O-Ton Alfred Grosser: "Wir können nur predigen, was wir wollen in unseren Grundwerten, wenn wir sie nicht verletzen. Und jede Verletzung dieser Grundwerte verneint, was ich die schöpferische Erinnerung genannt habe, das heißt eben aus der Erinnerung an das Furchtbare für uns Regeln zu ziehen, wie wir uns verhalten sollen im Namen einer Vergangenheit, die nicht vergehen soll, die da bleiben soll. Und ich möchte sagen, Auschwitz ist die Grundlage dafür, dass man an den anderen denkt.
Als ich 65 wurde, haben meine Kollegen und ehemaligen Studenten mir ein Buch gewidmet. Alle Kapitel hatten nur ein Thema, und so hieß auch das Buch: "L"autre", der andere. Ich glaube, an den anderen denken, ist eine Voraussetzung des Friedens, mehr als die Waffen."
Rainer Berthold Schossig: Ein Ausschnitt aus der Rede Alfred Grossers, deutsch-französischer Publizist. Er hat heute Nachmittag auf der Gedenkveranstaltung in der Paulskirche zur Pogromnacht 1938 eine Rede gehalten, und die war insofern mit besonderer Spannung erwartet worden, als zuvor der Zentralrat der Juden gegen Grosser als Redner protestiert hatte. Grosser, der aus Frankfurt stammt und selbst viele Familienmitglieder im Holocaust verloren hat, er habe sich selbst disqualifiziert, so die Argumentation, am heutigen Tag zu sprechen, da er seit Jahren aufs unangemessenste den Holocaust mit der heutigen Situation der palästinensischen Bevölkerung vergleiche, und daher soll er lieber nicht Hauptredner sein. Die Stadt Frankfurt hat aber Alfred Grosser nicht wieder ausgeladen, er hat wie gesagt heute gesprochen. - Am Telefon ist Micha Brumlik, Publizist und Erziehungswissenschaftler an der Johann Wolfgang Goethe-Universität. Herr Brumlik, Sie waren dabei eben in der Paulskirche. War Alfred Grossers Rede unangemessen?
Micha Brumlik: Sie war völlig unangemessen, sie hat das Thema völlig verfehlt, er hat sich eingestandenermaßen kaum auf das Thema 9. November 1938 in Frankfurt am Main vorbereitet, er konnte dazu nichts sagen und hat stattdessen zielsicher sein eigentliches Thema angestrebt, nämlich die Kritik der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern, ein Thema, das durchaus diskutiert werden muss, aber nun wahrlich nicht am 9. November, wo es um die Erinnerungen an die nationalsozialistischen Verbrechen nicht nur gegen Juden, sondern auch gegen Sinti und Roma, gegen Slawen, Russen und andere geht.
Schossig: Wir haben dieses Zitat, diesen Ausschnitt aus der Rede nicht zufällig eingespielt, Herr Brumlik, sondern es geht ihm anscheinend wirklich um den anderen, es geht ihm um die Empathie, und er hat das ja auch mehrfach gesagt, die Einmaligkeit zum Beispiel von Auschwitz sei nur durch Vergleiche mit jedweder Menschenverachtung zu erkennen, zum Beispiel natürlich auch im Gaza-Streifen. Hat er da nicht Recht?
Brumlik: Ja, aber es ist schon ein Unterschied, ob man wie die Nationalsozialisten aus einer nun wirklich paranoiden Weltanschauung heraus auch noch den letzten jüdischen Mann und das letzte jüdische Baby zu vergasen versucht, oder ob man mit häufig unangemessenen militärischen Mitteln, wie der Staat Israel das etwa in Gaza getan hat, versucht, das Leben seiner Bürgerinnen und Bürger gegen den Beschuss mit terroristischen Raketen zu schützen. Das ist nicht dasselbe.
Schossig: Das hat er auch nicht gesagt. Er hat ja gerade diesen Unterschied herauszuarbeiten versucht.
Brumlik: Nein, den Unterschied hat er überhaupt nicht herausgearbeitet. Nein.
Schossig: Salomon Korn hatte ja angemahnt, es komme ihm auf den Kontext an. Lassen Sie uns über den Kontext sprechen, Herr Brumlik. War dieser Kontext falsch, war er verzerrend, hat Grosser vor dem Hintergrund falsch geredet über den Holocaust?
Brumlik: Er war falsch. Ja, definitiv ja.
Schossig: Inwiefern?
