Archiv

Große Reden, große Redner? (2/3)
Obamas Reden: Politik als Storytelling

Barack Obama war als Präsident ein herausragender Redner. Seinen Aufstieg ins höchste Amt der USA verdankt er dieser Kunst. Als Redner war er vor allem ein Erzähler. Indem er seine persönliche Geschichte mit der Geschichte Amerikas und der seiner Generation verband, gelang es ihm, gesellschaftliche Strömungen zu einen, die lange unversöhnlich schienen.

Von George Blaustein |
    US-Präsident Barack Obma während seiner letzten Pressekonferenz am (18.01.2017).
    Barack Obamas Reden versprachen mehr, als er am Ende erfüllen konnte. (AFP / Nicholas Kamm)
    Die Kraft seiner Reden weckte Hoffnungen, die er am Ende nicht erfüllen konnte. Der Krieg gegen den Terror wurde zum geräuschlosen Drohnenkrieg. Die amerikanische Gesellschaft war zum Ende seiner Amtszeit unversöhnter als zuvor. Symptomatisch sein vergebliches Reden für strengere Waffengesetze, das mit jedem Schulmassaker mehr zur bitteren Routine erstarrte.
    George Blaustein ist Amerikanist an der Universität von Amsterdam. Der Essay erschien zuerst unter dem Titel "The Obama Speeches - Drones need no Churchills and deserve no Lincolns" im Magazin n+1 Nr. 27, Winter 2017. - Aus dem Englischen von Sibylle Salewski.
    Die Sendereihe "Große Reden" ist Teil eines gemeinsamen Projekts des Deutschlandfunks mit ARTE, arte.tv/grosse-reden

    Obamas Reden
    Politik als Storytelling
    Von George Blaustein
    Erinnern Sie sich noch an dieses "Yes We Can”? Das war im Jahr 2008. Barack Obama hatte gerade die Vorwahlen in New Hampshire gegen Hillary Clinton verloren. Er räumte seine Niederlage ein, in einer Rede, die mehr eine Predigt war. Diese Predigt wurde zu einem Song: Eine Handvoll "We-are-the-world”-Promis sangen in trauter Einstimmigkeit zu einfachen Akkorden "Yes we can” in die Kamera. Dieses Musikvideo war ein Wendepunkt in der "Veryoutubeung" der amerikanischen Politik. Ich fand dieses Video schon damals peinlich, trotz Kareem Abdul-Jabbar und Herbie Hancock. Selbst heute tut es weh, sich das anzusehen. Es sträuben sich einem die Nackenhaare.
    Immerhin - wenn es um Redekunst geht, dann hat "Yes we can" gezeigt, dass man auch zu einer Wahlkampfrede singen kann. Obama hat der Form neues Leben eingehaucht. Die Rede versprach politische, nationale und geistige Erlösung, sprachlich war sie weitgehend förmlich. Ein "Chor der Zyniker" rede uns ein, wir könnten keinen Erfolg haben. Dieser Chor werde "in den kommenden Wochen und Monaten nur lauter und dissonanter werden." Aber hört genau hin - unter all dem Lärm und der Dissonanz werdet ihr das Flüstern der wahreren amerikanischen Erzählung hören: "Yes we can".
    Es wurde geflüstert von "Sklaven und denen, die die Sklaverei bekämpften, während sie den Weg durch die finsterste Nacht hin zur Freiheit bahnten." Es wurde zum Gesang "der Pioniere, die sich durch eine unerbittliche Wildnis nach Westen kämpften." - Moment! - Waren nicht einige dieser "Yes-we-can"-Pioniere Sklavenhalter und ermordeten Indianer? Wahrscheinlich! Aber in dieser "unglaublichen Geschichte, die Amerika ausmacht", weicht Dunkelheit dem Licht.
