, damit endlich das Europathema ad acta zu legen in seiner Partei und eine Versöhnung unter seinen Leuten zu stiften. Das Gegenteil ist der Fall geworden, das Gegenteil ist eingetreten. Da sind Kabinettsmitglieder, die gegen ihren eigenen Premierminister antreten.
Es zeigt tatsächlich, dass der Herr Cameron nicht durchschaut hat, wie tief diese Gretchenfrage, wie hältst du es mit Europa, in England noch unbereinigt ist, historisch unbereinigt, nie endgültig beantwortet. Und dieses Referendum gibt den Menschen die Gelegenheit, plötzlich ihre Positionen zu entdecken und sich zu identifizieren.
"Historische Beschwerde Englands, dass die Insel ein Opt-out vom Kontinent bleiben muss"
Kapern: Das müssen Sie uns jetzt als Englandkenner noch erläutern. Welche Positionen sind da historisch noch unaufgearbeitet dem Kontinent gegenüber?
Kielinger: Unaufgearbeitet ist die Frage, ob man zum Kontinent und zu einer strukturierten Verfassung, wie es die EU darstellt, überhaupt gehören mag oder nicht. Ich sage immer, eine Insel ist ein Opt-out vom Kontinent. Das muss man einfach begreifen. Dieses Land, diese Inselgruppe hat eine andere Geschichte hinter sich, wo unabhängige Trial und Error gelten, Versuch und Irrtum, man muss aus Verträgen auch wieder rausgehen können. Die endgültige Bindung an ein Vertragswerk wie die EU ist, ich würde sagen, in den größten Teilen der britischen Gesellschaft nicht verankert, und das ist entscheidend.
Die andere Seite, die für die EU ist, fühlt sich nach 43 Jahren der Zugehörigkeit an das Regelwerk des Austauschs von Handel, von Menschen, von Reisen, von Kontakten so sehr gebunden und fühlt sich darin wohl, dass sie es durchaus weitermachen könnte. Da ist eine historische Beschwerde, dass England, die Insel eigentlich ein Opt-out vom Kontinent bleiben muss, und das ist eine philosophische, eine psychologische Frage und die Unterschiede dazu führen jetzt zu diesem scharfen innerbritischen Kampf.
Kapern: Jetzt haben wir eine Partei, die an der Brexit-Debatte beteiligt ist, noch gar nicht erwähnt: die Medien. Da mussten in der Berichterstattung über die Europäische Union selbst die Nazis herhalten, um den Wählern die angebliche Monstrosität der Europäischen Union zu versinnbildlichen. Das ist, sagen wir mal ganz britisch vorsichtig, sachfremd, so sachfremd, dass man festhalten muss, da ist doch in der Debatte jedes Maß und jede Redlichkeit verloren gegangen. Was treibt diesen Teil der Medien?
Kielinger: Die Boulevard-Presse ist sozusagen immer von der Gefahr bedroht, sachfremd zu argumentieren. Die spekulieren auf den billigsten gemeinsamen Nenner, und in diesem Fall ist das die Feindschaft zu der EU. Nicht zu Europa, ich muss darauf hinweisen. Das ist eine Feindschaft zur EU als verfasstem Konstrukt.
Kapern: Aber Herr Kielinger, das Gleichsetzen von EU-Kommission und Nazi-Horden ist doch - jetzt drücke ich es mal etwas weniger vorsichtig aus - komplett irrsinnig. Wer geht dem auf den Leim?
Kielinger: Herr Kapern, ich muss noch mal erinnern: Die Briten haben eine andere Kultur der politischen Auseinandersetzung. Die ist adversarial, wie man sagt, die ist auf Gegnerschaft gebaut, die ist robust in ihrem beleidigenden Ton. Man darf beleidigen und darf beleidigt sein und beleidigt werden. Das gehört sozusagen zur politischen Kultur seit Jahrhunderten. Gucken Sie sich mal an, wie die sich im Unterhaus beharken in der Prime Minister’s Question Time. Da kommen die größten Beschimpfungen da herüber, wie wir sie in unseren Parlamenten nie denken könnten.
Mord an Jo Cox: "Er wird letztendlich keinen Einfluss haben"
Kapern: Ach herrje, Herr Kielinger. Und ich habe in der Schule gelernt, wie anständig sich Briten an der Bushaltestelle anstellen und wie höflich sie sind, und jetzt rauben Sie mir diese Illusionen.
Kielinger: Nein, das ist keine Illusion. Das gehört beides zum Charakter der Briten. Die Höflichkeit und die Disziplin in der Benutzung öffentlicher Einrichtungen, sich da einzureihen in die Schlange, und der Ton der politischen Auseinandersetzung, das sind zwei Dinge. Auch die Medien übrigens, wenn sie Politiker zu Interviews vor sich haben, gehen ja unglaublich härter gegen die interviewten Politiker vor, als wir das in Deutschland gewohnt sind. Wir sind viel zu höflich, sagen die Briten, in unseren Fragen in einem politischen Interview. Die kennen hier wirklich keine Hemmungen in der Direktheit des Angangs.
Kapern: Die, die das sagen, kennen den Deutschlandfunk nicht. - Herr Kielinger, wir müssen jetzt leider doch ganz kurz zum Ende des Interviews kommen. Aber sagen Sie mir noch ganz kurz: Der Mord an Jo Cox, wird er das Referendum beeinflussen und wenn ja wie?
Kielinger: Er wird die Menschen zum Nachdenken bringen, wieweit die Diskrepanz, der Streit und der Hass zwischen den beiden Positionen gediehen ist. Aber ich glaube, er wird letztendlich keinen Einfluss haben, denn die Leute, die den Auszug aus der EU wollen, sind dermaßen fest verankert in ihrer Ablehnung vor allen Dingen der Migranten, die hier zu Tausenden Jahr für Jahr herkommen, dass, wie ich glaube, da keine Änderung kommen wird.
Brexit liegt vorne, es sei denn, wenn wir in letzter Sekunde noch Panik bekommen unter den Menschen und sie sich anders entscheiden. Ansonsten wird es, wie ich fürchte, zum Auszug aus der EU kommen.
Kapern: Der Publizist und Buchautor Thomas Kielinger heute Mittag im Deutschlandfunk. Herr Kielinger, danke für Ihre Zeit, danke für Ihre Expertise. Schönen Tag noch.
Kielinger: Danke, Ihnen auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.