Mit solchen Fragen beschäftigen sich die Künstler Dani Gal und Achim Lengerer. Aus Aufnahmen von Reden und politischen oder persönlichen Statements gestalten sie Live-DJ-Sets und Audio-Installationen. Dabei kombinieren sie verschiedene Sprechweisen, Sprachen und Strategien der öffentlichen und veröffentlichten Rede und schaffen eine Situation, in der die Zuhörerinnen und Zuhörer aufgefordert werden, über die Quellen und den Kontext der jeweiligen Aufnahmen nachzudenken, so dass sie in ihren Urteilen freier sind und gleichzeitig anfälliger für inhärente politische Manipulationen.
Frank Kaspar: "Rede, dass ich dich sehe." Dani Gal und Achim Lengerer, dieser Satz aus der antiken Philosophie, aus den Dialogen des Sokrates, klingt ja zunächst mal paradox, denn wo es um die Rede geht, gilt ja eigentlich, hier gibt es nichts zu sehen. Und wenn zwei Künstler, die jeder für sich mit visuellen Strategien und mit Bildmedien arbeiten, sich hin und wieder seit Jahren treffen, um mit akustischen Medien gemeinsam zu arbeiten, dann ist das auf den ersten Blick ja auch ein Paradox. Deswegen würde ich zu Beginn am liebsten darüber sprechen, wie jeder von Ihnen auf seine Weise eigentlich diesen Weg zum Arbeiten mit akustischen Medien gefunden hat, aus welchem Hintergrund, aus welchem Interesse Sie da jeweils gekommen sind. Achim Lengerer, Sie arbeiten mit Fotografie und Film, mit Performance und Installationen. Und in Ihrer Publikationsreihe "Scriptings" bringen Sie Text und Bild, Schrift und Bild regelmäßig zusammen. Wie sind Sie von dort aus zu den akustischen Medien gekommen?
Achim Lengerer: Das war immer parallel da. Ich habe auch bildende Kunst studiert, aber in einer Filmklasse auf einer Kunstakademie, und zwar noch in den 90er-Jahren, das heißt, zu einer Zeit, in der man am analogen Schneidetisch gearbeitet hat, in der eben die Bildspur und die Tonspur getrennt waren. Deshalb habe ich sehr viel im Studium schon mit Tonspuren gearbeitet, damals auf Magnetband noch. Und mir war immer sehr bewusst, dass das quasi eine eigene Einheit gibt, und deshalb gab es immer eine Verbindung tatsächlich zu diesem "Was wird in der Aufnahme gesagt, wie wird es gesagt?" und auch eine Zeit, die ich damit verbracht habe.
Erste Platte: Radiodoku über israelischen Sechstagekrieg
Kaspar: Dani Gal, Sie haben als Videokünstler auch mit Bild und Ton immer zu tun gehabt. Seit 2005 sammeln Sie Geschichtsdarstellungen auf Vinyl. Wie sind Sie vom Audiovisuellen zum Ton gekommen? Welche Rolle hat der Ton für Sie gespielt, dass Sie da so ein eigenes Interesse an akustischen Medien entwickelt haben?
Dani Gal: Die Videos kamen ein bisschen später. Am Anfang kam ich zum Ton dadurch, mehr Musik zu hören, ganz viel elektronische Musik in Richtung von Pop- und Hip‑Hop‑Sachen. Ich habe entdeckt, dass ich Interesse habe an der außermusikalischen Komponente, die diese Künstler benutzt haben. Und dann habe ich langsam versucht zu forschen, wo kommen diese Samples und diese außermusikalischen Elemente her. Und dann habe ich das mehr und mehr konzentriert auf solche historisch-politische Vinylplatten. Die erste Platte der Sammlung war die Radiodokumentation des 67er-Kriegs in Israel, der jetzt genau 50 Jahre her ist. Das ist irgendwie ein wichtiger Anfangspunkt, weil diese Platte so ein richtiges Propagandastück ist. Die hat ganz stark versucht, das kollektive Gedächtnis zu formulieren, auf nationaler Ebene. Und dann habe ich weiter und weiter gesucht: Was gibt es als dieses Phänomen? Ich habe ganz viele Platten gefunden als so ein Phänomen, das ich immer noch zu verstehen versuche: Was ist die Motivation für Privatpersonen, so eine Platte aufzulegen und wieder zu hören?