    Manche Reden sind zu wichtig, um sie anderen zu überlassen
    Macht man eine Bestandsaufnahme von Obamas Reden, ist man allein davon überwältigt, wieviel ein Präsident reden muss. Ein moderner Präsident hält tausende von Reden, und jede einzelne wird auf der Website des Weißen Hauses veröffentlicht. Manche Anlässe sind von enormer Bedeutung und es kann einem ganz schwindelig werden, wenn man sie nebeneinander betrachtet: An einem Tag verkündet der Präsident in Kairo eine neue Ära der Beziehungen zwischen Amerika und der islamischen Welt, am nächsten redet er in Buchenwald an der Seite von Angela Merkel und Elie Wiesel. Viele Anlässe sind Pflichtveranstaltungen, wiederholen sich oder wirken lächerlich ("Worte des Präsidenten zum "Abend der Country Musik"). Langweilige Reden zur Lage der Nation, Reden vor Soldaten während Überraschungsbesuchen in Afghanistan, hohle Appelle an Gewerkschaften, selbstironische, amateurhafte Stand-up-Comedy beim White House Correspondents Dinner, Toasts, Grabreden. (…) Alles zusammen bildet ein gewaltiges Gesamtwerk von Erhabenem und Nichtigkeiten. (…)
    Auch nach zwei Amtszeiten umgibt Obamas Reden eine mystische Aura, seine Stimme bleibt unverwechselbar. Es gibt Bilder, wie er die Entwürfe seiner Redenschreiber sorgfältig redigiert. Manche Reden sind zu wichtig, um sie anderen zu überlassen: Er muss sie selbst schreiben. Die New York Times berichtet, dass Obama diese Reden gerne nachts schreibt, allein, nur mit einem Schreibblock und einem asketischen Snack von sieben leicht gesalzenen Mandeln. Diese Reden erreichen uns als das Ergebnis mühsamer nächtlicher Studien eines einsamen weisen Mannes, wie er mit der amerikanischen Geschichte ringt, mit Rasse, Schicksal und Freiheit. Sie suggerieren Schriftstellertum.
    Die Brücke
    Man betrachte die Struktur einer klassischen Obama Rede:
    Die einen denken X, die anderen Y. Beide, X und Y, haben eine reiche Geschichte und sympathische Fürsprecher. Aber vergangene Auseinandersetzungen haben die Ansichten X' und Ys versteinern lassen. Kein Wunder, dass da manche zynisch geworden oder verzweifelt sind. Wir könnten immer so weiter machen.
    Oder wir könnten erkennen, dass jetzt der Moment gekommen ist, uns für Z zu entscheiden, weil unsere gemeinsame Geschichte - meine Geschichte - zeigt, dass Veränderung möglich ist. Sich Z zu eigen zu machen, heißt nicht, X oder Y zu verraten, es bedeutet vielmehr, X und Y gerecht zu werden, sie in Ehre zu halten, auch wenn wir sie transzendieren. Zu unseren besten Zeiten haben wir das schon früher geschafft. Ich will mit einer kleinen Anekdote enden. Sie handelt von Menschen, die sich über einen Abgrund hinweg die Hand reichen und so zeigen, dass wir alle Menschen sind.
    Die berühmteste Rede diese Art ist "A More Perfect Union", die so genannte Rede über Rasse vom März 2008. Eine Zeitlang hieß sie einfach nur "Die Rede". Kurz zuvor, während der demokratischen Vorwahlen hatten sich alle Augen auf Obamas Pastor in Chicago gerichtet, den Geistlichen Jeremiah Wright, der mit seinen feurigen Predigten Amerika für seine Sünden geiselte. "God damn America - Gott verdamme Amerika!" hatte Wright von der Kanzel gerufen, und alle politischen Gegner - von Hillary Clinton bis Dick Cheney - taten so, als seien sie zutiefst verletzt. Jetzt war politische "Schadensbegrenzung" nötig.
    Das X in dieser Rede ist Jeremiah Wright. Y ist Obamas weiße, gutherzige, aber manchmal rassistische Großmutter. Beide stehen sinnbildlich für Generationen von schwarzer Politik (X) und Generationen von weißem Ressentiment (Y).
    Ehrlicher kann eine politische Rede nicht sein
    "Ich kann Jeremiah Wright genauso wenig verleugnen, wie ich die Gemeinschaft der Schwarzen verleugnen kann. Ich kann ihn genauso wenig verleugnen, wie ich meine weiße Großmutter verleugnen kann - eine Frau, die geholfen hat, mich großzuziehen, eine Frau, die sich immer wieder für mich aufgeopfert hat, eine Frau, die mich mehr als irgendetwas auf der Welt liebt, aber eine Frau, die einmal zugegeben hat, sich vor schwarzen Männern, die ihr auf der Straße begegnen, zu fürchten und mehr als einmal hat sie rassistische oder ethnische Vorurteile geäußert, die mich zusammenzucken ließen." (Barack Obama, A More Perfect Union)
    Das Autobiographische ist zentral für diese Rede und für Obamas Anziehungskraft, weil er selbst ein Symbol ist für die Heilung der nationalen Wunde des Rassismus. Er war "die Brücke", wie David Remnick auch seine Obama-Biographie 2010 benannte. Die Rede vergleicht das Versprechen einer "more perfect union" aus der amerikanischen Verfassung mit Obamas "eigener amerikanischen Geschichte".
