Silvia Engels: Der 9. November ist eines der geschichtsträchtigsten Daten für Deutschland. Er ist nicht nur mit dem Mauerfall vor 21 Jahren oder der Novemberrevolution von 1918 verknüpft. Nein, heute jährt sich zum 72. Mal die Pogromnacht. Am 9. November 1938 wurden jüdische Bürger in Deutschland unter der Nazi-Herrschaft mit gezielten und organisierten Übergriffen überzogen. Synagogen gingen in Flammen auf. In der Frankfurter Paulskirche wird heute dieser menschenverachtenden Überfälle gedacht, unter anderem mit einer Rede des französischen Publizisten Alfred Grosser. Er selbst floh mit seiner Familie, die jüdischer Herkunft war, 1933 vor den Nationalsozialisten nach Frankreich und der Zentralrat der Juden hat im Vorfeld die Einladung Grossers kritisiert, unter anderem wegen dessen Kritik an der Politik Israels. Gestern früh sagte Alfred Grosser zu diesen Vorwürfen des Zentralrats im Deutschlandfunk:
O-Ton Alfred Grosser: Die Diskussion findet nicht statt. Mein Buch, das anscheinend keiner von denen gelesen hat, "Von Auschwitz nach Jerusalem" über Deutschland und Israel, wo vieles Kritisches drin war, das Buch habe ich vorgestellt in München, in Frankfurt, in Berlin, in Hamburg und immer wurden ausdrücklich die Vorstände der jüdischen Gemeinden eingeladen, um mit mir zu diskutieren, aber keiner kam je, und das ist ein Ding, das ich beklage, dass keine richtige Diskussion stattfindet, nur ununterbrochen Verleumdung. Aber das kennen wir hier in Frankreich genauso.
Engels: Der französische Politologe Alfred Grosser. – Am Telefon begrüße ich Salomon Korn. Er ist Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Frankfurt und der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Guten Morgen, Herr Korn.
Salomon Korn: Guten Morgen!
Engels: Sie haben es gerade gehört, Herr Grosser bemängelt, dass die Diskussion nicht stattfinde. Haben Sie das angesprochene Buch von ihm, "Von Auschwitz nach Jerusalem", gelesen?
Korn: Nein, und das ist auch gar nicht notwendig, denn es zählt das, was Herr Grosser in der Öffentlichkeit sagt, und nicht das, was zwischen Buchdeckeln steht und kaum jemand liest, also zur Kenntnis nimmt. Und das, was er in der Öffentlichkeit sagt, ist ja schließlich wirksam und nicht das, was er irgendwo geschrieben hat.
Engels: Weshalb ist denn der Gesprächsfaden zwischen dem Zentralrat der Juden einerseits und Alfred Grosser so abgerissen?
Korn: Nun, Grosser kritisiert Israel obsessiv einseitig und sehr einäugig. Er wirft gleichzeitig dabei Juden und Israelis immer in einen Topf. Es ist so, als seien alle Juden in der Welt Israelis, oder alle Israelis Juden, was natürlich nicht den Tatsachen entspricht. Es gibt allgemeine Vorwürfe und die sind für uns einfach nicht tragbar, weil Grosser mit dem Holzhammer vorgeht statt mit dem Skalpell.
Engels: Nun haben auf der anderen Seite ja auch Mitglieder des Zentralrats der Juden in Deutschland oftmals sich sehr direkt hinter Israel gestellt. Das heißt, diese Vermischung von zwei Themen oder zwei Gruppen, die wird auch vonseiten des Zentralrats ab und zu gewählt.
Korn: Ja, es ist in der Tat so: Es gibt tatsächlich eine unkritische Sicht Israels auch auf jüdischer Seite. Das ist ganz klar. Das ist die eine Seite. Aber auf der anderen Seite gibt es sehr wohl eine differenzierte Kritik, und diese differenzierte Kritik bezieht die besondere Situation, eine Demokratie in einer Region ein, wo dieses Land nur von Diktaturen umgeben ist, von Staaten und Gruppierungen von Terrororganisationen, die dieses Land vernichten wollen. Das ist eine besondere Situation, die auch einer besonderen Analyse bedarf, und da kann man nicht einfach sagen, ich lege nun 100 Prozent dieselben Maßstäbe an wie in jeder anderen Region der Welt. Israel ist ein Land, das einzige der Welt, die einzige Demokratie auf der Welt, deren Existenz keineswegs noch gesichert ist und immer wieder infrage gestellt wird. Das ist eine etwas andere Situation als diese komfortable Situation, die wir in Europa oder in den USA haben.
