Wenige Herzschläge noch bis zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Am Parliament Square zählen Brexiteers die Sekunden herunter. Es ist Freitag, der 31. Januar 2020. Big Ben schlägt elf Uhr Greenwich Time, Mitternacht in Europa.
Der Uhrturm am Parlament wird gerade restauriert. Dass der Glockenschlag vom Band kommt, stört die Masse nicht weiter. Hier und da werden Europa-Flaggen angezündet.
Das Umstellen auf Pandemie-Modus ist zur Normalität geworden. Im Windschatten der Krise spielten sich große und weniger große, aber markante Umbrüche ab. Der "Hintergrund" im Deutschlandfunk schaut in der Serie "Im Schatten von Corona – Nebenwirkungen" auf fünf Politikfelder.
Der vorliegende Hintergrund ist Teil 5 der Serie.
28.12.2020
Europa und die USA – Trumps transatlantisches Erbe
29.12.2020
Globaler Handel in Zeiten von Corona
30.12.2020
Wie sich Politik in der Pandemie digital darstellt
31.12.2020
Straßburg, die Pandemie und das leere Parlament
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Im Unterhaus verspricht der Premierminister seinem Volk, nun werde es seine Souveränität wiedererlangen. Auch die Spaltung des Landes in Leaver und Remainer, in Brexiteers und die, die lieber in der EU geblieben wären, sei nun Geschichte.
Die alten Label langweilen Boris Johnson. Der ganze Streit, findet er, sei so verbraucht wie der zwischen den Montagues und den Capulet am Ende von "Romeo und Julia". Und wirklich ist alles ein bisschen anders am nächsten Morgen. Da beginnt die "Übergangsphase". Das Königreich ist nicht mehr EU-Mitglied, hält sich aber weiter an die Regeln der Gemeinschaft. Die Politiker haben elf Monate Zeit für einen Handelsvertrag mit der EU. Der Brexit hat erstmal Pause. Denn ein anderes Thema rückt in den Schlagzeilen allmählich nach vorn: Corona.
COBRA: So heißt in London der Krisenstab der Regierung. Ende Januar tagt er erstmals, um über das Virus zu beraten, das aus Asien in Europa angekommen ist. Gesundheitsminister Matt Hancock stuft das Risiko für Großbritannien nach der Sitzung als "niedrig" ein.
Trotz Corona: Premier Johnson schüttelt weiter Hände
Am 31. Januar, dem Brexit-Tag, werden in York die ersten COVID-Fälle auf der Insel diagnostiziert. Am 28. Februar stirbt der erste Brite an COVID-19. Nicht in England, sondern auf einem Kreuzfahrtschiff, das vor Yokohama unter Quarantäne steht.
Jetzt erklärt der Premierminister Corona zur obersten Priorität seiner Regierung. Fürs Erste beschränkt er sich jedoch auf Empfehlungen. Der Slogan "Hands, Face, Space" wird verbreitet. Die Menschen sollen oft die Hände waschen, sich nicht im Gesicht berühren und Abstand zu anderen halten. Wie ernst nimmt Boris Johnson selbst die Gefahr?
"Ich schüttele weiter Hände. Gestern Abend war ich in einem Krankenhaus mit COVID-Patienten. Da habe ich auch jedem die Hand gegeben. Das mache ich weiter so. Jeder soll selbst entscheiden. Der wissenschaftliche Rat ist, sich die Hände zu waschen. Darauf kommt es an."
Händewaschen also nach möglichem Kontakt mit dem Virus. Und zwar mindestens so lang, wie man braucht, um zweimal Happy Birthday zu singen.
Am 12. März springt das Corona-Warn-Signal von "moderat" auf "hoch" um. Im Königreich sind 590 Infizierte registriert. Die Regierung bittet Über-70-jährige und jeden mit andauerndem Fieber oder Husten zu Hause zu bleiben. Die Menschen sollen Pubs und Theater meiden. Der nationale Gesundheitsdienst NHS verschiebt nicht lebensnotwendige Operationen. Dann werden die Schulen geschlossen, die Restaurants, Sport- und Unterhaltungsstätten. Am 23. März verhängt die Regierung einen harten Lockdown über das Land, inklusive Ausgangssperren.