    "Ich bin der Sohn eines schwarzen Mannes aus Kenia und einer weißen Frau aus Kansas. Ich habe einige der besten Schulen Amerikas besucht und habe in einem der ärmsten Länder der Welt gelebt. Ich bin mit einer schwarzen Amerikanerin verheiratet, in deren Adern das Blut von Sklaven und Sklavenhaltern fließt. Ich habe Brüder, Schwestern, Nichten, Neffen, Onkel und Cousins jeder Rasse und jeder Hautfarbe, die über drei Kontinente verstreut leben, und so lange ich lebe, werde ich niemals vergessen, dass meine Geschichte in keinem anderen Land der Welt möglich wäre." (Barack Obama, A More Perfect Union)
    Er ist eine Ein-Mann-Aufhebung! Das ist es, was ihn für Schriftsteller, neben seiner politischen Arbeit, so interessant macht.
    Ein Befürworter der gleichgeschlechtlichen Ehe hält bei einer Demo ein Banner mit der Aufschrift "A More Perfect Union" in die Luft.
    "A More Perfect Union", der Titel einer Rede des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama, ist zum Slogan geworden, der in ganz neuen Kontexten verwendet wird. (dpa / Michael Reynolds)
    Obamas Rede über Rasse wird zu Recht gefeiert; ehrlicher kann eine politische Rede nicht sein. Sie setzt Zuhörer voraus, die intelligent genug sind, um einer Argumentation zu folgen, die sich über 5.000 Wörter erstreckt, und aufgeschlossen genug, einander widersprechende Vorstellungen nebeneinander stehen zu lassen. Dennoch erfasst keine Lobeshymne, die ich gelesen habe, die Wucht dieser Rede, die in mancherlei Hinsicht grausam ist: Obwohl Obama sagt, er könne seinen Pastor und seine Großmutter nicht verleugnen, tut er genau das. Im Schlüsselmoment der Rede formuliert Obama das so.
    "Wrights großer Fehler ist nicht, dass er über Rassismus in unserer Gesellschaft gesprochen hat, sondern dass er so geredet hat, als wäre unsere Gesellschaft statisch, als hätten wir keine Fortschritte gemacht. Als wäre dieses Land - ein Land, in dem es für eines seiner Gemeindemitglieder möglich geworden ist, sich um das höchste Amt im Land zu bewerben und eine Koalition zu bilden aus Weißen und Schwarzen, Latinos und Asiaten, reich und arm, jung und alt - als wäre dieses Land immer noch unwiderruflich an eine tragische Vergangenheit gebunden." (Barack Obama, A More Perfect Union)
    In einer Art hegelianischer Entwicklung verbannt Wrights Gemeindemitglied Wright selbst in eine tragische Vergangenheit.
    Das, was andere erlebt haben, in eine Geschichte verwandeln
    Während seiner Zeit als Präsident wurde Obama auf zweierlei Art kritisiert: Entweder er sei sentimental und naiv, oder er sei akademisch und abgehoben. Obama hat die Fähigkeit, das, was andere erlebt haben, mit bemerkenswerter Empathie einzufangen und in eine Geschichte zu verwandeln, die eine höhere Wahrheit enthält. Er kann das so gut, dass es vielen zu vertrauensselig wirkt, als sei er nicht durchtrieben genug für einen echten Politiker. Auf der anderen Seite aber wirkt er distanziert, anfällig für abgehobene Abstraktionen, zu vage und gelehrt für echte Politik. Diese beiden Kritikpunkte widersprechen sich. Wie kann er zugleich zu viel Mitgefühl haben und zu distanziert sein?
    Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn wir Obama nicht als einen Politiker sondern als einen Erzähler betrachten. Der Erzähler in einem Roman hat eine ähnliche Gewalt über Nähe und Distanz. Ein allwissender Erzähler kann uns eine Figur sehr nahe bringen und Mitgefühl für sie wecken. Aber in wichtigen Schlüsselmomenten zieht sich der Erzähler zurück. Das kann kalt und grausam wirken. Vergebung wird nur in der gnadenlosen Vergangenheitsform gewährt. Der Erzähler entscheidet, mit schrecklicher, unumschränkter Macht, ob man zu einer Persönlichkeit wird oder zu einer Karikatur. Obamas Rede über Rasse ist ein Meisterwerk der Erzählkunst. Das bedeutet, sie ist zugleich ein Meisterwerk der Empathie und ein Meisterwerk der Distanziertheit.