Engels: Nun soll Alfred Grosser heute als Gedenkredner zum 9. November in der Paulskirche sprechen. Sie und Dieter Graumann, ebenfalls Vizepräsident des Zentralrats, haben sich vorbehalten, die Gedenkveranstaltung zu verlassen, wenn Grosser spricht. Wann ist diese Schwelle für Sie erreicht?
Korn: In dem Augenblick, in dem Grosser wieder seine einseitige und durch nichts differenzierte Kritik an Israel ansetzt. In diesem Augenblick werden wir zeigen, dass wir damit nicht einverstanden sind. Herr Grosser hat das Recht, natürlich zu sprechen, er hat das Recht, in der Paulskirche zu sagen, was er denkt, Herr Grosser hat das Recht, alles zu sagen, was nach seiner Meinung richtig ist, nur ein Recht hat er nicht: die Fakten auf den Kopf zu stellen und zu verdrehen.
Engels: Laut Süddeutscher Zeitung wird Grosser in seiner Rede heute den früheren Bundespräsidenten Köhler zitieren. Der hat gesagt, eine Lehre aus dem Nationalsozialismus sei, sich überall für Menschenrechte einzusetzen. Und dann wird Grosser wohl laut Medienbericht hinzufügen, dass das offenbar im Umgang mit den Palästinensern nicht gelte. Werden Sie dann gehen?
Korn: Das kommt immer auf den Kontext an. Wissen Sie, man kann Dinge immer herausfiltern und sie kontextunabhängig betrachten, das ist nicht meine Art. Die Frage ist, ob das in einem Zusammenhang auch steht mit einer kritischen Betrachtungsweise des Verhaltens von palästinensischer Seite, von Hamas, von arabischer Seite. Das ist ein Komplex, der zusammengehört, den kann man nicht so ohne Weiteres isolieren.
Im Übrigen möchte ich an dieser Stelle eines hinzufügen: In keinem anderen Land des Nahen Ostens geht es den Arabern, nämlich den israelischen Arabern, so gut wie in Israel. In keinem anderen Land haben Araber, israelische Araber, eine solche Freiheit und eine solche Möglichkeit, sich in einer Demokratie zu bewegen. Mit Ausnahme des Militärdienstes haben sie alle Rechte, die jeder israelische Bürger hat, und das werden Sie in keinem anderen arabischen Land finden. Das ist zum Beispiel etwas, was Grosser nicht erwähnt. Dessen Blick ist auf Israel gerichtet wie das Kaninchen auf die Schlange.
Engels: Haben Sie eine Erklärung, Herr Korn, weshalb rund um die Gedenktage an die NS-Verbrechen gegenüber Juden in den letzten Jahren immer wieder vermehrt Streit um die gerechtfertigte oder nicht gerechtfertigte Kritik an der aktuellen Politik Israels ausbricht?
Korn: Nun, wissen Sie, da kann man natürlich nur sozusagen versuchen, die Symptome zu erklären. Statistisch habe ich natürlich keine Zahl. Aber es ist doch immer wieder so, dass das Nachwirken der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen keineswegs schon aufgearbeitet, bewältigt ist, oder auf irgendeine Weise überwunden. Und ich glaube, diese Ausläufer, Nachläufer und das, was so unterirdisch weiterwirkt, das wird dazu benutzt, um den Druck, den das aufbaut, möglicherweise so etwas wie Schuldgefühle oder Schulddruck, über Israels Politik abzubauen, und in diesem Fall ersetzt Israel als Jude unter den Staaten, wenn man so will, auch die Juden.
Engels: Sehen Sie da auch eine Aufgabe für den Zentralrat der Juden, möglicherweise sich etwas zu verändern und möglicherweise auch auf diese neuen Strömungen einzugehen?
