Gerd Breker: Es ist also vollbracht. Deutschland soll zum dritten Mal in seiner Geschichte von einer Großen Koalition von CDU/CSU und SPD regiert werden. Nach einer 17-stündigen Marathonsitzung einigten sich die Spitzen der drei Parteien am frühen Morgen in Berlin auf einen Koalitionsvertrag. Union wie SPD zeigten sich mit dem Ergebnis zufrieden. Die Parteichefs stellen in diesen Minuten das Vertragswerk vor.
Am Telefon sind wir nun verbunden mit Professor Michael Hüther. Er ist Direktor des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft. Guten Tag, Herr Hüther.
Michael Hüther: Hallo, Herr Breker.
Breker: Der Koalitionsvertrag, er steht. Ein guter Tag für Deutschland?
Hüther: Nun, die Aussicht, eine handlungsfähige Regierung zu haben, ist ja für sich genommen eine gute Botschaft. Daran kann kein Zweifel sein. Der Vertrag an sich hat natürlich viele Botschaften, die dem nicht so ganz folgen. Das muss man deutlich sehen.
Breker: Was bedeutet er für unsere Wirtschaft, für unser Wachstum?
Hüther: Nun, es ist ja die richtige Frage im Eingang des Koalitionsvertrages in der Präambel gestellt: Was kann man tun, um in vier Jahren wirtschaftlich weiter erfolgreich zu sein, gemessen an mehr Arbeitsplätzen, höheren Löhnen und entspannter Verteilungsrelation? Aber wenn man dann reinschaut, dann ist schon die Reihenfolge überraschend. Da wird auf Seite 17 über Transparenz der Manager-Gehälter gesprochen, auf Seite 18 erst über die Industrie. Es wird etwas gefordert, Rückkehrrecht nach Teilzeit, aber das Befristungsrecht wird nicht mitgedacht. Und das erste Mal seit 20 Jahren machen wir eine neue Leistungserhöhungs-Politik in der Rentenversicherung. Das war über 20 Jahre ein Konsens, auf den demografischen Wandel ernsthaft zu reagieren. Das wird jetzt geöffnet: die Rente mit 63, die Mütterrente, die Lebensleistungsrente. Das ist wieder eine Zeit von Leistungsausweitungen. Dafür ist aber nicht der Rahmen da, und das muss uns Sorge machen.
Breker: Sind das die Kröten, die die Wirtschaft schlucken muss?
Hüther: Am Ende geht es um Kröten, die wir alle zu schlucken haben, wenn die Beschäftigungsdynamik geringer wird, denn im Kern geht es ja darum, das Industriemodell, das Deutschlands Dynamik ausmacht, weiter erfolgreich werden zu lassen. Das hat Infrastruktur-Voraussetzungen, Voraussetzungen in den Personen, die wir in Arbeit einsetzen können, da ist der demografische Wandel, Fachkräftesicherung, es hat zu tun mit der Finanzierung, aber es hat auch mit den Kostenstrukturen natürlich zu tun. Und da bewegt sich nichts bei einem immer noch komplizierten Steuersystem und einigen sehr fragwürdigen Regelungen und es heißt aber, dass die Arbeitskosten nicht so sich entwickeln könnten, wie es sein würde, wenn man diese Senkungen bei der Rentenversicherung, die ja mit 0,6 Punkten eigentlich vorgesehen war, machte. Und jetzt kommt noch Weiteres hinzu. Das heißt, wir haben hier einen Kostentreiber.
Breker: Das klingt so, Herr Hüther, die Große Koalition löst keine großen Probleme, sie bringt große Probleme?
Hüther: Bisher ist nicht wirklich zu erkennen, dass große Probleme gelöst werden. Es fehlt auch so ein bisschen die gemeinsame Geschichte. Noch mal: Wenn man das ernst nimmt, was in der Präambel steht, müsste man ja genau entlang dieser Linien auch arbeiten, und es ist alles ja sehr defensiv. Wir könnten schon längst Überschüsse im öffentlichen Haushalt haben. Das wird jetzt wieder in Aussicht gestellt im Rahmen dieser Legislatur. Das Geld wird aber gleichzeitig ausgegeben, ohne dass sichtbar ist, wie das nun zum Ausgleich kommen soll. Die große Frage des demografischen Wandels findet sich irgendwo unter ferner liefen mit allgemeinen Diskussionen über gesellschaftliche Pluralität und solche Lebensformen. Die große Frage Föderalismusreform, des Ausgleichs der verschiedenen Ebenen im Bundesstaat findet sich am Rande. Also es ist nicht wirklich zu sehen, wo die großen Aufgaben hier gewuppt werden, was die Große Koalition dann auch besonders rechtfertigen würde.
Breker: Daraus kann man lernen, Herr Hüther, dass wir mit diesem Koalitionsvertrag in keiner Weise zukunftsfest sind?