Kaspar: Was war Ihre Motivation, die Platten aufzulegen? Sie haben beide an der Städelschule in Frankfurt am Main studiert, und Sie haben sich ja, bevor Sie begonnen haben, auch hin und wieder miteinander zu arbeiten, eigentlich über diese Sammlung, von der Dani Gal gerade gesprochen hat, getroffen und zunächst mal gemeinsam gehört, oder?
Achim Lengerer, was waren das womöglich auch so für erste Entdeckungen, die dann noch während des Sammelns auftauchten, die Sie gemeinsam gehört haben, und was hat Sie daran angesprungen?
Achim Lengerer, was waren das womöglich auch so für erste Entdeckungen, die dann noch während des Sammelns auftauchten, die Sie gemeinsam gehört haben, und was hat Sie daran angesprungen?
Lengerer: Ich kann präzise sagen, dass ich mich nicht erinnern kann, was wir angehört haben, aber dass es wichtig war, dass man so eine komplexe Information, die ja verführerisch und verstörend ist zu gleichen Teilen, je nachdem, aus welchen politischen Situationen die Information kommt und was sie beschreibt. Dass man das sozusagen beim gemeinsamen Hören, ohne dass man redet, auch erst mal, weil man muss ja zuhören, rezipiert, und von da aus dann weitergeht. Das erinnere ich sehr gut.
Die vielen Filter, durch die das Material geht
Kaspar: Weitergegangen sind Sie dann ja nach und nach, auch dahin gemeinsam mit diesem Material zu arbeiten, also mit zeitgeschichtlichen Audiodokumenten, mit politischen Reden, aber auch mit Aufnahmen, die eher das Sprechen in der Öffentlichkeit über verschiedene Kanäle dokumentieren. Sie haben mit diesem Material gearbeitet, zuletzt zum Beispiel von Mitte Juni bis Anfang Juli mit einer täglichen Sendung bei SAVVY Funk, einem künstlerischen Radioprogramm im Rahmen der documenta 14, kuratiert von dem Berliner Kunstraum SAVVY Contemporary und Deutschlandfunk Kultur. Ich würde da gern mal ein Beispiel herausgreifen und mit Ihnen einen Ausschnitt hören aus einer Ihrer Sendungen. Sie haben in einer dieser Sendungen eben ein Ereignis aufgegriffen aus dem Jahr 1968. Da gab es heftige Studentenproteste auf der Kunstbiennale in Venedig.
Die Ausstellung lag für einige Tage quasi lahm, Besucher und Künstler wurden beschimpft als Vertreter des Establishments und es gab Straßenkämpfe mit der Polizei. Sie blicken auf all das zurück mit dem argentinischen Künstler David Lamelas. Heute gilt er als ein Pionier der Konzeptkunst, damals war er als ganz junger Mann, selbst gerade Anfang 20, eingeladen, den argentinischen Pavillon zu gestalten. Und er hat dort eine Art Systemkritik von innen vorgenommen. Er hat in seinem Pavillon ein sogenanntes Informationsbüro über den Vietnamkrieg eröffnet und täglich aktuelle Agenturmeldungen vom Kriegsgeschehen in verschiedenen Sprachen zu Hören und zu Lesen gegeben. Hören wir mal einen Ausschnitt aus Ihrer Sendung mit Aufnahmen aus Venedig und mit dem Ausschnitt aus einem Interview, das Sie aktuell mit David Lamelas geführt haben.
(Einspielung Sendung)
Kaspar: Der Konzeptkünstler David Lamelas war das, zu hören in einer Sendung der Reihe "Different time, different place, different pitch" von Dani Gal und Achim Lengerer im documenta-Radio SAVVY Funk. David Lamelas spricht hier von Management und Manipulation von Informationen in den Medien. Er hat sich damals ja auf ganz besondere Weise mit diesem Thema auseinandergesetzt, indem er nämlich aktuelle Meldungen von Nachrichtenagenturen per Telex in seinen Ausstellungsraum im Biennale-Pavillon hat kommen lassen und so gezeigt hat, wie sie aus Vietnam aktuell übermittelt wurden, noch vor jeder Bearbeitung durch Agenturen oder durch andere Medien in Europa. War für Sie diese Idee von Rohmaterial oder von quasi ungefilterten Nachrichten, die er damals zeigen wollte, das Reizvolle und der Beweggrund, um diese Geschichte noch einmal aufzugreifen und den Kontakt mit ihm aufzunehmen?
