Christine Heuer: Die Große Koalition steht, SPD und Union haben sich heute Nacht geeinigt: auf die Rente mit 63, den Mindestlohn, den Doppelpass für hier geborene Nicht-EU-Ausländer, also vor allem für Türken. Aber die Koalitionäre haben auch Ja gesagt zur Mütterrente und zur Pkw-Maut. Und sie haben sich auch darauf festgelegt, dass für all dies die Steuern nicht erhöht werden. Woher das viele Geld kommen soll, das dieses Paket kostet, das wissen wir noch nicht so genau.
Sicher ist: Am Ende muss zu all dem die SPD-Basis Ja sagen, sonst wird es nichts mit der Großen Koalition. So ist es ja verabredet. Am Telefon ist Stefan Schieren, Politikwissenschaftler an der Katholischen Universität Eichstätt. Er ist auch SPD-Ortsvorsitzender in Eichstätt, also das, was wir immer so als SPD-Basis bezeichnen. Guten Morgen, Herr Schieren.
Stefan Schieren: Guten Morgen, Frau Heuer.
Heuer: Der Koalitionsvertrag steht. Heben oder senken Sie den Daumen?
Schieren: Ich habe ihn in der Mitte. Es gibt viele Punkte, die zu begrüßen sind; andere sind Kröten, die wir schlucken müssen. Und vor allen Dingen - Sie haben es angesprochen – die offene Finanzierung, die ist nicht ganz unproblematisch. Das ist ja schon fast die Quadratur des Kreises, die hier gemacht werden soll. Ich befürchte ein wenig, dass die Belastungen aus den Sozialversicherungsbeiträgen steigen werden, und da muss man sehr genau hinschauen, weil da doch eigentlich die Grenze erreicht ist.
"Eine ganze Menge Kompromisse, mit denen man leben kann"
Heuer: Ja genau! War es das, was die Menschen in Deutschland wollten, als sie gewählt haben?
Schieren: Sicherlich nicht. Sie haben eine Mehrheit gewählt. Steinbrück hat das ganz schön gesagt: sie wollten sozialdemokratische Politik, aber mit einer Kanzlerin Merkel. Jetzt müssen wir schauen, ob das auch kommen wird die nächsten vier Jahre. Insofern gibt es eine ganze Menge Kompromisse, mit denen man leben kann. Aber es wird keine SPD-Programmatik geben, die eins zu eins umgesetzt werden wird, aber das war auch nicht zu erwarten.
Heuer: Das heißt ja eigentlich am Ende: Wenn Sie noch zwei Wochen darüber nachdenken, sagen Sie dann doch Ja, oder?
Schieren: Ich habe mich auch lange mit dieser Frage gequält, auch unzählige Gespräche geführt, auch mit den eigenen Mitgliedern hier im Ortsverein. Wir werden auch nächste Woche eine Ortsvereins-Versammlung machen. Aber nach Abwägung aller Für und Wider muss ich sagen: was wird denn die Alternative sein? Wenn die Basis Nein sagt und Neuwahlen kommen, dann wird das zu einer ganz schwierigen Situation für die SPD werden, und wenn man die Sachen vom Ende her denkt, dann muss ich sagen, sollte man eigentlich die Empfehlung aussprechen, dieser Koalition zuzustimmen, zumal wir ja auch die nächsten vier Jahre über die Gremien der Partei, auch über den Parteitag immer die Möglichkeit haben zu schauen, was da passiert. Und wenn die Entwicklung in eine Richtung geht, die man überhaupt nicht mehr mittragen kann, dann sollte man das nicht so wie die FDP die letzten vier Jahre machen: jedes Stöckchen überspringen, was einem hingehalten wird, sondern auch irgendwann mal die Konsequenz ziehen und sagen, nein, das entspricht nicht mehr unseren Vorstellungen, wir haben eine andere Idee von der Politik in diesem Land. Und dann muss man die Konsequenzen ziehen.
Heuer: Sie hoffen auf ein frühzeitiges Ende?
Schieren: Nein, nein! Das wäre jetzt falsch. Nicht hoffen! Das wäre ganz falsch interpretiert. Ich hoffe nicht darauf, aber man muss immer mit dieser Möglichkeit rechnen, dass man nicht alles, was dort noch einigermaßen offen dargestellt worden ist in diesem Koalitionsvertrag, dass man da nicht alles, jeden Weg mitgeht, der dort möglicherweise sich auftut. Die Koalition ist auf vier Jahre angelegt, man sollte sie in vier Jahren zum Erfolg bringen, die SPD sollte sich eine gute Ausgangsposition verschaffen in diesen vier Jahren, also nicht nach dem Motto, wir gehen jetzt da rein mit der Absicht, oder auch nur mit der wagen Absicht, das frühzeitiger zu beenden. Das wäre auf keinen Fall das, was ich für richtig hielte.
