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Grubenunglück in der Türkei
Erdogans Machtbasis in Gefahr

Das Grubenunglück von Soma könne die Regierung Erdogans in arge Bedrängnis bringen, sagte der Türkei-Experte Yasar Aydin von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Deutschlandfunk. Der Schutz der Arbeiter werde in der Türkei vernachlässigt, an erster Stelle stehe wirtschaftlicher Erfolg.

15.05.2014
    Das undatierte Foto zeigt den Türkeiforscher Yasar Aydin.
    Der Türkeiforscher Yasar Aydin von der Stiftung Wissenschaft und Politik (dpa picture alliance / Marie Staggat)
    In der Türkei sei es zu zahlreichen Privatisierungen gekommen. "Die Arbeitsschutzmaßnahmen konnten mit der Wirtschaftsentwicklung nicht Schritt halten", sagte Yasar Aydin, Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik im Deutschlandfunk. In erste Linie stünde bei den Unternehmen der wirtschaftliche Erfolg im Vordergrund.
    Gewerkschaften sind schwach
    Ein weiteres Problem in der Türkei: Die Gewerkschaften hätten eine schwache Position und könnten nur in sehr begrenztem Ausmaß für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eintreten. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan müsse nun aufpassen: Das Grubenunglück könne seine Machtbasis in erhebliche Gefahr bringen.

