Gerd Breker: Es ist vollbracht! Deutschland hat zum dritten Mal in seiner Geschichte eine Große Koalition aus CDU/CSU und SPD. Nach einer 17-stündigen Marathon-Sitzung einigten sich die Spitzen der drei Parteien am frühen Morgen in Berlin auf einen Koalitionsvertrag.
Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel. Guten Tag, Herr Hickel.
Rudolf Hickel: Schönen guten Tag, Herr Breker.
Breker: Ist das auch ein guter Tag für die Arbeitnehmer hierzulande?
Hickel: Ja ich denke schon, dass gerade in dem Kapitel gute Arbeit im Koalitionsvertrag einige fundamentale Änderungen zugunsten der Beschäftigten vorgenommen worden sind. Der Mindestlohn beispielsweise zählt dazu, die Organisations- und Werkverträge und vor allem auch von Leiharbeit. Da gibt es künftig eine Begrenzung auf 18 Monate. Ich sehe in diesem Bereich eigentlich den größten Erfolg, nachdem es viele andere kritische Punkte gibt an dem Koalitionsvertrag. Warum? Weil das, was sich als Fehlentwicklung seit der Agenda 2010 eingestellt hat, nämlich die massive Spaltung des Arbeitsmarktes - wir haben ja gerade auch zwei neue Berichte in Richtung wachsender Arbeitsarmut - das wird gebremst. Und um das Bild aufzunehmen, das Sie gerade schon bedient haben: Es ist ganz wichtig, dass man das, was man überhaupt nicht als Fehlentwicklung verstanden hat, auch zum Teil von der SPD, jetzt als Fehlentwicklung anerkennt und damit dagegen vorgeht.Das ist eine gute Substanz dieses Koalitionsvertrages in Richtung gute Arbeit.
Gute Ansätze bei Rentenpolitik
Breker: Kann man also schon sagen: Altersarmut, das war gestern, das gibt es nicht mehr?
Hickel: Das ist nun genau der zweite Punkt. Ich war jetzt gerade bei der Arbeitsarmut, Working Pur, Menschen, die voll arbeiten und von dem, was sie verdienen, nicht leben können. Das ist eine Folge gewesen der Deregulierung der Arbeitsmärkte. Beim Bereich der Rentenversicherung beziehungsweise der Bekämpfung der Altersarmut bin ich eher enttäuscht von dem ganzen Projekt. Da gibt es ein paar ganz, ganz gute Ansätze, die auch schon von Sigmar Gabriel genannt worden sind: die solidarische Rente beispielsweise, dass man ab 63 zu Beginn wenigstens ohne Abschläge bei voller, bei 45 Jahren Beitragspflicht aussteigen kann.
Aber bei der Rentenversicherung hat die Koalition in einer systemischen Frage entscheidend versagt. Wir wissen doch - und das zeigt sich, darüber gibt es jetzt auch viele Diskussionen -, dass der Umbau, Abbau im Grunde genommen der gesetzlichen Mindestsicherung - seit gestern haben wir OECD-Zahlen -, dass Menschen beispielsweise, die geringfügige Arbeit hatten, am Ende nur 45 Prozent Anspruch haben auf Rente, davon nicht leben können, dass auf der anderen Seite die private Kapitalvorsorge vorangesetzt, vorangetrieben werden soll. Beide oder alle drei Koalitionspartner greifen das Thema nicht auf, weil wir klar wissen, mit dieser privaten Kapitalvorsorge für Menschen, die sie nicht bezahlen können, kommt man nicht weiter. Hier ist die Reform in gewisser Weise stecken geblieben, aber das wird sicherlich ein Thema in der nächsten Legislaturperiode.
Zukunftsverbessernder Vertrag
Breker: Das klingt so, Herr Hickel, als sei dieser Koalitionsvertrag nach Ihrer Einschätzung nicht wirklich zukunftsfest.