    Narrator in Chief
    Obama hatte zu Beginn seiner Amtszeit drei wichtige Vorteile: Erstens, er war nicht George W. Bush. Zweitens, er klang überhaupt nicht wie George W. Bush. - Egal wie intelligent Bush als Privatmann sein mag, er war ein jämmerlicher Redner. -
    Obamas dritter Vorteil war, dass er die Geschichte seines eigenen Wahlsiegs erzählen konnte. Er konnte sich selbst als Beweis für Amerikas Fortschritt und Weltoffenheit anführen, besonders wenn er im Ausland redete. (...)
    "Assalaamu alaykum"
    Die bedeutendste dieser internationalen Reden hielt Obama im Juni 2009 in Ägypten. Er verkündete "einen neuen Anfang" der amerikanischen Beziehungen mit der islamischen Welt. Das Publikum an der Universität von Kairo brach schon bei der einfachen Begrüßung - Assalaamu alaykum - in Jubel aus, weil es alles andere als selbstverständlich war, dass ein amerikanischer Präsident sie aussprach. Obama gab zu, dass der Irakkrieg "ein selbstgewählter Krieg" war, und er verabschiedete sich behutsam von der Doktrin eines Präventivkrieges, als wäre das eine kindische Sache. Die Regierungen vor ihm werden auch in die tragische Vergangenheit verbannt.
    "Es ist einfacher, Kriege anzufangen, als sie zu beenden".
    Es ist bitter, sich diese Rede heute noch einmal anzusehen. Die Stimmung hat sich geändert. Aber es bleibt eine gute Rede, die geschickt mit den Motiven der Zeit und der Zeitlosigkeit spielt. "Ich fühle mich geehrt, in Kairo zu sein, einer zeitlosen Stadt", beginnt Obama seine Rede. Er erinnert an die "zeitlose Poesie" der islamischen Welt. Gegen Ende kehrt Obama zum Motiv der Zeit zurück, diesmal auf andere Weise: als Ausdruck von Demut, wie bei Abraham Lincoln.
    "Wir sind alle nur für einen kurzen Augenblick gemeinsam auf dieser Welt. Die Frage ist: Verbringen wir unsere Zeit mit dem, was uns auseinander treibt? Oder bemühen wir uns, Gemeinsamkeiten zu finden? Konzentrieren wir uns auf die Zukunft, die wir für unsere Kinder wollen? Und respektieren wir die Würde eines jeden Menschen?" (Barack Obama in Kairo)
    Obama streckt begrüßend seinen Arm in die Luft. Im Hintergrund sind USA-Fraggen und die ägyptische Flagge zu sehen.
    In Kairo hielt Obama eine Rede an die muslimische Welt. Seine Begrüßung "Assalaamu alaykum" löste Jubel aus. (dpa / Mike Nelson)
    Für Reden wie diese und dafür, nicht George W. Bush zu sein, wurde Obama im Oktober 2009 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Für ihn selbst war das eine unwillkommene Überraschung, weniger als ein Jahr nach seinem Amtsantritt. Für alle anderen war es ein Grund zum Schmunzeln. Obama verdiente den Preis nur, wenn man seine Reden mit seinen Taten gleichsetzte. Das konnte man leicht tun, denn Obama gelang es, den merkwürdigen Glauben zu erzeugen, dass Reden‑Halten eine Form von Handeln wäre.
    Story Time
    In den vielen Tausend Reden, die Obama gehalten hat, gibt es eine Konstante, den Begriff der "Story". Meine Story, unsere Story, die amerikanische Story. Die Story verbindet den einzelnen mit der Nation, wie in Obamas Refrain: In keinem anderen Land der Welt wäre meine Story auch nur möglich. (...)
    All diesem Storytelling ist eine volkstümliche Countrymusik-Logik zu eigen: Schließlich gehe es in Countrymusik genau darum - um Storytelling, so hat es Obama einer Gruppe von Countrymusikern beim "Abend der Countrymusik" im Weißen Haus erklärt. Seine Worte waren genau deshalb so charmant, weil er selbst keine Countrymusik hört.
