Archiv

Großbritannien
Zunahme von antisemitischen Übergriffen

Großbritannien galt bislang als "safe haven", als sicherer Ort für Juden in Europa. Doch inzwischen registrieren jüdische Einrichtungen auch hier mehr antisemitische Übergriffe – im Alltag genauso wie in sozialen Netzwerken.

Von Stephanie Pieper |
    Ein orthodoxer Jude läuft telefonierend an der Ahavas Torah Synagoge in Stamford Hill im Norden Londons vorbei.
    Zwischen 250.000 und 300.000 Juden leben in Großbritannien, wie etwa hier im Londoner Stadtteil Hackney. (afp / Niklas Halle'n)
    767 antisemitische Vorfälle in Großbritannien hat der jüdische Community Security Trust im ersten Halbjahr registriert und der Polizei gemeldet: So viele wie noch nie, seit der CST seine Statistik vor mehr als 30 Jahren begonnen hat – und fast ein Drittel mehr als im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres. Ein erschreckender Trend, sagt der Vize-Chef des Vereins, Mark Gardner:
    "In gewissem Sinne sind diese Zahlen keine Überraschung für uns, denn wir hören im Büro jeden Tag, jede Woche, wie sich Juden an uns wenden und schildern, welche Übergriffe sie erlebt haben. Aber wenn ich diese Zahlen mit denen von vor fünf oder zehn Jahren vergleiche, dann ist es schon schockierend."
    80 körperliche Übergriffe in sechs Monaten
    Die meisten Vorfälle sind antisemitische Bedrohungen oder Beschimpfungen – auf der Straße und zunehmend in sozialen Netzwerken, wo die Hemmschwelle besonders niedrig ist. Hinzu kommen Beschädigungen und Schmierereien etwa an Synagogen oder Grabsteinen. Aber auch 80 körperliche Übergriffe hat der CST zwischen Januar und Juni dokumentiert. All diese erfassten Fälle sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs, darin sind sich die Fachleute einig – denn Antisemitismus im Alltag wird nur selten gemeldet:
    "Wenn wir unsere Arbeit richtig machen, dann werden hoffentlich immer weniger Juden bereit sein, Antisemitismus einfach hinzunehmen – und immer mehr Opfer melden, was ihnen passiert ist. Auch das trägt natürlich dazu bei, dass die Zahlen steigen – aber der starke Anstieg ist nicht allein dadurch zu erklären."
    Zwischen 250.000 und 300.000 Juden leben in Großbritannien
    Der Community Security Trust ist ein Verein, der staatliche Zuschüsse erhält und der seine Daten mit der britischen Polizei austauscht; mit Hilfe geschulter Freiwilliger kümmert er sich etwa um die Sicherheit jüdischer Einrichtungen und Veranstaltungen. Zwischen 250.000 und 300.000 Juden leben in Großbritannien. Dass sie tatsächlich häufiger Antisemitismus erfahren als früher, dass also die Statistik des CST ein realistisches Bild zeichnet, davon geht auch Professor David Feldman aus, der Direktor des Instituts für Antisemitismus-Studien an der Birkbeck University of London:
    "Es gibt aber keinen Nachweis dafür, dass die britische Gesellschaft als Ganzes heute stärker negative Einstellung gegenüber Juden hat als früher. Wenn wir allerdings Juden in Großbritannien selbst zu ihren Ängsten befragen, dann sagt grob die eine Hälfte, der Antisemitismus habe stark zugenommen – und die andere Hälfte, der Antisemitismus habe leicht zugenommen."
    Die Täter, sofern sie ausfindig gemacht werden, haben oft rechtsextreme Einstellungen – manchmal aber auch einen linksextremen oder muslimischen Hintergrund. Gideon Falter von der Kampagne gegen Antisemitismus wirft sowohl der Polizei als auch dem Crown Prosecution Service vor, zu wenig zu wissen über diese besondere Form des Hassverbrechens – und deshalb zu wenig dagegen zu tun:
    "Die Staatsanwaltschaften bemühen sich zu selten, Antisemiten zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn aber nur sehr wenige Fälle strafrechtlich verfolgt werden, dann kann man Antisemiten kaum davon abschrecken, solche Taten zu begehen – und das ist aus unserer Sicht einer der Gründe, warum die Zahl dieser Vorfälle steigt."
    Zusammenhang mit Brexit-Debatte?
    Wie in anderen westeuropäischen Ländern nimmt auch in Großbritannien die Zahl antisemitischer Übergriffe immer dann zu, wenn es aktuell Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern gibt, die die Schlagzeilen beherrschen. Umstritten ist, ob auch die aufgeheizte Stimmung vor und nach dem Brexit-Volksentscheid offenen Antisemitismus befördert hat – die Einschätzung von Professor Feldman:
    "Gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen der Brexit-Debatte und dem Anstieg antisemitischer Vorfälle? Wahrscheinlich nicht. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Brexit-Debatte und einer stärkeren Polarisierung, einer größeren Intoleranz im politischen Diskurs – woraus antisemitische Einstellungen erwachsen können? Ja, das halte ich für wahrscheinlich."
    Etliche französische Juden sind in den vergangenen Jahren nach Großbritannien gezogen – auch, um einem zunehmenden Antisemitismus zu entfliehen. Gideon Falter hofft, dass britischen Juden dieses Schicksal erspart bleibt:
    "Noch hat sich die Stimmung nicht geändert – aber ich glaube, wir sind an der Schwelle dazu. Ich kenne Fälle von Freiwilligen aus unserer Organisation, die sich entschieden haben, wegzuziehen und nach Israel zu gehen."
    Die allermeisten Mitglieder der jüdischen Community in Großbritannien fühlten sich in ihrer Heimat nach wie vor willkommen und wohl – aber, warnt Falter, das müsse nicht so bleiben.