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Großdemonstrationen
Soziologe sieht neue Lust am Protest in Europa

Klimaschutz-Demonstrationen, Streiks in Frankreich, Anti-Regierungs-Proteste in Rumänien - Europa ist politisch in Bewegung. Dahinter stehe ein Demokratie- und Kapitalismusproblem, sagte der Soziologe Oliver Nachtwey im Dlf. Versprechen von Wohlstand und Teilhabe könnten immer weniger eingelöst werden.

Oliver Nachtwey im Gespräch mit Frederik Rother |
Aktivisten von Fridays for Future demonstrieren mit einem Banner mit der Aufschrift "How Dare You?"
Eine der wenigen europäischen Protestbewegungen: Fridays-for-Future-Aktivisten demonstrieren in Berlin für mehr Klimaschutz (dpa / Fabian Sommer)
Frederik Rother: Es ist gerade mal ein Jahr her, dass die Gelbwesten-Bewegung Frankreich mit eigenen Protesten und Gewaltausbrüchen in Atem hielt Inzwischen ist es um die Gelbwesten ruhiger geworden, Präsident Macron hat politische Konzessionen gemacht. Aber dieser Pariser Gelbwesten-Unterstützer glaubt nicht, dass das schon reicht:
"Ja, ich denke, er hat nun auch das Tempo bei seinem Reformkurs etwas gebremst. Vor allem aber ist die französische Gesellschaft in Bewegung gekommen. Speziell die kleinen Leute – dank der Gelbwesten-Bewegung sind sie nun nicht mehr bereit, alles von oben einfach so zu ertragen. Viele haben sich so politisiert und werden sich erstmals ihrer Macht bewusst. Und die anderen Bürgerbewegungen, die nun rund um den Globus aufgekommen sind, machen uns hier viel Mut."
Beispiel Europa: hier gehen in vielen Ländern die Menschen regelmäßig für mehr Klimaschutz und gegen Umweltausbeutung auf die Straße. In Italien wird gegen Rechtspopulismus und die Lega-Partei demonstriert. In Rumänien protestierten vor wenigen Monaten Tausende gegen die Regierung, ebenso in Serbien. In Ungarn gab es vor einem Jahr die größten Demonstrationen seit langem, gegen ein neues Arbeitszeitgesetz. All das zeigt: Europa ist in Bewegung. Darüber kann ich jetzt mit Oliver Nachtwey sprechen, Professor für Soziologie an der Universität Basel und Experte für soziale Konflikte. Guten Morgen, Herr Nachtwey.
Oliver Nachtwey: Guten Morgen, Herr Rother.
Rother: Herr Nachtwey, verändert sich da gerade etwas in Europa, gibt es eine neue Lust am Protest?
Nachtwey: Ja, die neue Lust am Protest kommt ein bisschen wieder. Wir hatten ja schon 2010, 2011 einen großen Protestzyklus, mit den "Indignados" in Spanien und der globalen "Occupy"-Bewegung, das ist etwas abgeebbt. Aber in einer neuen Form kehrt jetzt dieser Protest, der im Wesentlichen um die Frage geht, was ist ein Bürger, und der um die Frage der Gerechtigkeit geht, der kehrt jetzt wieder und weitet sich, und das ist das Besondere, auch sehr stark nach Osteuropa aus.
Der Soziologe Oliver Nachtwey von der Universität Basel
Sieht Teilhabe an Wohlstand und Demokratie gefährdet: der Soziologe Oliver Nachtwey von der Universität Basel (Oliver Nachtwey)
Rother: Welche Gründe gibt es dafür, dass das jetzt passiert?
Nachtwey: Es gibt nicht in jedem Land die gleichen Gründe, aber was die meisten Proteste teilen, das ist die Verklammerung von Ungleichheit und Demokratie. Und zwar auf die Frage hin, wie kann ich als Bürger in dieser Gesellschaft ein würdevolles und gerechtes Leben führen? Und welche Ansprüche habe ich da dran? Und deshalb teilen dann die osteuropäischen Demonstrationen die gleichen Anliegen um die Frage von Arbeitsmarktreformen, wie gerade erwähnt wurde, mit den französischen Reformern um die Rentenkürzung. Da geht es nämlich um die sozialen Staatsbürgerrechte.
Der Kapitalismus kann seine Versprechen immer weniger einlösen
Rother: Frankreichs Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire, der hat vor kurzem in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung gesagt: "Die Gelbwesten sind keine französische Krise. Das ist eine Krise des Kapitalismus, die alle westlichen Länder betrifft." Ist also der Kapitalismus das Problem?