Krankenhausärzte "wie Lämmer auf der Schlachtbank"
Der chronisch unterfinanzierte NHS schlägt Alarm. Es fehlt an allem in den Krankenhäusern: Intensiv-Betten, Beatmungsmaschinen, Masken und Schutzkleidung für Ärzte und Schwestern. Im Fernsehen berichtet der Intensiv-Mediziner Rinesh Parmar von der Gesundheits-Front:
"Die Krankenhausärzte fühlen sich wie Lämmer auf der Schlachtbank, wie Kanonenfutter. Boris Johnson muss dringend für Schutzkleidung an der Front sorgen."
Es ist jetzt Ende März. Anfang des Monats hatte der öffentliche Gesundheitsdienst gewarnt, eine schnelle Ausbreitung des Virus über das ganze Land sei hoch wahrscheinlich. Trotzdem beschränkte sich die Regierung lange auf Ratschläge anstelle verbindlicher Vorschriften. Warum, möchte ein Journalist in den ersten März-Tagen von Patrick Vallance wissen, dem wissenschaftlichen Chefberater Boris Johnsons.
"Die große Frage ist: Warum wird unserer Regierung etwas anderes geraten als den Regierungen in vielen anderen Ländern, die strengere Maßnahmen ergreifen? Während wir der Gesellschaft erlauben, ganz normal weiterzumachen? Ist das nicht problematisch, wenn man die Ausbreitung des Virus verzögern möchte?"
Die Kritik am Krisen-Management der britischen Regierung reißt von nun an nicht mehr ab.
Anfang März rieten die Experten Downing Street also, auf Herdenimmunität zu setzen. Die meisten hätten ohnehin nur leichte Symptome. Dieser Rat dürfte Downing Street willkommen gewesen sein. Aus Sorge um die Wirtschaft. Dann erkrankt der Premierminister selbst.
Boris Johnson isoliert sich in Downing Street. Wie angeschlagen er ist, sehen die Briten, als er trotz seiner Infektion wie tausende andere Briten dem NHS applaudiert. Der Premierminister steht einsam vor seinem Amtssitz. Er ist blass, hat tiefe Ringe unter den Augen, das Klatschen scheint ihn körperlich anzustrengen. Kurz darauf wird er ins Krankenhaus eingeliefert. Aber auch in der Klinik bekommen die Ärzte seine Symptome nicht in den Griff. Johnson wird auf die Intensiv-Station verlegt. In der BBC schalten sie spät abends per Telefon zur politischen Korrespondentin.
Auf der Intensiv-Station bekommt der Premierminister Sauerstoff. Es steht fifty-fifty, dass er beatmet werden muss. Johnson ist in Lebensgefahr – und wird gesund. Im Fernsehen dankt er danach dem NHS für seine Rettung.
Queen: "Wir werden gewinnen"
Die Bürger sind erleichtert, dass ihr Premier die Pandemie überlebt hat, aber sie ächzen unter dem Lockdown. Es ist schönstes Wetter, aber sie dürfen nur eine halbe Stunde täglich an die frische Luft. Bei Verstößen drohen Geldbußen. In dieser Situation greift die Queen zu ungewöhnlichen Mitteln. In der Regel wenden sich britische Monarchen ausschließlich an Weihnachten direkt ans Volk. Ausnahmen gibt es nur in schweren Krisen. Jetzt ist es so weit. Die Ansprache der Königin wird zu Ostern im Fernsehen übertragen.
"Wir werden gewinnen. Und der Erfolg wird jedem einzelnen von uns gehören. Wir werden wieder mit unseren Freunden zusammen sein. Wir werden wieder mit unseren Familien zusammen sein. Wir werden uns wieder begegnen."