Hickel: Es kommt darauf an. Ich unterscheide genau zwischen den großen Gebieten. Zukunftsfest oder zukunftsverbessernd, um nicht ganz so dogmatisch aufzutreten, ist er im Bereich des Kapitels der Arbeit. Da haben nun alle begriffen, dass wir Handlungsbedarf haben. Was ich auch sehr gut finde, ist die klare Betonung der öffentlichen Infrastruktur-Investitionen, die finanzielle Besser-Ausstattung der Gemeinden. Das sind alles dicke Pfunde des Koalitionsvertrages. Mängel sehe ich, das habe ich schon gesagt, bei der Frage der Alterssicherung, weil da das Grundproblem, nämlich Altersarmut, wegen des Zwangs zur privaten Kapitalvorsorge nicht geregelt ist. Und ein interessantes Kapitel ist für mich das Finanzmarkt-Kapitel, und das muss man, glaube ich, zweimal lesen: Regulierung der Finanzmärkte und Banken. Da steht ein unglaublich toller Satz in dem Koalitionsvertrag: „Unsere Politik wird es sein, wieder die Realwirtschaft auch über den Finanzsektor zu stärken.“ Das ist unheimlich gut.
Aber die Vorschläge, die dann gemacht werden, beispielsweise zu dem ja bereits vorliegenden Gesetz, den Börsen-Turbohandel zu beschränken, oder auch die Abschirmung gegen spekulatives Investment-Banking, geht viel zu wenig weit. Und in einem Punkt gibt es einen faulen Kompromiss: Es stand noch vorgestern oder vorletzte Nacht stand in einem Entwurf noch drin, dass bei der Beschränkung der Manager-Gehälter eine Quote beziehungsweise eine Relation eingeführt wird, nicht mehr als das 20fache im Durchschnitt der Arbeitnehmer. Die ist gestrichen worden. Jetzt steht nur eine Banalität drin, nämlich der Aufsichtsrat schlägt vor und die Hauptversammlung beschließt die Höhe der Manager-Gehälter. Damit ist eines der Grundprobleme der wirklich dynamisch sich nach oben entwickelnden Manager-Probleme in dem Koalitionsvertrag zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht gelöst.
SPD-Mehrheit wird wohl zustimmen
Breker: Sie sind ein Routinier in der Beobachtung der politischen Szene, Herr Hickel. Glauben Sie, dass der einfache SPD-Anhänger, das einfache SPD-Mitglied diesem Vertrag zustimmen kann?
Hickel: Ach, das ist eine ganz schwierige Frage, Herr Breker. Ich vermute mal, am Ende wird eine Mehrheit - ob sie knapp ist, weiß ich gar nicht – zustimmen. Es gilt ja, im Grunde genommen einen Trade Off oder einen Austauschhandel zu begründen. Die SPD ist ja in die Wahlen gegangen mit deutlichen Steuerforderungen, beispielsweise der Erhöhung des Spitzensteuersatzes, Vermögenssteuer. Das ist alles gestrichen. Und die entscheidende Frage - und ich glaube, da wird am Ende die Führung obsiegen in der Abstimmung beziehungsweise Zustimmung finden -, die entscheidende Frage ist: Man hat sich in den Koalitionsverhandlungen entschieden, von der SPD zu sagen, wir können das Thema Steuererhöhungen nicht vorantreiben, obwohl es eines unserer Lieblingsthemen ist, dafür konzentrieren wir uns auf das, was die Menschen in Deutschland wirklich extrem belastet, beschäftigte Menschen, erwerbsfähige Menschen, die im Grunde genommen von ihrer Arbeit nicht mehr leben können, die, wenn man so will, in modernen - wir haben gerade neue Fälle wieder - Ausbeutungsverhältnissen leben, da zu stoppen, da einen Riegel vorzuschieben. Ich glaube, mit dem Argument - meine Vermutung, meine Prognose -, mit dem Argument, das ja auch gar nicht so schlecht ist, wird sehr stark jetzt gekämpft um die Zustimmung, und ich könnte mir vorstellen, dass am Ende davon auch die Zustimmung abhängig ist beziehungsweise die Zustimmung erfolgen könnte.
Breker: Die Einschätzung des Bremer Wirtschaftswissenschaftlers Rudolf Hickel im Deutschlandfunk. Herr Hickel, ich danke Ihnen dafür.
Hickel: Schönen Dank, Herr Breker.
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