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Grün-Rot in Baden-Württemberg
CDU in Angriffsstellung

Mit Winfried Kretschmann ist seit 2011 erstmals ein Grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Doch in knapp einem Jahr wird wieder gewählt. Und schon jetzt setzen die Christdemokraten alles daran, dass fünf Jahre Grün-Rot in der Landesgeschichte zu einer Episode werden.

Von Michael Brandt |
    Der CDU-Politiker Guido Wolf bei der Bekanntgabe des Ergebnisses der CDU-Mitgliederbefragung für die Spitzenkandidatur 2016 in Baden-Württemberg.
    Winfried Kretschmanns Herausforderer bei der Landtagswahl 2016: der CDU-Politiker Guido Wolf. (dpa /Bernd Weißbrod)
    Es ist ein Freitagabend im Ulmer Stadtteil Ermingen. Eine Mehrzweckhalle aus den 80er-Jahren, die Freiwillige Feuerwehr serviert Apfelschorle und Käsebrötchen, rund 100 CDU-Mitglieder sind gekommen, um den Kandidaten für die Landtagswahl in Baden-Württemberg im kommenden Frühjahr zu nominieren. Überraschungen befürchtet der Kreisvorsitzende Paul Glökler nicht:
    "Ich persönlich bin zuversichtlich, weil hier tatsächlich die Möglichkeit des Generationenwechsels de facto besteht."
    Glökler ist ein freundlicher Mann, im richtigen Leben arbeitet er bei der Sparkasse. Er hat die Angewohnheit, seinen stets bunten Schlips so kurz zu binden, dass bis zum Hosenbund noch mindestens zwei Hemdknöpfe zu sehen sind. So hält der Schlips länger, sagt er, weil er dann nicht immer auf dem Kundentresen abknickt. Er war in der vergangenen Monaten öfter in den Medien zu sehen, als ihm lieb ist, denn:
    "Das war insgesamt eine sehr bewegte Zeit, und zwar ganz einfach deshalb, weil wir als Region wirklich bedeutend sind und dies auch in der personellen Konsequenz nachvollziehen müssen."
    Übersetzt heißt das: Die örtliche Bundestagsabgeordnete war bis vorigen Sommer Annette Schavan, erst die Auseinandersetzung um ihren Doktortitel, dann ihr Weggang nach Rom. Und jetzt will auch noch die langjährige Landtagsabgeordnete und frühere Sozialministerin Monika Stolz nicht mehr antreten.
    "Es ist meine tiefste Überzeugung, dass Demokratie vom Wechsel lebt, auch vom Wechsel der Gesichter. Und dass demokratische Mandate nicht per se lebenslange Aufgaben sind."
    In ihrer Zeit als Ministerin hatte Stolz die Angewohnheit, sich in den Landesfarben zu kleiden. Auch an diesem Abend trägt sie ein gelbes Sakko zum schwarzen Rock. Sie sagt, dass sie - inzwischen mehrfache Großmutter - mehr Zeit für ihre Familie haben will. Aber sie lässt auch durchblicken, dass Opposition lange nicht so viel Spaß macht wie Regieren und Gestalten.
    Fast 60 Jahre lang führte die CDU im Land die Regierung an. Mit Winfried Kretschmann ist seit 2011 erstmals ein Grüner Ministerpräsident.
    "Die Rolle der Opposition in dieser Periode anzunehmen, das war für uns alle nicht einfach in der Fraktion. Es lief nicht mehr so wie früher."
    Stolz tritt nicht mehr an, stattdessen ein gewisser Thomas Kienle, Fraktionschef im Ulmer Gemeinderat und zumindest an diesem Abend ein eher langatmiger Redner. Selbst seine Pointen brauchen ein paar Sekunden, bis sie beim Publikum ankommen:
    "Lieber ein Haus im Grünen, als die Grünen im Haus, meine Damen und Herren."