Korn: Wir sind alle, glaube ich, verpflichtet zu lernen aus unseren Fehlern, aus dem, was die Zeit verlangt, aus den Veränderungen, aus den Entwicklungen heraus. Die Dinge bleiben nicht stehen, auch wir müssen uns verändern, und sicherlich machen wir da auch manchmal Fehler und müssen aus diesen Fehlern lernen.
Engels: Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, heute Früh im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Vielen Dank für Ihre Zeit.
Salomon Korn zum gleichen Thema im DKultur:
"Das Differenzieren ist nicht Grossers Stärke" - Salomon Korn kritisiert französischen Publizisten
O-Ton Alfred Grosser: Die Diskussion findet nicht statt. Mein Buch, das anscheinend keiner von denen gelesen hat, "Von Auschwitz nach Jerusalem" über Deutschland und Israel, wo vieles Kritisches drin war, das Buch habe ich vorgestellt in München, in Frankfurt, in Berlin, in Hamburg und immer wurden ausdrücklich die Vorstände der jüdischen Gemeinden eingeladen, um mit mir zu diskutieren, aber keiner kam je, und das ist ein Ding, das ich beklage, dass keine richtige Diskussion stattfindet, nur ununterbrochen Verleumdung. Aber das kennen wir hier in Frankreich genauso.
Engels: Der französische Politologe Alfred Grosser. – Am Telefon begrüße ich Salomon Korn. Er ist Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Frankfurt und der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Guten Morgen, Herr Korn.
Salomon Korn: Guten Morgen!
Engels: Sie haben es gerade gehört, Herr Grosser bemängelt, dass die Diskussion nicht stattfinde. Haben Sie das angesprochene Buch von ihm, "Von Auschwitz nach Jerusalem", gelesen?
Korn: Nein, und das ist auch gar nicht notwendig, denn es zählt das, was Herr Grosser in der Öffentlichkeit sagt, und nicht das, was zwischen Buchdeckeln steht und kaum jemand liest, also zur Kenntnis nimmt. Und das, was er in der Öffentlichkeit sagt, ist ja schließlich wirksam und nicht das, was er irgendwo geschrieben hat.
Engels: Weshalb ist denn der Gesprächsfaden zwischen dem Zentralrat der Juden einerseits und Alfred Grosser so abgerissen?
Korn: Nun, Grosser kritisiert Israel obsessiv einseitig und sehr einäugig. Er wirft gleichzeitig dabei Juden und Israelis immer in einen Topf. Es ist so, als seien alle Juden in der Welt Israelis, oder alle Israelis Juden, was natürlich nicht den Tatsachen entspricht. Es gibt allgemeine Vorwürfe und die sind für uns einfach nicht tragbar, weil Grosser mit dem Holzhammer vorgeht statt mit dem Skalpell.
Engels: Nun haben auf der anderen Seite ja auch Mitglieder des Zentralrats der Juden in Deutschland oftmals sich sehr direkt hinter Israel gestellt. Das heißt, diese Vermischung von zwei Themen oder zwei Gruppen, die wird auch vonseiten des Zentralrats ab und zu gewählt.
Korn: Ja, es ist in der Tat so: Es gibt tatsächlich eine unkritische Sicht Israels auch auf jüdischer Seite. Das ist ganz klar. Das ist die eine Seite. Aber auf der anderen Seite gibt es sehr wohl eine differenzierte Kritik, und diese differenzierte Kritik bezieht die besondere Situation, eine Demokratie in einer Region ein, wo dieses Land nur von Diktaturen umgeben ist, von Staaten und Gruppierungen von Terrororganisationen, die dieses Land vernichten wollen. Das ist eine besondere Situation, die auch einer besonderen Analyse bedarf, und da kann man nicht einfach sagen, ich lege nun 100 Prozent dieselben Maßstäbe an wie in jeder anderen Region der Welt. Israel ist ein Land, das einzige der Welt, die einzige Demokratie auf der Welt, deren Existenz keineswegs noch gesichert ist und immer wieder infrage gestellt wird. Das ist eine etwas andere Situation als diese komfortable Situation, die wir in Europa oder in den USA haben.
