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Große kommentierte Frankfurter und Berliner Ausgabe

Große kommentierte Frankfurter und Berliner Ausgabe der Werke Bertolt Brechts Suhrkamp und Aufbau Verlag, 33 Bände, je Band ca. 78 Mark

Helmut Lethen |
    Gedächtnisband der Zeitschrift "Theater der Zeit" Theater der Zeit-Verlag, Klosterstr. 68 - 70, 10179 Berlin, erscheint zweimonatlich, 24,80 Mark

    Susanne Winnacker: Wer immer es ist, den ihr sucht, ich bin es nicht Zur Dramaturgie der Abwesenheit in Brechts Lehrstück "Die Maßnahme" Peter Lang Verlag, 1997, 183 Seiten, 65 Mark

    "Der 'Egoist' Johann Fatzer dersertiert mit drei weiteren Soldaten, aber ihn überfällt keine Lust zu leben, er will nicht für andere, geschweige denn für die Gesellschaft funktionieren, kein Rad sein, das vom Wasser der Geschichte bewegt wird, und zu den Kameraden, die ihn vom Strick abschneiden, sagt er ‘Ich bin gegen eure mechanische Art, denn der Mensch ist kein Hebel.’" Ausgerechnet diese Geschichte aus dem Fundus abgebrochener Entwürfe von Brecht erzählt Klaus Völker anlässlich des 100. Geburtstags von Brecht. Damit im Gedächtniskult die Widerhaken nicht vergessen werden, erinnert er an eine Fabel, die man von einem, dessen Denkmal als "Klassiker der marxistischen Parabel" so trostlos in der Bildungslandschaft herumsteht, nicht erwartet. Es ist die Geschichte des Deserteurs Fatzer, der alle sozialen Rollen, die ihm seine Kameraden zuweisen wollen, ablehnt und darum von ihnen exekutiert wird. Aber erreicht wird durch seine Exekution nichts; die drei Soldaten werden ihrerseits als Deserteure erschossen. Während aber Brecht, über die Bruchstücke seines Entwurfs gebeugt, nicht ohne Entgeisterung seufzte: "Das ganze Stürk, da ja unmöglich, einfach zerschmeißen für Experiment, ohne Realität zur Selbstverständigung", interessiert Theatermacher und jüngere Wissenschaftler nicht so sehr wie dieser rohe Materialkomplex. Gerade weil in ihm alte Anschlüsse an sinnvolle Lehren gekappt, die funktionellen Drähte zu den Harmonien der letzten Fassungen seiner Meisterwerke durchschnitten sind und lose heraushängen. In diesen disparaten Textblöcken vermeint man den "Herzton des Bösen", den Heiner Müller an diesem Autor bewundert hatte, in besonderer Reinheit schlagen zu hören, hier begegnet man, so scheint es, dem "Furchtzentrum" des Brechtschen Unternehmens unmittelbar.

    Klaus Völkers "Salve an die Zukunft", aus dem ich zitiert habe, erschien in der Sondernummer der Zeitschrift "Theater der Zeit" im Herbst 1997. Eine beachtenswerte Nummer, von dem amerikanischen Wissenschaftler Marc Silbermann zusammengestellt und mit einem Gedicht von Heiner Müller eröffnet. Die Textfetzen oder ausformulierten Blöcke des Fatzer-Projekts sind inzwischen im Band 10 der abgeschlossenen Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke Brechts zu finden. Die von Heiner Müller arrangierte Bühnenfassung "Der Untergang des Egoisten Fatzer" kann endlich mit dem Steinbruch der ungeordneten Fragmente verglichen werden.

    Das Merkwürdige des Gedächtnisbandes der Zeitschrift "Theater der Zeit" ist der Gestus des Vergessens, der den ganzen Band auszeichnet: das in Marmor gemeißelte Profil des Jubilars wird ausgelöscht. Spöttisch nennt der Dramatiker Hartmut Lange ihn einen "Klassiker der marxistischen Ballade". Nur noch in der Verfluchung durch die jüngeren Theatermacher, die ihn sehr geliebt haben müssen, erscheint noch einmal der Autor Brecht als eine doktrinär-geschlossene Figur: Seine Subjejektverachtung, flucht Hartmut Lange, habe Brecht blind über Kafka, Nietzsche, Sartre und Camus hinwegsehen lassen, seine Verse seien oft klüger als sein Urheber gewesen. Man habe bei ihm zwar lesen können "Bedenke den Wechsel der Zeiten", diesen Denken nachzuvollziehen habe aber seine eigene Vorstellungskraft überstiegen. Wie man sieht, wird nur noch im Lager der Gegner an einem Fahndungsbild mit scharfen Konturen gearbeitet.