Brumlik: Noch einmal, ich wiederhole: Es ist wichtig, streitig sich über den Israel-Palästina-Konflikt auseinanderzusetzen. Das hätte man sehr oft tun können. Es gab die Gelegenheit und Bundestagspräsident Norbert Lammert hat kritische Worte zur israelischen Politik im Westjordanland anlässlich einer ebenfalls in der Paulskirche stattfindenden Versammlung zur 60jährigen Gründung des Staates Israel gesagt. Es gibt tausend Podiumsdiskussionen anlässlich der gescheiterten Verhandlungen zwischen Israel und der palästinensischen Autonomie. Das alles hat mit dem 9. November nichts zu tun. Ich glaube nicht, dass man am 9. November beliebige weltpolitische Themen aufgreifen sollte, sogar wenn sie einen, wie Alfred Grosser sagt, besonders berühren, weil vier seiner Großeltern Juden gewesen sind.
Schossig: Der Vorwurf von Dieter Graumann, dem Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, war, dass Grossers Kritik also Gräben aufreiße, dass er polarisiere. Aber gibt es solche Gräben nicht längst und ist es nicht besser, zu polarisieren, die Dinge anzusprechen, als unkritisch und schulterklopfende Gedenkkultur zu betreiben?
Brumlik: Finde ich nicht. Ich habe mir eine Gedenkveranstaltung immer anders vorgestellt als Podiumsdiskussionen über ein politisches Thema. Aber das Hauptproblem bei der grosserschen Rede war, dass er tatsächlich damit historisches Bewusstsein zerstört, denn gewollt oder ungewollt stellt er nun eine Verbindung zwischen der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern und den Verbrechen der Nationalsozialisten gegenüber den Juden her. Das verfestigt sich im populären Geschichtsbewusstsein und führt dann zu solchen Aussagen wie, dass die Juden ja auch nicht besser sind, weil sie den Palästinensern dasselbe antun wie die Nazis den Juden.
Schossig: Apropos Geschichtsbewusstsein, deutsch-jüdischer Dialog. Herr Brumlik, was halten Sie von den kürzlich neu entdeckten, angeblich gemeinsamen jüdisch-christlichen Wurzeln des Abendlandes?
Brumlik: Ja, überhaupt nichts. Das ist zwar der Sache nach richtig. Die Evangelien, das sind jüdische Schriften. Aber vor 10 Jahren noch hätte niemand so vollmundig über die christlich-jüdische Kultur gesprochen. Die Juden sind über Jahrhunderte aus der christlich-abendländischen Kultur ausgeschlossen worden, hatten unter ihr zu leiden, und das wird derzeit nur beschworen, um so etwas wie eine gemeinsame Front gegen die Muslime zu erreichen.
Schossig: Das war Micha Brumlik direkt aus der Frankfurter Paulskirche mit ersten Einschätzungen der Wirkung des Hauptredners Alfred Grosser zum heutigen Gedenktag an die Pogromnacht 1938. Vielen Dank!
Als ich 65 wurde, haben meine Kollegen und ehemaligen Studenten mir ein Buch gewidmet. Alle Kapitel hatten nur ein Thema, und so hieß auch das Buch: "L"autre", der andere. Ich glaube, an den anderen denken, ist eine Voraussetzung des Friedens, mehr als die Waffen."
Rainer Berthold Schossig: Ein Ausschnitt aus der Rede Alfred Grossers, deutsch-französischer Publizist. Er hat heute Nachmittag auf der Gedenkveranstaltung in der Paulskirche zur Pogromnacht 1938 eine Rede gehalten, und die war insofern mit besonderer Spannung erwartet worden, als zuvor der Zentralrat der Juden gegen Grosser als Redner protestiert hatte. Grosser, der aus Frankfurt stammt und selbst viele Familienmitglieder im Holocaust verloren hat, er habe sich selbst disqualifiziert, so die Argumentation, am heutigen Tag zu sprechen, da er seit Jahren aufs unangemessenste den Holocaust mit der heutigen Situation der palästinensischen Bevölkerung vergleiche, und daher soll er lieber nicht Hauptredner sein. Die Stadt Frankfurt hat aber Alfred Grosser nicht wieder ausgeladen, er hat wie gesagt heute gesprochen. - Am Telefon ist Micha Brumlik, Publizist und Erziehungswissenschaftler an der Johann Wolfgang Goethe-Universität. Herr Brumlik, Sie waren dabei eben in der Paulskirche. War Alfred Grossers Rede unangemessen?
Micha Brumlik: Sie war völlig unangemessen, sie hat das Thema völlig verfehlt, er hat sich eingestandenermaßen kaum auf das Thema 9. November 1938 in Frankfurt am Main vorbereitet, er konnte dazu nichts sagen und hat stattdessen zielsicher sein eigentliches Thema angestrebt, nämlich die Kritik der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern, ein Thema, das durchaus diskutiert werden muss, aber nun wahrlich nicht am 9. November, wo es um die Erinnerungen an die nationalsozialistischen Verbrechen nicht nur gegen Juden, sondern auch gegen Sinti und Roma, gegen Slawen, Russen und andere geht.