    Kienle steht - ohne etwas dafür zu können - für ein doppeltes Problem der CDU in Baden-Württemberg. Zum einen treten im schwarzen Stammland zwischen Schwäbischer Alb und Bodensee viele lang gediente und gut vernetzte Landtagsabgeordnete nicht mehr an. Das zweite Problem der CDU sind die Frauen. Der Nachfolger von Frau Stolz ist Herr Kienle. Und als Landtagspräsident Guido Wolf zu Beginn des Jahres Fraktionschef wurde, kam natürlich wieder ein Mann auf den Sessel des Landtagspräsidenten. Obwohl sich zwei vorzeigbare Frauen, unter anderem Monika Stolz, für das Amt interessiert hatten. Stolz zog ihre Bewerbung dann aber zurück:
    Monika Stolz (CDU)
    Monika Stolz (CDU) (AP Archiv)
    "Ich wünsche mir schon, dass Frauen in der Partei mehr Chancen haben, und dass es endlich gelingt, die Kriterien, die man an Frauen anlegt, entweder auch an Männer anzulegen oder umgekehrt. Insofern ist das auch ein Stück eine Überlebensfrage einer Partei, inwieweit sie Frauen Chancen gibt."
    Mit Guido Wolf, der vor einigen Wochen wiederum in Ulm zum Spitzenkandidaten nominiert wurde, hat die CDU einen, der Hallen füllen und in Stimmung bringen kann. Aber meistens sind in den Hallen Männer und oft ist der Altersdurchschnitt ähnlich wie an diesem Abend in Ermingen bei Ulm.
    "Am heutigen Abend würde ich die Größenordnung 55 plus annehmen."
    Die Christdemokraten werden wieder stärkste Fraktion im Landtag werden, das scheint sicher. Ob Wolf - mit dem Koalitionspartner FDP oder vielleicht den Grünen - Ministerpräsident wird? Oder ob es nochmals zu Grün-Rot unter Kretschmann reicht? Das ist für 2016 in Baden-Württemberg die spannende Frage.
    Landtagswahl im kommenden März
    Ortswechsel - auf die A 81 zwischen Stuttgart und Singen. Der grüne Landtagsabgeordnete Martin Hahn fährt nach dem Landtagsplenum heim in seinen Wahlkreis am Bodensee.
    "Das ist ganz klar nach Hause kommen. Stuttgart ist für mich der Teil des Arbeitsplatzes, ich fahre da hin, ich habe meine Sitzungen, meine Besprechungen in den Ministieren und wenn ich die Sachen erledigt habe, dann fahr ich nach Hause."
    Hahn ist Biobauer. Bevor er in den Landtag kam, stand er noch regelmäßig auf den Wochenmärkten der Region. Er kennt alle und jeden, die Parteifarbe ist egal, für die meisten ist er der Martin, der gerne lacht, sich für die Region einsetzt und kein Blatt vor den Mund nimmt. Seitdem er im Landtag sitzt, hat er den Betrieb verpachtet, packt aber auf dem Hof noch immer an.
    "Jetzt sind wir hier gelandet. Hier rechts ist unser Bauernhaus, wo ich drin wohne, wo ich drin lebe mit meinen Kindern und meiner Frau. Und gegenüber ist der Stall für die Kühe."
    Zu Hause angekommen, zieht er Schlips und Sakko aus, stattdessen Pullover und bequeme Schuhe an. Ein kurzes Vesper am Küchentisch und dann geht es zu einem Treffen mit Parteifreunden. Hahn ist ein typischer Realo-Grüner, mit Ideologie hat er nicht viel am Hut, mit Lösungen, die gut für die Region und gut für die Umwelt sind, umso mehr. Verheiratet ist er mit Sabine Becker, der Oberbürgermeisterin von Überlingen, die bis vor einem Jahr CDU-Mitglied war und dann wegen möglicher Interessenskonflikte ausgetreten ist.
    Natürlich geht es auch hier um die Landtagswahl im kommenden März. So wie die CDU alles daran setzt, dass fünf Jahre Grün-Rot in der Geschichte von Baden-Württemberg nur eine Episode sind, so will der Grüne Martin Hahn, dass sich das Land nachhaltig verändert:
    "Das ist die große Aufgabe: Die genetische Bindung, die vermeintlich in diesem Land herrscht, zwischen CDU und Regierung, diese genetische Bindung zu lösen, und Baden-Württemberg zu einem weltoffenen Land machen, wo eine Zukunft hat, jenseits und vielleicht aber auch wieder mit der CDU, aber mit offenen Kräften, die sich politisch für das Beste dieses Landes einsetzen."