    "Es geht um Leute, die ihre Lebensgeschichten erzählen, so wie sie es am besten können. Geschichten, in denen es um Liebe und Sehnsucht geht, um Hoffnung und gebrochene Herzen, um Stolz und Schmerz. Geschichten, die uns helfen, die guten Zeiten zu feiern und über die schlechten Zeiten hinwegzukommen. Geschichten, die durch und durch amerikanisch sind." (Barack Obama, Abend der Countrymusik)
    Wie Countrymusik auch fängt dieses ganze Storytelling irgendwann an, sich falsch anzufühlen, wenn man zu viel davon hört.
    Eine Story ist der Schlüssel zum Selbst
    Auch wenn es etwas klischeehaft sein mag: Der Begriff der "Story" verrät etwas darüber, wie Obama unser "Selbst" versteht. Eine Story ist der Schlüssel zum Selbst, egal ob es sich um die Story eines Einzelnen handelt, einer Gruppe oder die Story einer Nation. Obama verleiht uns eine narrative Existenz - Du hast eine Geschichte, also existierst Du - und er bringt uns in eine gemeinsame Handlung ein, in der alle Figuren den gleichen narrativen Wert haben. Obamas Aufstieg fällt mit dem Aufstieg der Kritischen Theorie zusammen, der Theorien des Selbst und der Subjektivität. Diese Theorien hielten in den 1980er‑Jahren Einzug in die multikulturellen akademischen Institutionen, genau zu der Zeit, als Obama intellektuell heranreifte. "Alles ist Text", sagte Derrida. Obama verwandelte Text in Story, und sorgte damit, nach dem Sturm des Dekonstruktivismus, für die Ruhe des Rekonstruktivismus. Dass deine Geschichte erzählt wird - in den Kanon aufgenommen wird - heißt zu sein.
    Amerikas nationales Motto lautet "e pluribus unum". Ursprünglich bedeutete es, unterschiedliche Texte in einer Zeitschrift oder in einem Band zu versammeln; vor der amerikanischen Revolution war "e pluribus unum" der Slogan des Gentleman's Magazine. Man findet ihn auch in Gedichtsammlungen aus dem 18. Jahrhundert. In einem tieferen Sinne hat Obama diese ursprüngliche Bedeutung des Mottos wiederhergestellt. Idealistisch auf die Spitze getrieben suggeriert der Begriff der "Story", dass es in der Politik nicht um den Ausgleich von Interessen geht - letztlich noch nicht einmal um Macht. Es geht vielmehr darum, einen Textsammlung zu erstellen.
    Geschichte
    Aber Geschichten sind nicht Geschichte. Obama redet manchmal davon, dass "Geschichte uns diese oder jene Wahrheit lehrt", als sei sie der große Schulmeister, die Quelle unumstößlicher Weisheit. Viel häufiger ist Geschichte in seinen Reden das, womit wir ringen.
    Geschichte verletzt. Eine Story heilt und überwindet. Wenn sich Geschichte wiederholt, ist das ein Zeichen für das Versagen der Politik. Die Wiederholung von Stories hingegen ist ein Zeichen von Fortschritt in einem säkularen Jahrtausend. Geschichte ist tragisch. Stories sind romantisch oder komisch.
    In Obamas Reden wird jede historische Errungenschaft als die Errungenschaft einer Generation dargestellt, auch wenn das demographisch schwammig ist: die amerikanische Revolution, die Abschaffung der Sklaverei, die Bürgerrechtsbewegung. Im Februar 2009, zu Abraham Lincolns 200. Geburtstag, hielt Obama eine aufrüttelnde generationenübergreifende Rede. Sie gehört zu seinen besten.
    "Wenn die, die nach uns kommen, zurück auf unsere Zeit blicken, so wie wir zurückblicken auf die Zeit von Lincoln, dann möchte ich nicht, dass es heißen wird, wir hätten eine Wirtschaftskrise erlebt und sie nicht gemeistert; wie es bergab ging mit unseren Schulen und wie unsere Brücken zerbröckelten, aber wir hätten sie nicht wiederaufgebaut; dass sich die Welt im 21. Jahrhundert veränderte, aber Amerika sie nicht mehr geführt hätte; dass wir uns mit Kleinigkeiten verausgabt hätten, als es Großes zu vollbringen galt. Stattdessen soll es heißen, dass diese Generation der Amerikaner, unsere Generation, der Lage gewachsen war und Amerika von neuem Freiheit und unbegrenzte Möglichkeiten eröffnet hat." (Barack Obama in Illinois)
    Der Begriff der Generation kommt in Obamas Reden fast so häufig vor wie der der Story. Vielleicht ist es sein grundlegendster Begriff. Er enthält sowohl biblische als auch Marketing-Assoziationen: Er erinnert uns zugleich an das Buch Kohelet und an die Werbefachzeitschrift Adweek. (...)