Nachtwey: Ja, der Kapitalismus kann seine allgemeinen Versprechen, nämlich die Teilhabe am Wohlstand und die Teilhabe an der Demokratie, einer Art Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger, immer weniger einlösen. Und deshalb ist es nicht nur der westliche Kapitalismus, der dort in der Krise steckt, sondern wir erleben ja gerade eine im Grunde globale Protestwelle. Chile, Kolumbien, Indonesien, der Libanon, ganz Südamerika ist im Grunde in Aufruhr. Das heißt, alle diese Proteste vereint dieses Moment, dass der Kapitalismus tatsächlich in einer Funktionskrise ist, sowohl ökonomisch bei der Ungleichheit als auch demokratisch, das häufig die politischen Eliten sich nicht hinreichend auf die Anliegen der Demonstrierenden einlassen.
Rother: Welche Rolle spielt denn soziale Ungleichheit? Das ist ein Aspekt, der oft genannt wird.
Nachtwey: Ja, wir wissen ja seit den Arbeiten von Thomas Piketty, das global die Ungleichheiten, und das ist ja das Paradoxe, unsere Gesellschaften sind reicher geworden, dass global die Ungleichheit weiter gestiegen ist. Und viele Bürger machen jetzt die Erfahrung, dass die Teilhabe am Wohlstand nicht in dem Maße stattfindet, wie sie das erwarten. Sie fühlen sich dort eher abgehängt von diesem Wohlstandszuwachs, und dass es gerade in den Großstädten immer schwieriger wird, eine vernünftige Wohnung zu finden, die Kinder vernünftig auf die Universitäten zu schicken, ihnen eine Ausbildung zu gewähren oder auch für die Leute mit den schlechteren Jobs, überhaupt damit über die Runden zu kommen. Das heißt, hier kommen verschiedene Krisenmomente zusammen. Die Gentrifizierung in den Städten, die Ungleichheit der Einkommen, aber auch die prekäre Absicherung im Alter. Und diese Krisenmomente kommen gleich alle zusammen. Und dazu kommt natürlich auch noch etwas wie eine globale Krise, die Klimakrise, wo viele Menschen gerade den Eindruck haben, hier ist die Demokratie gar nicht fähig, darauf Antworten zu finden.
Starke Kritik an etablierten Organisationen
Rother: Wir haben jetzt vor allem über den Kapitalismus gesprochen. Jetzt gibt es ja in westlichen Demokratien eigentlich viele Möglichkeiten, sich politisch einzubringen, was zu verändern, zum Beispiel in Parteien. Reicht das nicht mehr aus? Gibt es also auch ein Demokratieproblem, was die Menschen auf die Straße treibt?
Nachtwey: Ja, das sehen wir schon seit den "Occupy"-Protesten und den Protesten der spanischen "Indignados" in Europa vor zehn Jahren. Es sind Proteste, die sich überhaupt nicht antidemokratisch gerieren, sie haben aber eine starke Kritik an den etablierten Organisationen, den Parteien und auch den Gewerkschaften, weil sie sagen, die erfüllen ihre Funktion nicht mehr und wir brauchen eine andere partizipatorische Protestkultur von unten, an der jeder teilnehmen kann. Und deshalb sind diese Proteste im Grunde auch häufig führungslos.
Man verzichtet ganz bewusst auf spezifische Führungsfiguren, auf die Bildung von Organisationen, was dann aber auch die Schwäche der Proteste ausmacht. Aber natürlich, diese Proteste sind eine sehr starke Kritik, nicht an der Demokratie, sie wollen mehr Demokratie, aber sie üben Kritik an den Formen der Demokratie, dass man nicht mehr für ein Interesse, für eine Idee seine Stimme abgeben kann, und dann auch erwarten kann, dass dieses Interesse, oder diese Idee auch umgesetzt werden.
Proteste werden langsam europäischer
Rother: Wenn wir den Blick von den Nationalstaaten und den jeweiligen Protesten auf die europäische Ebene richten, gibt es denn europäische Protestbewegungen, kann man davon sprechen?
Nachtwey: Es gibt es noch keine wirklichen europäischen Protestbewegungen außerhalb der Klimabewegung. Was man aber in den letzten Jahren stärker beobachten konnte, waren verschiedene Formen des Versuchs der Koordinierung. Es gab im Jahr 2011 koordinierte Generalstreiks in Spanien, Portugal und Griechenland. Es gibt jetzt Protestbewegungen zum Discounter Amazon, wo verschiedene Streikbewegungen sich zusammenschließen, es gibt aber auch politische Bewegung wie Pulse of Europe oder Diem25, die versuchen, das tatsächlich noch mal stärker zu artikulieren. Die Proteste werden europäischer, das ist aber ein langsamer Prozess. Es gibt dort Sprachbarrieren, es gibt dort Landesgrenzen, das dauert, deshalb finden die Proteste erst mal nach wie vor innerhalb der Nationalstaaten statt, weil dort eben auch die demokratische Verfassung, sagen sie, die Regeln setzt und dagegen wendet man sich erstmal.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.