    Vor vier Jahren ist Hahn mit 26 Prozent der Stimmen in den Landtag eingezogen, diesmal heißt sein Ziel Direktmandat, zumal auch in seinem Wahlkreis der langjährige CDU-Abgeordnete nicht mehr antritt. Machbar, wenn man auf Hahns Parteifreunde hört:
    "Dann natürlich auch der Rückenwind durch eine Person wie Winfried Kretschmann. Das ist, wenn man durch Baden-Württemberg fährt, egal, mit wem man redet von welcher politische Couleur, ist das klar, dass jemand wie Winfried Kretschmann eine sehr hohe Akzeptanz hat auch bei klassischen CDU-Wählern."
    Mit Abgeordneten wie Martin Hahn haben die Grünen jedenfalls auch im ländlichen Raum Chancen, der CDU ihre Führungsrolle abzujagen. Zumindest in einigen Regionen des Landes ist das so. Zwischen Alb und Bodensee, in Südbaden im Umkreis der Grünen-Hochburg Freiburg. Hier ist das anders. So klang es vor zwei Jahren in Bad Wildbad im Schwarzwald, als der grüne Minister für den Ländlichen Raum Alexander Bonde auftrat. Es ging um einen Nationalpark im Nordschwarzwald - und die Gegner waren zahlreich und sie waren laut:
    "Uns liegt die Heimat am Herzen und wir wollen die nicht vom Borkenkäfer zusammenfressen lassen und nicht von irgendwelchen Öko-Diktatoren bevormundet werden. Jubel ... "
    Fakt war: Ein großer Teil der Anwohner im Schwarzwald war dagegen, dass in der Nähe von Baiersbronn ein Nationalpark eingerichtet wird, wo nicht mehr Förster und Waldbauern, sondern die Natur das Sagen hat - und die grün-rote Landesregierung stand vor einem Dilemma: Einerseits hatte sie den Menschen eine "Politik des Gehörtwerdens" versprochen. Andererseits war der Nationalpark ein erklärtes politisches Ziel. Am Ende entschied sich der Landtag mit grün-roter Mehrheit für den Park.
    Inzwischen gibt es diesen seit etwas über einem Jahr, zumindest die Besucher sind begeistert über das Naturerlebnis:
    "Sehr, sehr gute Sache, weil die Natur geschützt wird dadurch.
    Super, also ich habe mich total gefreut, als ich gehört habe, dass der Nationalpark kommt."
    "Es hat sich wohl auch ein bisschen beruhigt, nachdem auch viel in der Presse steht über die Vor- und Nachteile."
    An diesem Nachmittag holt eine Gruppe Eltern und Großeltern ihre Kinder ab, die im Nationalparkzentrum die Natur kennengelernt haben. Was die Kinder nach ein paar Stunden Wald und Sonne sagen, ist klar: Cool ...
    " ... weil es da ganz viele Pflanzen gibt und vielleicht auch ein paar Tiere, wenn man mal genau hinschaut, kleine."
    "Mir hat's sehr gut gefallen. Es hat Spaß gemacht. Mich stört es nicht, dass wir jetzt nicht so viele Tiere gesehen haben. Hauptsache, man hatte Spaß. "
    Thomas Waldenspul, einer der beiden Leiter des Nationalparks, berichtet, dass derzeit eine Studie in der Mache sei, die ein genaueres Bild der Akzeptanz vor Ort zeichnen soll. Der Eindruck: Erstens sind die Gegner nicht mehr so laut wie noch vor zwei Jahren. Zweitens und drittens aber:
    "Die Skepsis ist bei denjenigen, die klar immer gegen den Nationalpark waren, geblieben. Die Skeptiker, die gesagt haben, schauen wir mal, was auf uns zukommt, die sind eher im Augenblick auf dem Weg, sich positiv für den Nationalpark zu positionieren."
    Die Gegner des Nationalparks haben sich in einem Verein namens "Unser Nordschwarzwald" organisiert. Ihr Sprecher ist der Werbefachmann Andreas Fischer, der seine Besucher mit Trachtenweste empfängt. Er sagt: Die Gegner sind noch genauso zahlreich wie vor zwei Jahren:
    "Ich gehe nach wie vor davon aus, dass 80 Prozent der Menschen in der Region den Nationalpark ablehnen. Ich habe nicht das Gefühl, dass sich da etwas geändert hat, auch wenn es etwas stiller geworden ist."