    Unter den Liebhabern zerfällt sein Bild. In dem Gedenkbuch, auf das hier hingewiesen wird, zersplittert das Portrait des Jubilars in 52 Ansichten. Robert Wilson zum Beispiel bekennt, wenig von Brecht gelesen zu haben, sich ihm aber in der Aufführungspraxis sehr nahe zu fühlen. Wie Brecht halte er nichts von "Sinnsuche" auf der Bühne. Wenn Brecht seinen Kritikern in den 20er Jahren empfohlen habe "Wenn Sie etwas Sinnvolles sehen wollen, müssen Sie in ein Pissoir gehen", dann finde dieses schockierende Verfahren des Meisters jedenfalls seine Zustimmung. Ein jüngerer Regisseur, Einar Schleef, der sich mit seiner Inszenierung des Puntila-Stücks weigerte, das Märchen vom Herrn und Knecht sozialistisch zu frisieren, plädiert dafür, den "Brecht-MülI" der verordneten Konzeptionen beiseite zu räumen, die unter den Müll-Deponien der offiziellen Brechtinterpretationen lagernden Bühnenräume neu zu erschließen. Er erzählt von dem Skandal, den er in jungen Jahren schon durch einfache Eingriffe in den Brechtkult ausgelöst hat: "Es gab immer ein Bodentuch auf der Bühne. Das hatte der Brecht installiert, und das habe ich damals, bei meiner ersten Arbeit abreißen lassen. Da strömte das Theater zusammen, von der Intendantin bis zur Sekretärin, alle standen da und sahen zu, wie das Bodentuch abgemacht wurde. Zum ersten Mal sahen die Mitarbeiter des Theaters, daß unter diesem Teppich Holzbretter waren. Für mich war der Abriß keine Destruktion, sondern ich mußte mir diesen Raum zu eigen machen." Schleef formuliert dann in 10 Maximen seine Vorstellung von Figuren auf der Bühne, die erkennen lassen, welcher Gewaltakte es bedarf, um aus dem Schatten des Meisters herauszutreten. Schleefs achtes Gebot zum Beispiel lautet: "Eigene seelische und sexuelle Probleme durch die Figur angehen, d.h. überwinden. Zeige dich deinem Partner, auf der Bühne, wund. Nur das entspannt, nicht die Kantine, ficke ihn, wenn du mußt. Der Zuschauer zahlt und ist genau für diesen Exhibitionismus anwesend, deshalb sitzt er im Dunkeln."

    Daß dies als Schlag gegen die Diskretionsräume der Brechtschen Bühne gemeint ist, wird deutlich, wenn man den Bericht liest, den Regine Lutz, die von 1949 bis 1960 Schauspielerin am Brecht Ensemble war, über ihre Zusammenarbeit mit Brecht in gleichen Gedächtnisbuch gibt. Da Brecht an Psychologie "null interessiert" gewesen sei, habe man weder lbsen und Strindberg noch Tschechow gespielt. Im übrigen habe Brecht einer Verfremdung seiner eigenen Stücke "total humorlos" gegenübergestanden. Auffällig sei seine energische Abwehr der Zurschaustellung nackter Körper auf der Bühne gewesen. Der Anblick "kalbfleischfarbener, spärlich behaarter Schauspielergestalten" unter dem gnadenlos weißen Flutlicht seiner Bühne sei im Kosmos seines Theaterraumes ganz undenkbar gewesen. Regine Lutz erinnert sich, wie streng die Sitten gewesen seien. Brecht habe so scharf auf die "Wahrung des Schamgefühls" seiner Zuschauer geachtet, daß er noch auf der Hauptprobe des Stückes "Der Hofmeister" eine "derbe Litze aus weißem Baumwollstoff vorne an den Ausschnitt meines Unterkleides" das sie in der Bettszene getragen habe, genäht werden mußte, "um den Busenansatz zu verbergen."