Gal: Das war nicht direkt das Interesse für das Gespräch mit Lamelas. Ich habe das auch zum ersten Mal gehört und ich habe mit ihm telefonisch gesprochen. Natürlich ist das zu einem ganz interessanten Aspekt in dieser ganzen Arbeit und diesem Interview geworden. Seine Idee, unbearbeitete Medien zu bringen, ungefiltert durch die Mediennetzwerke, ist natürlich sehr interessant, und wenn wir mit den Platten arbeiten - oder diese Platten selbst sind schon das Gegenteil die sind überbearbeitetes Material. Sie sind schon irgendwo aufgenommen, benutzt durch die Mediennetzwerke, gelagert, archiviert, wieder genommen und gepresst, als Produkt zu verkaufen oder zu verschenken. Und dieser lange Weg, diese vielen Filter sind genau dieser interessante Aspekt, der Abstand, dieser blind spot zwischen sozusagen der Wahrheit und dem, was man am Ende hat oder weiß.
"Beim Hören ist es sofort wieder im Präsens"
Kaspar: Wenn Sie selbst jetzt Aufnahmen auswählen für solche Programme, wie Sie sie jetzt zum Beispiel bei SAVVY Funk gestaltet haben oder wie Sie sie manchmal an Abenden in Galerien, an Ausstellungsorten gestalten, was ist für Sie da interessant, was gibt den Ausschlag dafür, dass Sie sagen, es lohnt sich, ein Material, das ursprünglich mal in einem Zusammenhang stand, wo es zum Beispiel eine politische Rede war, oder wo es Nachrichtenmaterial war? Was muss ein Material mitbringen, sodass es sich Ihrer Ansicht nach lohnt, das noch mal hervorzuholen, das wieder zu spielen, das in einen Kunstraum zu bringen?
Lengerer: Sie haben gerade gesagt, dass es Reden waren. Das Interessante ist ja, dass sozusagen im Akustischen es, wenn man es hört, dann auch eine Rede ist. Es ist ja sofort wieder im Präsens. Also es hat immer beides. Es hat die Vergangenheit, und es hat im Hören dann natürlich den Präsens, dass das Gesagte in diesem Moment wieder da ist, eben wieder aufgeführt wird.
Gal: Nur um das zu bestärken: Auch die Natur des Sound-Materials ist auch … [weiter auf Englisch] … das würde ich gern auf Englisch sagen. Wie Achim schon bemerkt hat: Klang versetzt eine Rede wieder in die Gegenwart, und gleichzeitig gehört es zur Natur des Klangs, dass er im selben Moment wieder verschwindet, im Moment seines Auftauchens ist er gleich wieder verschwunden. Genau das macht Klang als Material so interessant, um über das Verhältnis von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nachzudenken. Darum ging es in unserer Sendung.
"Wir lernen, wie kollektives Gedächtnis konstruiert wird"
Kaspar: Sollen wir vielleicht den Ausschnitt ein Stück weiter hören. Weil Sie hatten gerade schon erwähnt, Dani Gal, es gibt da sehr unterschiedliche Materialien und Ideen, die Sie zusammengebracht haben, zum Beispiel in dieser Sendung über die Biennale und über das Experiment mit dem unbearbeiteten Nachrichtenmaterial. Denn wenn wir ein Stück weiterhören in Ihrer Sendung, dann kommt prompt ein Sammlungsstück aus Ihrem Bestand zu Gehör, was sehr durchgestaltet ist bereits. Hören wir vielleicht mal ein Stück weiter.
(Einspielung Schallplatte)
Kaspar: Was wir hier gehört haben, war eine Aufnahme von einer Schallplatte namens "Vietnam With The American Fighting Man" von 1966, eine Vinylschallplatte, oder, Dani Gal?
Gal: Ja.
Kaspar: Sie haben Aufnahmen von dieser Schallplatte schon öfter verwendet, in Sets, in Programmen, die Sie zusammengestellt haben. Womit haben wir es hier zu tun? Ich dachte ja zunächst tatsächlich, das erinnert mich sehr an die Mittel, die Elemente eines Radiofeatures zum Beispiel, wie man das in Deutschland kennt. Es gibt Field Recordings, es gibt Interviewpassagen, was wir hier jetzt nicht gehört haben. Es gibt aber so einen Erzählton, der aus einer aufwendig produzierten Dokumentarsendung im Radio stammen könnte. Womit haben wir es hier tatsächlich zu tun?