    "Bedeutsamkeitserschöpfung"
    In der narrativen Welt einer Obama-Rede ist die Hauptfigur jeder Erzählung in gewisser Weise eine Generation, und der Höhepunkt jeder Erzählung ist ein Moment. George W. Bush lief stets die Zeit davon, wie Jack Bauer in der Fernsehserie "24". Die Entscheidung fällt in dem Augenblick, in dem eine Billardkugel auf die andere trifft und man, so Gott will, richtig gezielt hat. In den besten Reden Obamas hingegen verlangsamt sich, dank ihrer Eloquenz und feierlichen Erhabenheit, die Zeit selbst. Der Moment ist ein heiliger Einhalt der Taufe. Getauft als Mitglied einer Generation wird Dir, amerikanischer Bürger, ein flüchtiger Blick auf das Ewige gewährt. Wenn Obama sagt "Dies ist unser Moment", dann meint er damit sowohl den Moment in der Erzählung als auch den Moment in der Rede - dieses geweitete, geheimnisvolle, oratorische Jetzt. "Dies ist unser Moment" ist eine Beschwörungsformel, von der eine große Kraft ausgeht, weil sie die Rede, die Geschichte und die Handlung zu einem einzigen, erlösenden, visionären Ereignis vereint. Die Rede verkündet den Moment und ist der Moment.
    Die besondere Stimmung der späten Obama-Jahre lässt sich nur schwer beschreiben - ein unvermeidliches Gefühl von Verlust oder Abstieg unter Liberalen, Demokraten und der linken Mitte. Enttäuschung klingt zu paternalistisch, auch Desillusionierung ist nicht der richtige Begriff, denn die Höhen von Obamas Rhetorik und Inspiration waren nicht unbedingt Illusionen. Diese Stimmung war nicht einfach nur das Ergebnis einer gelähmten Regierung, außenpolitischer Verbrechen und Tragödien oder des Friedensnobelpreises, der keinen Frieden brachte; sie hatte nichts mit Obamas Niederlagen und Erfolgen zu tun, um die es mir hier nicht geht. Um dieses Gefühl zu beschreiben, braucht es eines dieser deutschen Komposita wie "Bedeutsamkeitserschöpfung": Es ist merkwürdig ambivalent, sich nach Erlösung zu sehnen und zugleich der Erlösung überdrüssig zu sein.
    Diese Stimmung war ein Luxus.
    Krieg
    Meist hat Obama stürmische Kriegsreden vermieden. Am ehesten kam dem seine Ansprache im Mai 2011 nahe, als er den Tod Osama bin Ladens verkündete. Er hielt diese Rede im East Room des Weißen Hauses, das Rednerpult stand im offenen Türrahmen einer Säulenhalle, so wirkte alles noch pompöser. Es war eine der seltenen Obama-Reden, die als "wichtige Programmunterbrechung" live im Fernsehen übertragen wurden. Er sprach direkt in die Kamera und las vom Teleprompter ab, was unbeholfen wirkte. Diese Rede war fast so hohl und gestelzt wie Bushs "Mission Accomplished", nur das Transparent und der Flugzeugträger fehlten. Es ging viel um Rechtfertigung, er betonte, dass "Amerikaner den Preis des Krieges kennen", obwohl die meisten das nicht tun. Zum Schluss hieß es prahlerisch, dass "Amerikaner alles schaffen können, was sie sich vornehmen", und dann folgte ungelenk: "Das ist die Geschichte unserer Geschichte." Es zeigt, wie hastig diese Rede verfasst wurde.
    Obama versuchte einen Schlusspunkt zu setzen, dabei gab es nichts Substantielles, das zu Ende gegangen war. Er führte einen Krieg, der sich nicht wie ein Krieg anfühlte, wie sollte man da große Kriegsreden erwarten? Für den Drohnenkrieg braucht man keinen Churchill. Eines Lincoln ist er nicht würdig.
    Wer wir sind
    Vielleicht sollte ich es so formulieren: Obama hat große Kriegsreden gehalten, aber es ging darin nicht um Krieg. Obamas große Kriegsreden handeln von den Schießereien in den USA. Es ist die bitterste Ironie im Korpus von Obamas Reden, dass er in diesen Momenten Lincoln am nächsten kam.