Vera Lynns "We’ll meet again" von 1943 ist der bekannteste Weltkriegs-Schlager der Briten. Ihre Anspielung zeigt, wie ernst die Königin die Lage einschätzt.
Anfang Mai werden in Großbritannien mehr Corona-Tote gezählt als in jedem anderen europäischen Land. Trotzdem lockert die Regierung den Lockdown. Zuvor hatte die britische Zentralbank vor einem Einbruch der Wirtschaftsleistung um 14 Prozent gewarnt. Aus dem Aufruf "Stay at home" wird "Stay alert", bleibt wachsam. Viele halten sich nicht mehr an die Vorschriften. Die Strände sind voll, die Briten verreisen nach Südeuropa, als wäre alles normal. Trotzdem gehen im Sommer die Zahlen zurück.
Im September steigen die Zahlen wieder, am vorletzten Tag des Monats werden 7000 neue Infektionen gezählt. Mehr als je zuvor. Seine Pandemie-Berater empfehlen dem Premierminister einen schnellen zweiten nationalen Lockdown, um die Entwicklung im Keim zu ersticken. Mitte Oktober verlangt Labour-Chef Keir Starmer dasselbe. Aber der Premierminister hat sich für ein Drei-Stufen-Modell entschieden mit gestaffelten Maßnahmen, je nachdem wie stark eine Region heimgesucht ist von der Pandemie.
"Die Idee besteht doch gerade darin, den Moment zu nutzen, um das Elend eines weiteren Lockdowns für alle zu vermeiden. Indem wir eine regionale Lösung liefern!" ruft Johnson aufgebracht.
Das sei schwer zu verstehen für einen notorischen Opportunisten, schleudert Keir Starmer Johnson entgegen. Er aber sei zum Schluss gekommen, dass es im nationalen Interesse sei, den Schalter jetzt umzulegen.
Meldung einer Corona-Mutation kurz vor Weihnachten
Die Regierung legt den Schalter erst zwei Wochen später um. Anfang November verhängt sie einen zweiten Lockdown über ganz England.
Gegen Ende des Herbst-Lockdowns dann die erlösende Nachricht: Großbritannien lässt als erstes Land einen Impfstoff zu.
Nicht mal eine Woche später geht es los. Als erste Britin wird in einem Krankenhaus in Coventry die 90-Jährige Maggie Keenan gegen COVID geimpft. Gleich darauf ruft sie alle anderen auf, es ihr nachzumachen.
"Macht es! Es ist umsonst und das Beste, was uns je passiert ist. Wenn ich es kann, könnt Ihr es auch."
Kurz vor Weihnachten wird auf der Insel eine Mutation publik. Sie soll 70 Prozent ansteckender sein als das Ursprungs-Virus. Diesmal zögert der Premierminister nicht. Er verhängt umgehend den nächsten Lockdown über besonders betroffene Regionen. Dann versucht er zu beruhigen. Es gebe keine Hinweise, dass die neue Variante gefährlicher oder tödlicher sei. Und auch keinen Hinweis, dass sie nicht auf den Impfstoff anspricht.
Die neue Variante ist außer Kontrolle, sagt Gesundheitsminister Hancock. Die Nachricht von der Mutation sei das unglaublich schwierige Ende eines grässlichen Jahres.
Aber 2020 hat noch ein paar Tage auf Lager. Für die Briten werden sie die reinste Achterbahnfahrt. Als sie von der Mutation hören, verweigern 40 Staaten Flugzeugen aus Großbritannien die Landung. Frankreich geht einen entscheidenden Schritt weiter und sperrt den Hafen von Calais für Fähren aus Dover.
Im Regierungsviertel herrsche echte Krisenstimmung, berichtet dieser Sky-Korrespondent. Man habe Angst, dass Lebensmittel knapp werden in Großbritannien.