Gal: Das ist natürlich eine sehr konstruierte tondokumentarische Arbeit. Die ist natürlich sehr stark proamerikanische Propaganda, gemacht für das amerikanische Publikum, um die Unterstützung des Vietnamkriegs oder eine Rechtfertigung zu etablieren.
Kaspar: Es ist sehr emotional erzählt, was hier dargestellt wird. Und was mich überrascht hat zum Beispiel, dass der Klang des Krieges hier zum Thema gemacht wird.
Gal: Genau. Was zum Beispiel für den Vietnamkrieg sehr stark präsent ist, ist das, was er über die Hubschraubergeräusche sagt, weil die Hubschrauber zum ersten Mal im Vietnamkrieg benutzt wurden, das war eine neue Erfindung. Und das ist auch zu popular culture geworden, wie zum Beispiel in "Apocalypse Now". Jeder weiß, dass Hubschrauber diesen Krieg symbolisieren. Und was wir gehört haben, ist dieser Moment, wo diese Radiodokumentation neue Geräusche etabliert. Wir lernen also, wie so ein kollektives Gedächtnis konstruiert wird. Jedes Mal, wenn wir Hubschrauber hören, können wir an den Vietnamkrieg denken. Das ist ein kleines Beispiel.
Lengerer: Und es ist natürlich ein Material, dass sich auf die Seite und in die Perspektive dieser Soldaten begibt beziehungsweise ideologisch unterstützen soll, emotional diesen Krieg unterstützen soll vonseiten der Amerikaner. Und so ist natürlich diese Akustik auch gemacht. Es wird ganz oft - wir werden direkt angesprochen, you …, you learn, you learn the difference between incoming and outgoing, when he talks about the sound. Also direkt werden sozusagen, da wird eine direkte Ansprache gehalten. Das sind natürlich hoch verdichtete ideologische Propagandamaterialien, und das Interessante und Schwierige daran ist eben, dass die - wie Sie auch schon gesagt - Sie haben ja gesagt, das hat so eine Emotionalität. Dass unser Resonanzraum, unser menschlicher Körper dann sehr schnell auf so einen Ton reagiert, weil das Gehör eben eine ganz wichtige Orientierung ist im täglichen Alltag. Und da tatsächlich konkret jetzt in Vietnam zu sein, im Dschungel, um zu wissen, wo ist man, wo sind die anderen, und was wird gleich passieren. Das ist ganz fundamental, und das leitet, glaube ich, den Menschen sehr.
Kritisches Zuhören - "Was wird da eigentlich gesagt?"
Und wenn man diese Materialien spielt, wird man quasi aufgefordert, sich in diesem Bereich zu bewegen. Also man ertappt sich vielleicht beim Verführtwerden für Sekunden, um dann zu realisieren, okay, was wird da eigentlich gesagt, wo sind wir hier eigentlich? Weil es eben hochkomplex produziert wird, genau um Affekte zu produzieren. Und in diesem Sinne ist sozusagen das öffentliche entweder Senden oder das öffentliche Spielen quasi eine Erweiterung der Zweiersituation des Anhörens. Es ist natürlich aufgefordert, dass - bei SAVVY Funk nehmen sie dieses Wort "critical listening", und so ist es auch gedacht, dass es an die Öffentlichkeit geht und in diesem Moment dann debattiert werden kann. Was jetzt nicht heißt, dass man in dem Moment sofort spricht, aber so ein Stück löst ja auch manchmal so was wie Schock aus, dadurch, dass man sich selbst sozusagen ertappt, dass man in so eine Affektfalle hineingerät. Und genau um diesen Moment geht es, glaube ich, auch. Und das ist natürlich eine ganz feine Linie, die jedes Mal neu erarbeitet werden muss.