    Das erste Mal im November 2009, nach der Schießerei in Fort Hood, Texas. Obamas Trauerrede blickte voraus in ein künftiges Zeitalter:
    "Lange nachdem sie zur Ruhe gelegt worden sind - wenn die Kämpfe vorbei sind und unsere Nation überdauert hat; wenn die Soldaten und Soldatinnen von heute Veteranen und ihre Kinder erwachsen sind." (Barack Obama 2009 in Fort Hood)
    Das erinnert an die Gettysburg Address, in der Lincoln sich auf ein zukünftiges Zeitalter bezog, "das kaum beachten und sich nicht mehr erinnern wird, was wir hier sagen", aber dass "niemals vergessen wird, was sie hier taten."
    (...) Die Mittel einer herkömmlichen Kriegsrede geben chaotischen Ereignissen eine Ordnung. In Fort Hood reflektierte Obama darüber, wer wir sind.
    "Wir sind eine Nation, die durch den Mut derer, die sie verteidigen, fortbesteht."
    "Wir sind eine Nation von Recht und Gesetz."
    "Wir sind eine Nation, die der Vorstellung verpflichtet ist, dass Männer und Frauen gleich erschaffen sind."
    "Das sind wir - als ein Volk."
    (Barack Obama 2009 in Fort Hood)
    Barack Obama und seine Frau Michelle vor Denkmälern zu Ehren von toten Soldaten.
    2009 ehrte der damalige US-Präsident Barack Obama Tote von Fort Hood als Helden. (dpa / Tannen Maury)
    Das höhere Ziel verleiht einer Tragödie Sinn, nimmt ihr die Sinnlosigkeit. Doch mit der Zeit wird die Zufälligkeit der Schießereien zu einer Herausforderung für den Redner, weil Zufall sich jedweder nationalen Bestimmung oder Erzählung entzieht. Und so verblassen die Beteuerungen in den Kriegsreden. "Das sind wir" wird zur irreführenden, verzweifelten Dichtung von "Das sind wir nicht."
    Nach dem Schulmassaker von Newtown, Connecticut, weicht Obama 2012 zum ersten Mal vom Schema der klassischen Kriegsrede ab. Er beginnt mit dem üblichen nationalen "wir" und der förmlichen Sprache einer Trauerrede.
    "Mir ist sehr bewusst, dass bloße Worte der Tiefe Ihrer Trauer nicht gerecht werden können und dass sie Ihre verwundeten Herzen nicht heilen können." (Barack Obama 2012 in Connecticut)
    Dann aber wird die Sprache normal und das nationale "wir" wendet sich nach innen.
    "Das ist unsere vornehmste Pflicht: für unsere Kinder zu sorgen. Das ist unser wichtigster Job. Wenn wir das nicht hinbekommen, werden wir nichts hinbekommen. Danach wird man uns als Gesellschaft beurteilen." (Barack Obama 2012 in Connecticut)
    "Wenn wir diesen Maßstab anlegen, können wir als Nation wirklich sagen, dass wir unseren Verpflichtung nachkommen? Können wir ehrlich sagen, dass wir genug tun, um alle unsere Kinder zu schützen? Können wir als Nation behaupten, dass wir alle gemeinsam für sie da sind, dass wir sie wissen lassen, dass sie geliebt werden und dass wir ihnen beibringen, andere zu lieben? Können wir behaupten, dass wir wirklich genug tun, um allen Kindern in diesem Land die Chance zu geben, die sie verdienen, nämlich ein glückliches und sinnerfülltes Leben zu führen? Ich habe in den vergangenen Tagen darüber nachgedacht. Wenn wir ehrlich sind, dann lautet die Antwort 'nein'. Wir tun nicht genug. Und das müssen wir ändern." (Barack Obama 2012 in Connecticut)
    Dann folgen die Vornamen der 20 Kinder, die ermordet wurden: "Charlotte. Daniel. Olivia. Josephine. Ana. Dylan. Madeleine. Catherine. Chase. Jesse. James. Grace. Emilie. Jack. Noah. Caroline. Jessica. Benjamin. Avielle. Allison." (Barack Obama 2012 in Connecticut)
    Er muss ihre Geschichten nicht zusammenführen, diese Auswahl hat bereits stattgefunden.