    Das Interview in voller Länge
    Friedbert Meurer: Die Rettungs- und Bergungsmannschaften am Kohlebergwerk im türkischen Soma arbeiten vermutlich bis zur Erschöpfung. Aber die Hoffnung, noch Überlebende retten zu können, die ist fast am Nullpunkt angelangt. Seit gestern Abend werden nämlich nur noch tote Kumpel geborgen. Die Angehörigen sind verzweifelt. Derartige Unglücke geschehen eben, das hat gestern der türkische Ministerpräsident Erdogan etwas lapidar in dieser Pressekonferenz gesagt. Viele Demonstranten halten die Katastrophe aber für kein Naturereignis, sondern geben der Politik die Schuld, also eben auch Erdogan.
    Wer trägt die Verantwortung dafür, was geschehen ist? Tausende gehen wie gehört in der Türkei wütend auf die Straße. In Istanbul ist es gestern Abend zu Straßenschlachten gekommen. – Yasar Aydin ist Sozialwissenschaftler an der Stiftung Wissenschaft und Politik und er hat gestern Abend die Proteste in Istanbul selbst miterlebt. Guten Tag, Herr Aydin.
    Yasar Aydin: Guten Tag.
    Meurer: Was haben Sie gestern Abend erlebt in Istanbul bei der Demonstration, die von diesem furchtbaren Unglück ausgelöst wurde?
    Aydin: Junge Leute hatten sich versammelt vor dem Galatasaray-Gymnasium nahe Taksim und haben natürlich gegen das Unglück protestiert, haben die Sicherheitsmaßnahmen und die Arbeitsschutzmaßnahmen angeprangert, haben natürlich die Regierung zur Verantwortung gezogen, und dann haben sie auch versucht, Richtung Taksim-Platz zu marschieren, um dort zu demonstrieren. Aber dann kam es zu Zwischenfällen mit der Polizei, es kam zu massiver Polizeigewalt gegen Demonstranten, weil die Polizei mit allen Mitteln verhindern wollte, dass auf dem Taksim-Platz demonstriert wird.
    Meurer: Haben Sie das mitbekommen? Waren Sie da Augenzeuge, als die Polizei kam?
    Aydin: Ich war Augenzeuge, als die Polizei kam, aber die Zwischenfälle habe ich nicht erlebt. Auf dem Taksim-Platz waren auch viele Polizisten vor dem Marmara-Hotel und die Lage war schon angespannt.
    Proteste in Istanbul nach dem Grubenunglück von Soma
    Proteste in Istanbul nach dem Grubenunglück von Soma (dpa / picture alliance / Erdem Sahin)
    "Die Leute sind sehr verbittert"
    Meurer: Wie groß, Herr Aydin, ist die Verbitterung der Leute, die da demonstriert haben?
    Aydin: Sehr groß, weil in der Vergangenheit wurde ja diese Firma privatisiert und es kam in der Türkei in den letzten Jahren zu Privatisierungen und die Arbeitsschutzmaßnahmen konnten mit der Wirtschaftsentwicklung nicht schritthalten. Viele Arbeitsprozesse wurden auch weiter in sich zergliedert. Es wurden viele Subunternehmen gebildet und man spricht davon, dass die Arbeitsschutzmaßnahmen, auch wenn sie da sind, nicht immer eingehalten werden.
    Meurer: Warum wurden eigentlich die Staatsunternehmen privatisiert? Vermutlich, um sie effektiver zu machen?
    Aydin: Ja, um sie effektiver zu machen. Der Staat wollte das loswerden. Man hat gehofft, dass dadurch die Firmen effektiver würden. Allerdings stehen diese Privatisierungen auch in der Kritik, dass auch damit eine bestimmte Klientel bedient wird.
    Meurer: Welche Klientel?
    Aydin: Die der AKP nahestehen, eine Unternehmerschicht, die der Regierung nahesteht. Es gibt solche Kritiken, dass es da nicht immer mit rechten Dingen zugeht.
    Meurer: Nun ist es ja so, dass die Politik von Erdogan und den Islamisten in der Türkei durchaus erfolgreich gewesen ist: hohes Wirtschaftswachstum, die Löhne haben deutlich zugenommen. Ist das ein Preis, der jetzt in der Übergangszeit bezahlt werden muss, oder nimmt das Erdogan kaltschnäuzig in Kauf?
    Aydin: Ich würde nicht sagen, dass er kaltschnäuzig das in Kauf nimmt, aber vieles deutet darauf hin, dass da nicht genau hingeschaut wurde, dass da die Effektivität an erster Stelle war, dass Arbeitsschutzmaßnahmen nicht richtig kontrolliert wurden. Das hat auch was damit zu tun, dass die Gewerkschaften in der Türkei schwach sind. Wir haben in der Türkei immer noch eine hohe Arbeitslosigkeit und Menschen, die dort arbeiten, haben nicht immer eine Sicherheit für ihren Arbeitsplatz, und das macht es schwierig, gegen solche Probleme bei den Arbeitsschutzmaßnahmen vorzugehen, Kritik zu üben. Und wenn die Gewerkschaften auch zu schwach sind, dann gibt es kaum Institutionen, Organisationen, die das anprangern könnten.
    Popularität Erdogans ist angeschlagen
    Meurer: Kaltschnäuzig haben ja viele empfunden, deswegen der Begriff, wie Ministerpräsident Erdogan gestern reagiert hat. Derartige Unglücke geschehen eben, das kommt auch im Ausland vor. Warum sagt er so etwas?
    Aydin: Ja, das ist fatal. Das ist fatal. Das macht er einerseits, um seine Leute in Schutz zu nehmen und damit die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft zu ziehen. Das war natürlich eine fatale Aussage. Er hat gesagt, dass das zur Natur dieser Branche gehört, und das war natürlich fatal und das hat natürlich viele Menschen auch zornig gemacht. Da stimme ich Ihnen zu. Und es gab auch Proteste in Soma gegen Erdogan. Erdogan wurde als Mörder beschimpft, als Mörder ausgerufen. Diese Proteste könnten sich ausweiten und könnten vor den Wahlen zur Staatspräsidentschaft Erdogan noch mal zusätzlich unter Druck setzen, denn seine Popularität ist eh angeschlagen. Obwohl er aus den Wahlen als Sieger hervorgegangen ist, genießt Erdogan nicht mehr die Popularität, die er vor fünf, sechs Jahren genossen hat.
    Meurer: Glauben Sie, dass diese Geschichte jetzt und die vielen politischen Proteste, die es jetzt gibt, dass die Erdogan gefährlich werden können, wirklich gefährlich, so dass seine Machtbasis in Gefahr gerät?
    Aydin: Ja, das könnte ihm gefährlich werden. Er hat zwar die Wahlen gewonnen, die Wahlen, die ja zu einer Art Referendum für Erdogan hochgeschaukelt wurden. Das hat er gewonnen. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass die AKP mehr als zwei Millionen Stimmen verloren hat. Es gibt Stimmenverluste. Die AKP hat um fünf Prozentpunkte verloren. Und wenn es so weitergeht, wird er weiter an Popularität verlieren, und es gibt auch Anzeichen aus der Wirtschaft, dass die Wirtschaft nicht so schnell wächst wie in den letzten Jahren, und seine Position ist in seiner eigenen Partei auch nicht unangefochten. Wir dürfen nicht vergessen, dass nach dem 17. Dezember, als diese Korruptionsaffäre losging, zehn Abgeordnete aus der AKP ausgetreten sind.
    Meurer: Yasar Aydin, Sozialwissenschaftler und Türkei-Experte an der Stiftung Wissenschaft und Politik, hat gestern Abend in Istanbul die Proteste nach dem Bergwerksunglück miterlebt. Herr Aydin, schönen Dank für das Gespräch. Auf Wiederhören!
    Aydin: Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.