Kaspar: Verstehe ich es richtig, dass Sie regelrecht ein Forschungsinteresse daran haben zu untersuchen, wie zum Beispiel solche Sound-Ikonen, wie es die Hubschrauber für eine Idee vom Vietnamkrieg geworden sind - Sie könnten viele andere Beispiele wahrscheinlich nennen, wo Identität, so was wie kollektive Identität konstruiert wird über Klang. Also dass Sie diese Mechanismen untersuchen und in dem Sinne vielleicht sogar manche der Aufnahmen, die Sie dann verwenden, wie auf einen Seziertisch legen, um zu zeigen oder nachvollziehbar zu machen, wie solche Bilder, solche Klangbilder eigentlich gestaltet werden, geformt werden. In dem Sinne wäre ja dieses Stück, das wir gerade gehört haben, dieser Ausschnitt, wirklich etwas Besonderes, zumal heute, wo viele von uns "Apocalypse Now" gesehen haben, und auch aus dem Kino und aus der Fiktion dieses Bild vom Vietnamkrieg mit der Kavallerie der Hubschrauber im Hinterkopf haben. Wir werden über den Sound da tatsächlich sehr direkt angesprochen, ein emotionales Gedächtnis wird irgendwo wachgerufen. Und gleichzeitig, was so ungewöhnlich an diesem Ton ist, spricht der Kommentator darüber, dass ein neuer Sound eingeführt wird, um einen neuen Krieg zu definieren. Also es scheint ja wirklich historisch-zeitgeschichtlich auf der Schwelle stattzufinden, was wir hier hören, wo dieses Klangbild überhaupt erst etabliert werden muss. Ein ganz hoch geschätztes Sammlungsstück wahrscheinlich für Sie, oder? Das ist doch wirklich was Besonderes.
Gal: Eine davon. Diese Platte ist eigentlich relativ bekannt. Ich meine, es gibt Sachen, die sind nicht so kanonisch oder ikonisch in der Gesellschaft, aber man hat das dort. Zum Beispiel einfache Geräusche des alltäglichen normalen Lebens, von Stimmen oder Geräuschen. Die sind auch auf die Platten gepresst. Diese Stücke finde ich auch sehr, sehr stark und interessant als die andere Seite von diesen hoch konstruierten, ikonischen Momenten. Das gibt es auch.
"Wir baden nicht allein in diesen Materialien"
Lengerer: Genau, das ist schon wichtig zu sagen, dass jetzt nicht die Arbeit aus allein solchen Materialien besteht, sondern es gibt natürlich ganz viel, auch lange Interview‑Gespräche mit einzelnen Personen, die aufgenommen wurden jetzt auch in unserem Projekt, das letzten Monat lief, war die Suche nicht nach prominenten Persönlichkeiten, mit denen wir sprechen, sondern wir haben nach Leuten gesucht, die an einem bestimmten Thema arbeiten, an einem politischen Thema arbeiten oder als Aktivistinnen oder Aktivisten an einem Thema arbeiten. Also, wir breiten es schon sozusagen sehr weit aus, und dann kommt diese Form von Materialien, die wir gerade gehört haben, diese komplexen medialen Konstruktionen auch hinein. Aber wir baden nicht allein in diesen Materialien. Das wäre ein Missverständnis.
Gal: Die Verbindung zwischen dem Kollektiv und privat ist ganz wichtig in diesen Radiosendungen, wo Leute über persönliche Erfahrungen erzählen. Und davon gehen wir raus zu solchen kollektiven Gedächtnisaufnahmen, und dann zurück zu den Personen heute. Und das etabliert eine Verbindung zwischen dem Kollektivgedächtnis, wie wir unsere Gesellschaft verstehen, wie diese Geschichte durch Macht geschrieben ist, und wie ist das genommen oder reflektiert durch persönliche Erfahrungen. Ich komme ja ursprünglich aus Israel, und ich bin in einem Land aufgewachsen, wo… [weiter auf Englisch] Ich bin in Israel aufgewachsen. Dort erfährt jeder von frühester Kindheit an eine starke Indoktrinierung durch den Staat, die Gewalt rechtfertigen soll. Als junger Mensch hat man kaum eine Chance, diese Ideen zu hinterfragen oder anzuzweifeln, weil sie allgegenwärtig sind. In gewisser Weise verbringt man die erste Hälfte seines Lebens unter dem Einfluss dieser Indoktrinierung. Und dann versucht man ein halbes Leben lang, sie wieder loszuwerden. Aber mir geht es gar nicht so sehr darum, mich davon zu befreien. Ich möchte die Stimme erheben gegen eine bestimmte Art von Gewalt, von der mir beigebracht wurde, dass sie gerechtfertigt sei. Ich denke, dieses politische Statement macht verständlich, weshalb es so wichtig ist, ikonische Geschichtsbilder zu untersuchen und diese Konstruktionen auseinanderzunehmen, danach zu fragen, was sie bedeuten und zu welchem Zweck sie errichtet wurden.