    Verzicht auf präsidiale Höflichkeiten
    Im Juni 2015 weicht Obama um zweiten Mal vom Schema der herkömmlichen Kriegsrede ab, nachdem neun Menschen in Charleston in der ältesten afrikanisch‑methodistisch-episkopalen Kirche der Südstaaten ermordet worden sind. Obama hält die Trauerrede für eines der Opfer, Clementa Pinckney, Senator von South Carolina und Pfarrer. Obama verzichtet auf jegliche präsidiale Höflichkeiten und sagt uns mit dem ersten Satz, dass das hier keine Rede wird, sondern eine echte Predigt:
    "… Giving all praise and honor to God …" (Barack Obama 2015 in Charleston)
    Obama erzählt aus Pinckneys Leben und redet so offen, wie es ein Präsident nur sein kann, über rassistischen Terrorismus in Amerika. Der Schütze, so Obama sei Teil einer langen Geschichte von Bomben und Brandanschlägen und Schüssen auf Kirchen, nicht wahllos, sondern um Gewalt auszuüben, um zu terrorisieren und zu unterdrücken. Dem entgegen stehe die schwarze Kirche und ihre heldenhafte Geschichte. Die Kirche, "unser schlagendes Herz" sei der Ort, an dem "unsere Würde als ein Volk" unversehrt sei.
    Der Wendepunkt der Rede ist nicht die bedeutungsschwere Pause, die Obama normalerweise macht, bevor er zum transzendierenden Z gelangt und X und Y in die Vergangenheit verbannt. Es gibt in dieser Rede kein X, Y oder Z. Der Wendepunkt ist der eines Predigers.
    "God works in mysterious ways." (Barack Obama 2015 in Charleston)
    Alle anderen Mittel der Rhetorik erschöpft
    Das ist eine neue Interpretation. Der Schütze sei, ohne es selbst zu wissen, ein Werkzeug Gottes gewesen, nicht als Strafe für unsere Sünden (Pinckney war kein Sünder), sondern als das göttliche Mittel, um Gottes Gnade zu empfangen und zum Ausdruck zu bringen. - So ein Argument geht nur in einer Predigt. Es braucht den Rhythmus einer Predigt, den Gestus einer Predigt und das Amen der versammelten Gemeinde.
    Immerhin muss die Gemeinde dem Prediger in ein Paradox folgen: Wir werden durch eine Tragödie gerettet, der Schütze war blind vor Hass, aber seine Blindheit lässt uns die Liebe erkennen. Der Schütze brachte den Terror in eine Kirche und gleichzeitig brachte Gott uns Gnade, denn er erlaubte uns zu sehen, wo wir zuvor blind waren.
    Lincoln hätte so nicht argumentieren können. Auch Obama nicht zu einem früheren Zeitpunkt. Jetzt waren alle anderen Mittel der Rhetorik erschöpft.
    Gegen Ende der Predigt, nach einer langen Pause, singt Obama die erste Strophe von Amazing Grace. Er wählt eine Tonlage, die ein bisschen tief ist für seine Stimme, aber das Vibrato ist echt und zart.
    Die Band findet den Ton und die Gemeinde stimmt mit ein. Wie befremdlich und traurig, dass am Ende unzähliger Reden Obamas Gipfelpunkt nicht seine eigenen Worte sind oder die Worte eines Redenschreibers oder überhaupt nur eine Rede, sondern eine englische Hymne aus dem 18. Jahrhundert. Sie ist wunderschön, aber auch seine Ultima Ratio.
    Verbitterung
    Danach werden die Reden verbittert. Im Oktober 2015, nach einer Schießerei in einem Community College in Oregon, gibt Obama zu, dass er sich wiederholt
    "Irgendwie ist das hier zur Routine geworden. Die Berichterstattung ist Routine. Meine Reaktion hier am Podium ist letztlich Routine." (Barack Obama 2015 in Oregon)
    Im Juni 2016, nach der Schießerei im "Pulse"-Nachtclub in Orlando, ist nichts mehr übrig als eine düstere, gnadenlose Prophezeiung:
    "Wenn wir nicht handeln, werden wir weiter Massaker wie dieses erleben - weil wir uns weiter dafür entscheiden werden, sie zuzulassen. Wir werden gesagt haben, es ist uns nicht wichtig genug, etwas dagegen zu tun." (Barack Obama 2016 in Orlando)
    "Wir werden gesagt haben." - Ein seltenes Beispiel des Futur II in Obamas Reden. Lincoln sagte in Gettysburg, wir können "dieses Stück Erde nicht widmen, wir können es nicht weihen, wir können es nicht heiligen". Dieser Refrain ist in Obamas späteren Reden zur schmerzlichen Möglichkeit geworden, dass wir in all unseren Widmungen, unserem Weihen, unserem Heilig-Halten unaufrichtig sind. Es stellt sich heraus: Das - sind wir.