Schossig: Wir haben dieses Zitat, diesen Ausschnitt aus der Rede nicht zufällig eingespielt, Herr Brumlik, sondern es geht ihm anscheinend wirklich um den anderen, es geht ihm um die Empathie, und er hat das ja auch mehrfach gesagt, die Einmaligkeit zum Beispiel von Auschwitz sei nur durch Vergleiche mit jedweder Menschenverachtung zu erkennen, zum Beispiel natürlich auch im Gaza-Streifen. Hat er da nicht Recht?
Brumlik: Ja, aber es ist schon ein Unterschied, ob man wie die Nationalsozialisten aus einer nun wirklich paranoiden Weltanschauung heraus auch noch den letzten jüdischen Mann und das letzte jüdische Baby zu vergasen versucht, oder ob man mit häufig unangemessenen militärischen Mitteln, wie der Staat Israel das etwa in Gaza getan hat, versucht, das Leben seiner Bürgerinnen und Bürger gegen den Beschuss mit terroristischen Raketen zu schützen. Das ist nicht dasselbe.
Schossig: Das hat er auch nicht gesagt. Er hat ja gerade diesen Unterschied herauszuarbeiten versucht.
Brumlik: Nein, den Unterschied hat er überhaupt nicht herausgearbeitet. Nein.
Schossig: Salomon Korn hatte ja angemahnt, es komme ihm auf den Kontext an. Lassen Sie uns über den Kontext sprechen, Herr Brumlik. War dieser Kontext falsch, war er verzerrend, hat Grosser vor dem Hintergrund falsch geredet über den Holocaust?
Brumlik: Er war falsch. Ja, definitiv ja.
Schossig: Inwiefern?
Brumlik: Noch einmal, ich wiederhole: Es ist wichtig, streitig sich über den Israel-Palästina-Konflikt auseinanderzusetzen. Das hätte man sehr oft tun können. Es gab die Gelegenheit und Bundestagspräsident Norbert Lammert hat kritische Worte zur israelischen Politik im Westjordanland anlässlich einer ebenfalls in der Paulskirche stattfindenden Versammlung zur 60jährigen Gründung des Staates Israel gesagt. Es gibt tausend Podiumsdiskussionen anlässlich der gescheiterten Verhandlungen zwischen Israel und der palästinensischen Autonomie. Das alles hat mit dem 9. November nichts zu tun. Ich glaube nicht, dass man am 9. November beliebige weltpolitische Themen aufgreifen sollte, sogar wenn sie einen, wie Alfred Grosser sagt, besonders berühren, weil vier seiner Großeltern Juden gewesen sind.
Schossig: Der Vorwurf von Dieter Graumann, dem Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, war, dass Grossers Kritik also Gräben aufreiße, dass er polarisiere. Aber gibt es solche Gräben nicht längst und ist es nicht besser, zu polarisieren, die Dinge anzusprechen, als unkritisch und schulterklopfende Gedenkkultur zu betreiben?
Brumlik: Finde ich nicht. Ich habe mir eine Gedenkveranstaltung immer anders vorgestellt als Podiumsdiskussionen über ein politisches Thema. Aber das Hauptproblem bei der grosserschen Rede war, dass er tatsächlich damit historisches Bewusstsein zerstört, denn gewollt oder ungewollt stellt er nun eine Verbindung zwischen der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern und den Verbrechen der Nationalsozialisten gegenüber den Juden her. Das verfestigt sich im populären Geschichtsbewusstsein und führt dann zu solchen Aussagen wie, dass die Juden ja auch nicht besser sind, weil sie den Palästinensern dasselbe antun wie die Nazis den Juden.
Schossig: Apropos Geschichtsbewusstsein, deutsch-jüdischer Dialog. Herr Brumlik, was halten Sie von den kürzlich neu entdeckten, angeblich gemeinsamen jüdisch-christlichen Wurzeln des Abendlandes?
Brumlik: Ja, überhaupt nichts. Das ist zwar der Sache nach richtig. Die Evangelien, das sind jüdische Schriften. Aber vor 10 Jahren noch hätte niemand so vollmundig über die christlich-jüdische Kultur gesprochen. Die Juden sind über Jahrhunderte aus der christlich-abendländischen Kultur ausgeschlossen worden, hatten unter ihr zu leiden, und das wird derzeit nur beschworen, um so etwas wie eine gemeinsame Front gegen die Muslime zu erreichen.
Schossig: Das war Micha Brumlik direkt aus der Frankfurter Paulskirche mit ersten Einschätzungen der Wirkung des Hauptredners Alfred Grosser zum heutigen Gedenktag an die Pogromnacht 1938. Vielen Dank!