Zürich, 19. September 1946. Winston Churchill steht am Rednerpult vor etwa 100 Menschen, die gespannt auf das warten, was der ehemalige britische Premierminister zu sagen hat. Tausende stehen draußen vor der Universität und feiern ihren Helden. Ja, Churchill ist ihr Held. Er hat Nazi-Deutschland bekämpft und besiegt. Das Land, mit dem die Schweizer zwar die Sprache teilten, aber nicht die Werte. Das Land, das mit seiner militärischen Übermacht die Schweiz vor einem möglichen Einmarsch zittern ließ während des Zweiten Weltkriegs.
"Meine Damen und Herren, ich fühle mich geehrt, heute hier in Ihrer altehrwürdigen Universität empfangen zu werden."
Die Universität Zürich, 1833 eröffnet. Die erste Universität in Europa, die nicht von einem weltlichen oder kirchlichen Herrscher gegründet wurde, sondern von einem demokratischen Staat. Vielleicht spricht Churchill deshalb hier über den demokratischen Neubeginn Europas.
Die Vision eines vereinten Europa
"Ich möchte über die Tragödie Europas sprechen. In weiten Gebieten starren ungeheure Massen zitternder menschlicher Wesen gequält, hungrig, abgehärmt und verzweifelt auf die Ruinen ihrer Städte und Behausungen. Und doch gibt es ein Mittel, das wie durch ein Wunder die ganze Szene verändern und in wenigen Jahren ganz Europa, so frei und glücklich machen könnte, wie es die Schweiz heute ist. Welches ist dieses Heilmittel? Es ist die Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie. Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten."
Stille. Raunen, dann tosender Beifall. Churchills Rede ist eine Sensation im damaligen geschichtlichen Zusammenhang. Nur ein Jahr nach Kriegsende. Dieter Ruloff, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Zürich, hat die enorme Wirkung von Churchills Europa-Rede untersucht.
"Das ist zur damaligen Zeit visionär gewesen, dass man sagt, dieses Deutschland, das muss wieder kommen, es ist ein großes Land, es ist im Herzen Europas, es ist eine Kulturnation. Weil es genug Leute bei den Alliierten gegeben hat, die der Meinung waren, man muss Deutschland klein halten."
Doch Churchill denkt an die Zukunft. Er will Europa wieder auferstehen lassen, will es wirtschaftlich aufbauen, will es dauerhaft befrieden. Und das geht nur mit Deutschland. Was im September 1946 noch ungeheuerlich klingt, wird mit dem Beginn des Kalten Kriegs absolut notwendig.
"Die Erfahrung, dass die Sowjetunion nicht mehr kooperiert, sondern da hat man den nächsten großen Gegner und dann hat man natürlich dieses Deutschland, zumindest den westlichen Teil der Besatzungszonen, erst recht gebraucht und erst recht wieder auf die Beine helfen müssen, weil man gesagt hat, diese Herausforderung ohne Deutschland, Westdeutschland damals, das schafft man nicht."
Jubel für Churchill, Distanz zur EU
70 Jahre nach Churchills Rede in Zürich gibt es nicht die Vereinigten Staaten von Europa, sondern die Europäische Union, und die ist in der Krise. Nicht zuletzt wegen der Briten, die für den Brexit stimmten. Haben es die Schweizer also besser gemacht? Sie bejubelten die Churchills Rede, haben sich aber bis heute aus der EU herausgehalten. Eine Studentin betrachtet nachdenklich das Messingschild an der Tür zur Aula, in der Winston Churchill seine Rede hielt: "Ganz schwierig, ja, da kann man nicht um den heißen Brei herumreden. Da haben wir so ein bisschen einen Sonderstatus geschaffen und den kann man kritisieren."
Doch trotz aller Kritik lassen sich die Schweizerinnen und Schweizer eins nicht nehmen: ihre Identität als Europäer. Und wenn die EU sich anders entwickeln würde, dann wäre ein Beitritt vielleicht sogar möglich.
"Da frag ich mich auch, ob man das Ganze nicht ein bisschen abbauen könnte, die ganze Bürokratie und vielleicht mehr als einen ideologischen Zusammenschluss anschauen Europa, das wir eins sein wollen von den Ideen her und in Frieden leben."
Geduld statt Visionen
Die Schweiz selbst hat lange gebraucht, um sich zu dem Land zusammenzuschließen, das es heute ist. Und noch immer genießen die einzelnen Kantone weitreichende Gesetzesautonomie. Ein Vorbild für die kriselnde EU? Der Politikwissenschaftler Dieter Ruloff schmunzelt: "In der Schweiz ist es in der Tat so, dass man sich wie ein Vorbild sieht, wie es gehen kann. Man braucht Visionen und man braucht Geduld, schlicht Geduld."