Eine immer wieder auftauchende DDR-Platte
Kaspar: Sie haben noch eine andere Aufnahme mitgebracht, die Sie oft gespielt haben und die vielleicht auch noch mal ganz gut deutlich machen kann, worin wenn nicht eine große Rede, dann doch ein großer Moment möglicherweise zu finden ist. Wir hören es mal, würde ich sagen. Ich würde gern noch eine Aufnahme hören, die Sie mitgebracht haben, und darüber sprechen, warum die für Sie immer wieder interessant war, um in künstlerischen Arbeiten verwendet zu werden:
(Einspielung Aufnahme)
Kaspar: Achim Lengerer, was haben wir gehört?
Lengerer: Wir haben gehört Angela Davis, die amerikanische Bürgerrechtlerin und Philosophin, die 1973 auf den Weltfestspielen der Jugend und Studenten in der DDR gesprochen hat, die Eröffnungsrede, genau. Das ist eine ganze Platte, die das dokumentiert.
Kaspar: Was für Welten und Ideen stoßen da für Sie zusammen, sodass Sie immer wieder auf diese Aufnahme zurückgekommen sind?
Lengerer: Das ist eine Platte, die in der DDR herausgegeben wurde. Angela Davis ist ja eine enorm wichtige Person weltweit, als Aktivistin, als politische Kämpferin, die lange Zeit in der kommunistischen Partei war in Amerika. Und wir kommen damit vielleicht noch mal zurück auf diese Komplexität dieser akustischen Elemente. Wir hören eine Stimme, man versucht zu verstehen. Man hört den Raum, man hört eine historische Situation. Dieser Raum ist eben ein politischer Raum, den man als Hörerin oder Hörer noch mal durchläuft, während man zuhört, um zu verstehen, was ist es, was wird da gesagt, was denke ich darüber, wie stehe ich heute als Person zu dieser oder jener Äußerung. Und hier, also bei dieser Aufnahme, deshalb benutzen wir die auch oft, ist eben diese Idee des akustischen Raums, der sich eben ausdehnt, der aufgenommen wurde, sich aber sozusagen auf das Jetzt und, wie Dani auch vorher gesagt hat, auf das Weitere ausdehnt, sehr, sehr stark, und deswegen benutzen wir die Aufnahme sehr gern.
Gal: Diese Aufnahme ist genau das Gegenteil der Vietnam-Aufnahme. In der Vietnam‑Aufnahme hatten wir einen weißen Mann, der das imperialistisch‑kapitalistische Amerika gegen das kommunistische Vietnam rechtfertigt, und hier haben wir eine Frau, nicht weiß, die spricht ganz deutlich gegen Imperialismus.
Lengerer: Und das wiederum natürlich auf einem - also die Weltfestspiele der Jugend waren natürlich während des Kalten Krieges ein Teil einer ideologischen Auseinandersetzung auch.
Das bringt mich in einen produktiven Zwiespalt
Kaspar: Also sie spricht zugleich auf einer Propagandaveranstaltung.
Lengerer: Absolut, genau. Und deshalb noch mal auf die Idee des critical listening, ist hier sozusagen die Aufgabe der Zuhörerin, des Zuhörers, immer zu sagen, die Komplexität aus was wird gesagt, wer sagt es, wo wird es gesagt, wie stehe ich dazu, die wird einem sozusagen ja nicht abgenommen. Also Angela Davis ist ganz wichtig. Ich persönlich identifiziere mich mit den Inhalten. Trotzdem ist das vielleicht auf einem Ereignis, das ich persönlich auch schwierig finde. Das bringt mich sozusagen in einen produktiven Zwiespalt. Und in diesem Moment liegt genau, glaube ich, die Stärke, dass man sich der Materialität und der Vermittlung bewusst wird durch die Art des Zuhörens und durch die Art der Auswahl der Materialien, die dies sozusagen nach vorn stellt. Also in aller Schwierigkeit halten wir sie auch ambivalent.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Dani Gal (*1975 in Jerusalem) und Achim Lengerer (*1970 in Tübingen) arbeiten seit 2005 künstlerisch mit politischen Tondokumenten. Im Juni und Juli 2017 produzierten sie unter dem Titel "different time different place different pitch" eine Serie von Live-Sendungen für SAVVY Funk, eine Radiostation der documenta 14 in Kooperation mit Deutschlandfunk Kultur und der Professur für Experimentelles Radio an der Bauhaus-Universität Weimar.
Die Sendereihe "Große Reden" ist Teil eines gemeinsamen Projekts des Deutschlandfunks mit ARTE, arte.tv/grosse-reden
Anm. d. Red.: Irrtümlich war dieser Beitrag mit dem Bild eines anderen Künstlers illustriert. Wir bitten um Entschuldigung.