    In der Theater-Situation der neunziger Jahre, in der der nackte Körper auf der Bühne als besonders "authentisch" gilt, wird man solche Erinnerungen nicht ohne Schaudern hören. Den Kenner der pornographischen Gedichte Brechts wird es erstaunen und anregen, über die Rolle der Scham in Brechts Theater nachzudenken. Denn Scham war bei Brecht sicher keine Bewußtseinsschranke. Er beugte sich nicht einem gesellschaftlichen Tabu, das einen Abgrund, über den nicht gesprochen werden durfte, bewacht hätte, Scham hat in seinen Texten eher die Rolle eines "Hüters der Ferne". Brecht wollte auf sie als erotisches Spielelement, als Umweg nicht verzichten, wenn er auch in seiner Lyrik den Reiz der Pornographie als Reiz der abkürzenden Rede und Reiz der Zerstückelung des Körpers schätzte. Vielleicht zählte das schamhafte Verhalten, zu dem er die Schauspielerin anhielt, zu jenen unheimlichen Techniken, die sich oft in seinen Verhaltensregeln finden. Verlangte er doch: "Jeder sollte sich von sich selbst entfernen. Sonst fällt der Schrecken weg, der zum Erkennen nötig ist!" Läßt sich so auch der Scham als einem höchst artifiziellen Manöver etwas abgewinnem, so läßt sich nicht verhehlen, daß die Szenen, die Regine Lutz in Erinnerung ruft, schauerlich sind. Plötzlich gibt sich die Scham als Innenfutter eines Kontrollsystems zu erkennen, dem der alte Brecht nicht nur die Körper auf der Bühne, sondern auch die Aufführungspraxis und seine Texte unterwerfen wollte.

    Weil ihm nicht nur die fremden Körper auf der Bühne sondern auch die eignen Texte immer wieder aus dem Ruder zu laufen drohten, unterwarf er sie seinen ratlosen Modellierungen. Um so verständlicher ist es, daß sich Theatermacher und jüngere Forscher auf das Fragmentarische werfen und dazu neigen, auch die Konturen der abgerundeten Werke wieder aufzubrechen. So hat man neuerdings vorgeschlagen, die Lehrstücke, welche bei Freund und Feind des Brechtschen Werkes einmütig als Skandal betrachtet wurden, in ihrer statuarischen Geschlossenheit aufzulösen und sie im Zusammenhang mit allen Fragmenten und Notizen der Jahre 1929 bis 1932, im Netz der Querbezüge als einen einzigen Materialkomplex zu lesen.

    Susanne Winnacker hat dies in ihrem Buch über das Lehrstück "Die Maßnahme" unternommen und ist zu außerordentlichen Entdeckungen gekommen. Wir erinnern uns an die karge Fabel dieses Stücks. Agitatoren der kommunistischen Partei berichten vor einem Kontrollchor in Moskau über die Gründe und den Hergang der Exekution eines "jungen Genossen". Sein Körper wurde im Kalk ausgelöscht, seine Stimme muß nun von denen, die ihn hinrichteten, simuliert werden. Susanne Winnacker liest das Stück als ein "Strafritual", dessen artistischer Wert darin liegt, daß es eine Erkenntnis im weißen Flutlicht der Bühne zu Schau stellt, deren Aktualität in einem Jahrhundert der Auslöschung schwerlich abgestritten werden kann. ‘Die Maßnahme’, so formuliert sie," ist eine Maschine, welche die Wahrheit in Abwesenheit der Opfer zu produzieren vermag."

    Mit solchen Maschinen haben wir es auch in jedem Gedächtnisritual zu tun, in denen das Objekt der Erinnerung unwiderruflich abwesend ist, wie Brecht zu seinem hundertsten Geburtstag am 10. Februar 1998. Aber Brecht ist in seinen eigenen Erinnerungsritualen sowieso davon ausgegangen, daß das Vergessen der gesamten Gestalt nötig ist, um vielleicht einen Zipfel der Verschwundenen zu erfassen. In einem wenig bekannten Gedicht über Charlie Chaplin hat er diesen Vorgang des wahren Gedächtniskults folgendermaßen geschildert:

    In ein Bistro des Boulevard Saint Michel kam an einem regnerischen Herbstabend ein junger Maler Trank vier, fünf jener grünen Schnäpse und berichtete Den gelangweilten Billardspielern von einem erschütternden Wiedersehn Mit einer einstmaligen Geliebten, einem zarten Wesen Nunmehr Gattin eines wohlhabenden Fleischhauers. "Schnell, meine Herren", rief er beschwörend, "bitte, die Kreide, Die Sie benutzen für Ihre Queues!", und knieend am Boden Suchte er, zitternder Hand, ihr Bildnis zu zeichnen Sie, die Geliebte entschwundener Tage, verzweifelt Auswischend was er gezeichnet, von neuem beginnend Wiederum stockend, andere Züge Mischend und murmelnd: "Gestern noch wußte ich sie", Über ihn stolperten fluchende Gäste, erbost der Wirt Nahm ihn am Kragen und warf ihn hinaus, doch rastlos an Fußsteig Kopfschüttelnd jagte er nach mit der Kreide den Zerfließenden Zügen."