Hüther: Das ist das, was wir Sorge macht, weil wie gesagt: bei entscheidenden Themen finden sich nur wage Dinge. Auch die Aussage, mehr Gelder in die Infrastruktur zu geben, würde ja bedeuten, dass man umpriorisiert, dass man umlenkt, den öffentlichen Haushalt. Man spricht an anderer Stelle von fünf Milliarden, der gesamte Zusammenhang ist wage.
Die Energiewende: Da haben wir eine Osterhoffnung, denn 2014 zu Ostern soll die EEG-Novelle vorliegen. Gleichzeitig werden aber die Ausbauziele sehr ambitioniert formuliert, noch ambitionierter als bisher. Wie passt das zusammen? Wie kann da wirklich auch für die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land der Kostendruck, der ja aus der Energie sich ergibt, gerade bei den kleinen Haushalten mit den kleinen Einkommen, wie kann der eingedämmt werden? - Völlig offen.
Breker: Der Merkel-Union wird ja eine Art Sozialdemokratisierung vorgeworfen. Stellen Sie fest, Herr Hüther, dass hier zwei sozialdemokratische Parteien einen Vertrag geschlossen haben?
Hüther: Na ja, zumindest haben sie das nicht abgewickelt, was eine andere, sozialdemokratisch geführte Regierung, nämlich die rot-grüne unter Gerhard Schröder mit der Agenda, gemacht hat. Das war ja zum Teil zu befürchten, hat der Sachverständigenrat auch intoniert mit seinem Jahresgutachten. Da ist Gott sei Dank viel abgeräumt worden. Das hätte viel weiter gehen können. Aber wir können uns ja nicht damit zufriedengeben, bei dem stehen zu bleiben. Andere um uns herum bewegen sich und wir haben eine gute Situation der Wirtschaft. Sie ist wettbewerbsfähig, sie schafft Arbeit, sie schafft Einkommen. Das zur Basis zu nehmen, noch ein paar Dinge zu öffnen, zu flexibilisieren, auch am Arbeitsmarkt, das wäre eine Chance gewesen, und das zusammenzubinden mit mehr Bildungsinvestitionen, das ist jetzt angedacht. Man muss noch sehen, wie man das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern dann wirklich wieder zurücknimmt. Aber daraus würde eine Geschichte, das ist mir alles eher zu defensiv.
Breker: Also mehr Sozialausgaben, mehr Regulierung am Arbeitsmarkt. Vermissen Sie ein wenig die FDP?
Hüther: Na ja, gut. Es ist ja nicht so, dass die FDP vor vier Jahren in den Koalitionsvertrag wirklich die großen Highlights gesetzt hätte. Insgesamt ist die Debatte sehr einseitig. Statt zu öffnen, reden wir über Missbrauch. Ich meine, es steht hier drin, der Missbrauch beispielsweise bei Werkverträgen soll gesetzlich geregelt werden. Sie können solche Tatbestände nicht gesetzlich regeln. Dafür haben wir übrigens Gerichte. Gerichte sind dazu da, Abweichungen von der Rechtsnorm einzupflegen. Das geht bei sittenwidrigen Löhnen, das gilt beim Missbrauch von sonstigen Regelungen auch. Das ist ein eigenartiger Ansatz zu glauben, man könnte über Gesetze all dieses regeln. Das ist quasi ein Missbrauch des Gesetzgebungsverfahrens.
Breker: Nun lese ich hier, Herr Hüther, die Union und die SPD setzen in der Wirtschaftspolitik auf mehr Innovationen und mehr Investitionen. Sie streben eine neue Gründerzeit an. Sehen Sie da die ersten Anfänge in diesem Vertrag?
Hüther: Na ja, natürlich kann man die Fokussierung auf Bildung, auch auf die Hochschulen – da sind ja wichtige Sätze drin – als bedeutende Basis sehen. Es ist nicht mehr drin die Idee einer steuerlichen Forschungs- und Entwicklungsförderung gerade für kleine und mittlere Unternehmen. Das wäre ein wichtiger Baustein, wenn man gerne sonst nach Europa schaut. Das haben viele in Europa. Man könnte in der Breite die Innovationsleistung der Wirtschaft stärken. Das Infrastruktur-Thema ist adressiert, da wird man aber erst mal zu sehen haben, wie diese Mittel wirklich zusammenkommen. Die Milliarden, die da aus der Pkw-Maut herbeigezaubert werden sollen, sind nach unseren Rechnungen so kaum möglich. Insofern ist das hier alles eher noch mal ein Hoffnungswert und der Aufruf, eine neue Gründerzeit, das kann man jeden Morgen nach dem Gottesdienst ausrufen. Damit ist es noch nicht geschehen.
Breker: Im Deutschlandfunk war das der Direktor des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther. Herr Hüther, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Hüther: Sehr gerne.
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