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Großmuseum in der Provinz

Dezentralisierung heißt das Zauberwort, das den reichen Louvre ins arme Lens brachte. Zentrum des neuen Museums ist die "Grande Galerie", die zu einer Zeitreise durch 5000 Jahre Kunstgeschichte einlädt. Ihr gewagter Mix aus Epochen, Genres und Stilrichtungen ist ein Kontrastprogramm zum enzyklopädisch organisierten Stammhaus.

Von Kathrin Hondl | 04.12.2012
    Der Eingang zum neuen Louvre liegt direkt gegenüber von "Pot à Tabac" - einem typisch französischen Café mit Zigarettenverkauf, Tresen und ein paar simplen Tischen und Stühlen. Durch die Fenster geht der Blick auf den lang gestreckten, schlichten Museumsneubau: Einstöckige, ineinander verschränkte Rechtecke, kaum höher als die roten Backstein-Häuser der Arbeitersiedlungen in der Umgebung. Die Fassade aus Glas und Aluminum schimmert leicht vor dem grauen nordfranzösischen Himmel. Elegant sieht es aus, das neue Museum, das auf dem Gelände einer still gelegten Kohlenzeche entstanden ist und sich sehr taktvoll in die ehemalige Industrielandschaft einfügt. Barbesitzer Gaétan ist begeistert:

    "Das ist sehr, sehr gut für die Region, eine sehr gute Entwicklung. Eine kulturelle Entwicklung, die uns hoffentlich auch finanziell voranbringen wird! Das Image unserer Region wird sich verändern."

    Dezentralisierung heißt im zentralistisch organisierten Frankreich das Zauberwort, das den reichen Louvre ins arme Lens brachte. Und noch ein magisches Wort, ein fast schon vergessen geglaubtes Ideal, erlebte seine feierliche Renaissance in der Rede, mit der François Hollande am Mittag den neuen Louvre in Lens eröffnete: Kultur für alle:

    "Und noch etwas bedeutet die Museumseröffnung in den Zeiten der Krise: Vertrauen in die Zukunft."

    Programmatischer Mittelpunkt des neuen Museums ist eine 3000 Quadratmeter große Halle, die "Grande Galerie". Für die kommenden fünf Jahre ist hier eine Ausstellung zu sehen, wie sie im altehrwürdigen Pariser Louvre unvorstellbar wäre.

    Versammelt sind mehr als 200 Kunstwerke aller Art - Malerei, Skulpturen, archäologische Fundstücke aus allen Epochen vom 4. Jahrtausend vor Christus bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts: Da geht es von einem ägyptischen Grabstein zu einer babylonischen Porträtbüste des Königs Hammurabi, von dort dann ebenso barrierefrei weiter ins Mittelalter zu gotischer Malerei oder Marmorsäulen einer französischen Kirche, und schließlich, vorbei an Kunst der Renaissance und des Barock zum finalen Bild der Ausstellung: Delacroixs monumentalem Gemälde "Die Freiheit führt das Volk".

    Der gewagte Mix aus Epochen, Genres und Stilrichtungen ist ein absolutes Kontrastprogramm zum enzyklopädisch organisierten Pariser Stammhaus, wo die Kunstwerke in klar definierten Abteilungen ihren festen Platz haben. Lens ist ein Experimentierfeld, sagt Louvre-Präsident Henri Loyrette:

    "Im Pariser Louvre-Palais fehlte das: Ein Gebäude, in dem man innovativ sein kann. Hier können wir einen anderen Blick auf unsere Sammlung bieten."

    Und Vincent Pomarède, Leiter des Gemälde-Départements im Pariser Louvre ergänzt:

    "Wer in Paris Malerei des 17. Jahrhunderts sehen will, muss in drei verschiedene Gebäudeflügel gehen: Flämische und Holländische Malerei gibt's im Richelieu-Flügel, die französische im Sully-Flügel, die italienische im Denon-Flügel. Hier haben wir in ein und demselben Raum Georges de la Tour, Rembrandt, Domenico Fetti, außerdem Skulpturen."

    Aber eben auch 200 weitere Werke aus allen Epochen. Es wäre nicht fair, den experimentierfreudigen Louvre-Konservatoren Oberflächlichkeit zu unterstellen, sie haben sorgfältig ausgewählt und auch mit prominenten Meisterwerken nicht gegeizt. So ist zum Beispiel auch das berühmte Porträt des Baldassare Castiglione von Raphael in Lens zu sehen. Aber die übergangslose Zeitreise durch 5000 Jahre Kunstgeschichte ist ein sehr rasantes Konzentrat, das die Konzentration auf einzelne Werke nicht gerade erleichtert. Ganz anders ist das in der parallel gezeigten Sonderausstellung zur Kunst der Renaissance, einer klassisch thematisch organisierten Schau in mehreren Räumen – das ist weniger spektakulär als die Grande Galerie, aber man sieht letztlich mehr. Dort hängt jetzt auch, frisch restauriert, "Sainte Anne" oder "Anna selbdritt" – das wahrscheinlich zweitprominenteste Frauenbildnis von Leonardo da Vinci. Wer das berühmteste sehen will, wird in Lens allerdings nicht fündig. Die Mona Lisa gibt's auch in Zukunft nur in Paris.