Engels: Nun soll Alfred Grosser heute als Gedenkredner zum 9. November in der Paulskirche sprechen. Sie und Dieter Graumann, ebenfalls Vizepräsident des Zentralrats, haben sich vorbehalten, die Gedenkveranstaltung zu verlassen, wenn Grosser spricht. Wann ist diese Schwelle für Sie erreicht?
Korn: In dem Augenblick, in dem Grosser wieder seine einseitige und durch nichts differenzierte Kritik an Israel ansetzt. In diesem Augenblick werden wir zeigen, dass wir damit nicht einverstanden sind. Herr Grosser hat das Recht, natürlich zu sprechen, er hat das Recht, in der Paulskirche zu sagen, was er denkt, Herr Grosser hat das Recht, alles zu sagen, was nach seiner Meinung richtig ist, nur ein Recht hat er nicht: die Fakten auf den Kopf zu stellen und zu verdrehen.
Engels: Laut Süddeutscher Zeitung wird Grosser in seiner Rede heute den früheren Bundespräsidenten Köhler zitieren. Der hat gesagt, eine Lehre aus dem Nationalsozialismus sei, sich überall für Menschenrechte einzusetzen. Und dann wird Grosser wohl laut Medienbericht hinzufügen, dass das offenbar im Umgang mit den Palästinensern nicht gelte. Werden Sie dann gehen?
Korn: Das kommt immer auf den Kontext an. Wissen Sie, man kann Dinge immer herausfiltern und sie kontextunabhängig betrachten, das ist nicht meine Art. Die Frage ist, ob das in einem Zusammenhang auch steht mit einer kritischen Betrachtungsweise des Verhaltens von palästinensischer Seite, von Hamas, von arabischer Seite. Das ist ein Komplex, der zusammengehört, den kann man nicht so ohne Weiteres isolieren.
Im Übrigen möchte ich an dieser Stelle eines hinzufügen: In keinem anderen Land des Nahen Ostens geht es den Arabern, nämlich den israelischen Arabern, so gut wie in Israel. In keinem anderen Land haben Araber, israelische Araber, eine solche Freiheit und eine solche Möglichkeit, sich in einer Demokratie zu bewegen. Mit Ausnahme des Militärdienstes haben sie alle Rechte, die jeder israelische Bürger hat, und das werden Sie in keinem anderen arabischen Land finden. Das ist zum Beispiel etwas, was Grosser nicht erwähnt. Dessen Blick ist auf Israel gerichtet wie das Kaninchen auf die Schlange.
Engels: Haben Sie eine Erklärung, Herr Korn, weshalb rund um die Gedenktage an die NS-Verbrechen gegenüber Juden in den letzten Jahren immer wieder vermehrt Streit um die gerechtfertigte oder nicht gerechtfertigte Kritik an der aktuellen Politik Israels ausbricht?
Korn: Nun, wissen Sie, da kann man natürlich nur sozusagen versuchen, die Symptome zu erklären. Statistisch habe ich natürlich keine Zahl. Aber es ist doch immer wieder so, dass das Nachwirken der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen keineswegs schon aufgearbeitet, bewältigt ist, oder auf irgendeine Weise überwunden. Und ich glaube, diese Ausläufer, Nachläufer und das, was so unterirdisch weiterwirkt, das wird dazu benutzt, um den Druck, den das aufbaut, möglicherweise so etwas wie Schuldgefühle oder Schulddruck, über Israels Politik abzubauen, und in diesem Fall ersetzt Israel als Jude unter den Staaten, wenn man so will, auch die Juden.
Engels: Sehen Sie da auch eine Aufgabe für den Zentralrat der Juden, möglicherweise sich etwas zu verändern und möglicherweise auch auf diese neuen Strömungen einzugehen?
Korn: Wir sind alle, glaube ich, verpflichtet zu lernen aus unseren Fehlern, aus dem, was die Zeit verlangt, aus den Veränderungen, aus den Entwicklungen heraus. Die Dinge bleiben nicht stehen, auch wir müssen uns verändern, und sicherlich machen wir da auch manchmal Fehler und müssen aus diesen Fehlern lernen.
Engels: Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, heute Früh im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Vielen Dank für Ihre Zeit.
Salomon Korn zum gleichen Thema im DKultur:
"Das Differenzieren ist nicht Grossers Stärke" - Salomon Korn kritisiert französischen Publizisten