"Keine Prognose wagen, wie dieser Mitgliederentscheid ausgeht"
Heuer: Nun ist Eichstätt SPD-Basis, aber nicht die ganze SPD-Basis. Herr Schieren, wie schätzen Sie denn die Stimmung im gesamten Land ein bei Ihnen?
Schieren: Das Land kann ich jetzt schwer einschätzen. Ich war auf dem Leipziger Parteitag, dort war die Nervosität groß, die Skepsis war auch groß. In den Ortsvereinen ist es genauso, die Diskussionen gehen in alle Richtungen. Ich würde auch keine Prognose wagen, wie dieser Mitgliederentscheid ausgeht. Aber die Parteiführung zeigt einen enormen Einsatz, sie reist durchs Land und leistet Überzeugungsarbeit, und ich habe die Hoffnung, dass mit dieser Überzeugungsarbeit dann doch die Basis überzeugt werden kann, dieses Wagnis einzugehen.
Heuer: Und Sie meinen auch wirklich Überzeugungsarbeit und nicht Druck?
Schieren: Ja. Ja, auf jeden Fall Überzeugungsarbeit, und so habe ich auch die bisherigen Gespräche und Veranstaltungen verstanden. Ich kann Druck nicht erkennen. Es ist wirklich Überzeugungsarbeit und die Leidenschaft, mit der dort argumentiert wird, die ist schon insgesamt überzeugend - bei aller Skepsis, die berechtigt und auch nachvollziehbar ist.
Heuer: Die Parteispitze will ja keine Ministernamen nennen vor der Abstimmung, vor dem Abstimmungsergebnis. Wüssten Sie gern, wer antritt, bevor Sie Ihr Votum abgeben?
Schieren: Nein. Das ist mir nicht wichtig. Es ist vor allen Dingen auch so, dass wir immer gesagt haben, die Inhalte stehen vorne und die Personen stehen nachrangig. Aber dieses Detail zeigt, wie nervös die Parteiführung ist, was die Mitgliederbefragung angeht. Das muss man schon sagen. Man hat wohl befürchtet, wenn bestimmte Personalien zu früh unter der Decke hervorlugen, dass dann der eine oder andere eventuell das zum Anlass nimmt, sich noch mal anders zu entscheiden. Die Nervosität ist schon groß und sie ist auch berechtigterweise groß. Ich würde auch wie gesagt keine Prognosen abgeben.
Vorstand soll bei Ablehnung zurücktreten
Heuer: Und wenn die Basis am Ende Nein sagt, dann wird ja viel darüber spekuliert, was dann mit der Parteispitze, wie sie jetzt ist, geschieht. Muss die dann geschlossen gehen?
Schieren: Ich sehe eigentlich keine andere Möglichkeit, als dass die Parteispitze dann letztendlich die Konsequenzen zieht - bei aller Problematik, die damit verbunden ist. Man muss sich ja nur vorstellen, wenn dann tatsächlich Neuwahlen kommen, mit welcher Parteispitze soll dann eigentlich der Wahlkampf und die Wahl angegangen werden. Das wäre in der Tat das Schlimmste, was passieren kann, wenn jetzt die Basis sagen würde, in der Situation nein. Das wäre eine ganz schwere Situation für die SPD.
Heuer: Dann kommen wir noch mal zu den Inhalten. Zwei Fragen dazu. Die Erste: Worauf hätte denn die SPD auf keinen Fall verzichten dürfen?
Schieren: Ich meine - und das zeigt sich ja auch heute wieder in der Zeitung -, dass bei der Frage der Steuererhöhungen etwas mehr Nachdruck hätte ausgeübt werden müssen. Ich weiß nicht ganz genau, wie eigentlich die Aufgaben, die hier selbst die Koalition sich gegeben hat, oder die zukünftige Koalition sich gegeben hat, finanziert werden sollen. Ich weiß es nicht. Insofern glaube ich, da hätte man mehr Nachdruck üben sollen, wobei ich genau weiß, dass das offenbar die Sollbruchstelle bei der Union gewesen ist. Das ist jetzt leicht dahergesagt von der Position hier.
Heuer: Damit haben Sie eigentlich die zweite Frage, die ich dazu stellen wollte, schon fast beantwortet. Was hätte die SPD auf keinen Fall akzeptieren dürfen? Ich sage jetzt mal dazu, außer dem Verzicht auf Steuererhöhungen.
Schieren: Da kann ich jetzt nichts erkennen. Aus dem, was ich bisher erfahren habe, ist das alles im Kompromisscharakter einigermaßen erträglich und akzeptabel. Ich hätte ein bisschen mehr gerne über die europapolitischen Fragestellungen, auch über die Energiewende erfahren. Da muss man mal schauen, was genau im Vertrag steht. Aber das, was ich bisher weiß, ist im Rest so okay.
Heuer: Stefan Schieren, er ist Politikwissenschaftler an der Katholischen Universität Eichstätt, er ist aber auch SPD-Ortsvorsitzender in Eichstätt, und ich bedanke mich sehr fürs Gespräch, Herr Schieren.
Schieren: Ich danke ebenfalls.
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