Nach diesem ausdrucksstarken, sehr bewegten und schwelgerischen Orchestervorspiel überrascht der Einsatz der Solistin zunächst: Leise, fast schüchtern meldet sich Hilary Hahn zu Wort, danach bleibt sie glasklar und deutlich in der Phrasierung, doch relativ neutral und kühl im Ausdruck.
Hilary Hahns Vorgänger als Solisten bei diesem Konzert von Elgar gingen da gleich viel kräftiger und mit mehr Nachdruck zur Sache. Und ließen schon gleich zu Beginn bei Tempo und Artikulation ihren Gefühlen freien Lauf, zum Beispiel Yehudi Menuhin in einer historischen Aufnahme von 1932 noch unter des greisen Komponisten Leitung.
Hilary Hahn bleibt im ganzen Satz auch im Vergleich zu späteren Aufnahmen mit Pinchas Zukerman oder Itzhak Perlman kontrollierter, kühler, sachlicher. Ich könnte mir vorstellen, dass dies manchem, der dick aufgetragene Farben mag, zu distanziert vorkommt, aber wenn man sich an den bescheideneren, weniger auftrumpfenden Gestus gewöhnt hat, erkennt man die Vielzahl der Farben, die auch die "Geigenpalette" von Hilary Hahn bietet. Ihre Intonation ist ohnehin blitzsauber, ihre musikalischen Bögen sind sinnvoll gespannt, ihre Virtuosität steht außer Frage. Nur arbeitet sie eben mit deutlich weniger Vibrato oder geigentypischem "Schluchzen" als ihre Kollegen, was der Klarheit der Linien eindeutig zugute kommt. So ist es auch im 2. Satz. Hier zum Vergleich zunächst Pinchas Zukerman mit seiner Sicht der Dinge, aufgenommen 1976.
Und nun von Hilary Hahn dieselbe Stelle aus dem 2. Satz von Elgars Violinkonzert: längst nicht so drängend und dramatisch, sondern mit einer für eine 25jährige fast schon altersweise zu nennenden Abgeklärtheit, aber dennoch voller Strahlkraft.
Edward Elgar schrieb sein Violinkonzert in den Jahren 1909 und 1910. Da war er schon Anfang Fünfzig, hatte viele sinfonische Werke komponiert und einen überwältigenden Erfolg mit seinem Oratorium "Der Traum des Gerontius" gehabt. Vom englischen König war er in den Adelsstand erhoben worden, er war Ehrendoktor der beiden berühmten Universitäten von Oxford und Cambridge und galt in England als der größte Komponist seit den Tagen von Händel und Purcell. Mit Solokonzerten hatte er sich bis dahin eher schwer getan; Teile eines 20 Jahre vorher begonnenen Violinkonzertes waren unvollendet im Papierkorb gelandet. Der berühmte Geiger Fritz Kreisler war es schließlich, der nicht locker ließ mit seinem Wunsch, Elgar möge ihm ein Violinkonzert komponieren. Er war dann auch der Solist der Uraufführung und Widmungsträger des Werkes, das den Schlusspunkt einer Entwicklung darstellt, die gut 100 Jahre vorher mit Beethovens Violinkonzert begonnen hatte: des romantischen, groß angelegten Violinkonzerts, wie es von Mendelssohn, Bruch, Brahms, Dvorak, Tschaikowsky oder Sibelius beispielhaft geschaffen wurde. In einer Zeit, wo anderswo schon die Tonalität infrage gestellt wird und sich radikale Veränderungen im Selbstverständnis der Komponisten ankündigen, gelingt es Elgar noch einmal, die musikalischen Möglichkeiten der Romantik zusammenfassend darzustellen. Wir blenden uns nun ein in den letzten Satz des Werkes, das die Virtuosität des Solisten besonders fordert und formal eine gekonnte Verbindung von Rondo mit Elementen des Sonatensatzes darstellt. Hören Sie Hilary Hahn und das London Symphony Orchestra unter der Leitung von Sir Colin Davis.
In unserer Reihe " Die neue Platte" ging es heute um das Violinkonzert von Edward Elgar in einer Neuaufnahme mit Hilary Hahn und dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Sir Colin Davis. Im Studio verabschiedet sich Ludwig Rink.
CD:
Titel: Elgar - Violinkonzert u.a.
Solistin: Hilary Hahn
Orchester: London Symphony Orchestra
Leitung: Sir Colin Davis
Label: Deutsche Grammophon
Labelcode: LC 00173
Bestellnr.: 00289 474 5042