30 Kilometer langer Laster-Stau
Die Angst ist berechtigt. Die Briten importieren das meiste frische Obst und Gemüse, das sie verzehren, vom Kontinent. Und zwar über den Ärmelkanal. Ist dieses Nadelöhr dicht, leeren sich die Supermarktregale in Windeseile. Es ist der perfekte Sturm, und er zieht sehr schnell auf. Vor Weihnachten dauert es keine 48 Stunden bis, das Chaos perfekt ist.
Tausende Laster stauen sich 30 Kilometer lang auf der Autobahn vor Dover. Nochmal so viele werden zum Parken auf ein stillgelegtes Flughafen-Feld gelenkt. Die Männer in den Kabinen bleiben sich selbst überlassen. Sie protestieren mit unausgesetztem Hupen. In ihren Anhängern vergammeln derweil Hummer und Krabben für hunderttausende Pfund. Und in den britischen Supermärkten beginnen die Verbraucher, Salat und Tomaten zu hamstern. Die Briten spüren zum ersten Mal ganz praktisch, was der No Deal in ihrem Alltag bedeuten könnte. Es ist das, was Boris Johnson euphemistisch "australisch" nennt. Kein Vertrag, sondern die Anwendung allgemeiner WTO-Regeln. Das, womit ihr Premier den Europäern gern öffentlich droht.
"Sie haben sich die letzten Monate geweigert, ernsthaft zu verhandeln. Daraus schließe ich, dass wir uns für 2021 mit Arrangements vorbereiten müssen, die eher denen Australiens ähneln."
Richtig, die Brexit-Verhandlungen, da war doch was am Jahresanfang. Vor Corona, der Pandemie, die alles andere in den Schatten stellt. Was hatte der Premierminister den Bürgern versprochen in der Brexit-Nacht?
"Wir haben dem Willen des Volkes gehorcht. Wir haben die Instrumente zurückerobert, uns selbst zu regieren. Jetzt ist die Zeit sie zu nutzen, um das volle Potenzial dieses brillanten Landes freizusetzen. Und das Leben jedes einzelnen in jeder Ecke unseres Königreichs zu verbessern."
Danach sieht es im vorweihnachtlichen Dover jedoch ganz und gar nicht aus.
Bis die Franzosen die Route wieder öffnen, liefern sich die Trucker am Hafen Handgemenge mit der Polizei. Diese Bilder laufen in der entscheidenden Phase der Verhandlungen über einen Handelsvertrag mit der EU über die Bildschirme. Monatelang hatte sich kaum jemand dafür interessiert im Königreich. Jetzt fiebern alle mit. Und fragen sich, ob das Land, wie Johnson verspricht, wirklich gedeihen wird ohne Deal.
"Nicht, dass wir keinen Deal wollten. Aber die WTO-Regeln wären völlig zufriedenstellend."
"Prosper mightily" bleibe eine sehr gute Beschreibung für das Leben der Briten nach dem 1. Januar. So oder so.
Schwerste Rezession seit 300 Jahren
Nötig wäre das. Denn Corona hat das Königreich in seine schwerste Rezession seit 300 Jahren gestürzt. Und Corona hat das Land fester im Griff als je zuvor. Unter diesen Vorzeichen geht Boris Johnson in die letzte Runde. Ab jetzt verhandelt er persönlich mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Pünktlich zur Bescherung an Heiligabend verkünden beide Seiten dann den Durchbruch. EU-Chefunterhändler Michel Barnier wandelt sein berühmtes Diktum von der tickenden Uhr ab.
Am Abend hält der britische Regierungschef bei seiner Weihnachtsansprache einen Packen Papier in die Kamera. 1246 Seiten Brexit-Vertrag.
"Ich habe da ein kleines Geschenk: Hier ist es! Eine frohe Botschaft! Der Brexit-Vertrag war nur die Vorspeise. Das hier, der Handelsvertrag, ist das Festmahl. Voller Fisch übrigens."
Na dann, guten Appetit! Viereinhalb Jahre nach dem Referendum ist der Brexit endlich angerichtet. Wie gut er den Briten wirklich schmeckt, zeigt sich ab jetzt. Vielleicht schon in diesem neuen Jahr 2021.