    Fischer wirft Grün-Rot vor, Politik gegen die Menschen in der Region zu machen: Ideologie statt Demokratie. Und er setzt darauf, dass die Menschen im Schwarzwald der Landesregierung die Rechnung dafür bei der Landtagswahl präsentieren:
    "Der Nationalpark ist übers Knie gebrochen worden, sehr schnell eingerichtet worden, um möglicherweise auch eine entsprechende Distanz zur Landtagswahl zu haben. Wir holen die Diskussion zurück in den Landtagswahlkampf."
    Die Grenzen der Bürgerbeteiligung
    Unter anderem soll ein Schwarzbuch zum Nationalpark erscheinen sowie eine Online-Aktion gegen den Park und gegen Grün-Rot. Gisela Erler kennt die Stimmung vor Ort. Sie ist Kretschmans Staatsrätin für Bürgerbeteiligung. Sie erklärt das Dilemma, dass hier wohl tatsächlich gegen den Willen der Menschen vor Ort entschieden wurde, grundsätzlich. Wo es um Entscheidungen im Interesse des Großen und Ganzen, in diesem Fall des Landes ginge, habe Bürgerbeteiligung vor Ort ihre Grenzen:
    "Bei einem Nationalpark wird im Landtag entscheiden, sonst haben wir die Logik eines immerwährenden Anwohnervetos."
    Auch wenn kein Zweifel daran besteht, dass Grün-Rot in Baden-Württemberg und vorneweg Ministerpräsident Kretschmann für einen neuen Politikstil steht, hat sich am Beispiel Nationalpark also gezeigt, dass Bürgerbeteiligung auch ihre Grenzen hat.
    Reutlingen ist ein hübsches Städtchen 30 Kilometer von Stuttgart entfernt am Fuße der Schwäbischen Alb. Die Fußgängerzone innerhalb der früheren Stadtmauer ist Anziehungspunkt für die Menschen der Region. Die kleinste Großstadt des Landes ist einerseits typisch für den württembergischen Landesteil. Streng protestantisch, die Menschen sind fleißig und ideenreich und haben es zu Wohlstand gebracht. Andererseits hat Reutlingen etwas, was in Baden-Württemberg selten ist: eine sozialdemokratische Tradition. Die geht zum einen auf die frühere Wirtschaftsstruktur als Zentrum der Textilindustrie zurück, zum anderen auf eine Persönlichkeit, den langjährigen Oberbürgermeister Oskar Kalbfell. Es ist also kein Zufall, dass auch Nils Schmid, Finanz- und Wirtschaftsminister und Vorsitzender der Landes-SPD, seit einiger Zeit hier lebt – und seine Einkäufe macht.
    "Reutlingen hat eine stolze bürgerschaftliche Tradition gespeist aus der lagen Geschichte als freier Reichsstadt. Und schließlich habe ich persönliche Bindungen nach Reutlingen, habe ein Teil meiner Kindheit dort verbracht."
    SPD laut Umfrage bei mageren 18 Prozent
    Aber selbst in Reutlingen haben es die Sozialdemokraten schwer. Sie werden kaum wahrgenommen. Den bevorstehenden Landtagswahlkampf werden Ministerpräsident Kretschmann und dessen CDU-Herausforderer Wolf dominieren. In einer Ende März veröffentlichten Umfrage von SWR und Stuttgarter Zeitung liegt die SPD trotz Regierungsbeteiligung bei mageren 18 Prozent und gefährdet damit die Wiederwahl der grün-roten Koalition. Winfried Kretschmann hingegen hat Zustimmungswerte von 72 Prozent. Für Schmid ist das das Schicksal eines kleineren Koalitionspartners:
    "Dass wir nicht selber den Regierungschef stellen, führt logischerweise dazu, dass das, was die SPD in der Regierung arbeitet und umsetzt auch den Grünen und auch Winfried Kretschmann als Regierungschef zugeschrieben wird."
    Auch was die Wirtschaft angeht, ist Reutlingen ziemlich typisch für Baden-Württemberg. Bis in die 80er-Jahre war es ein Zentrum der Textilindustrie, heute sind Automobilzulieferer stark, aber auch Medizintechnik, Maschinenbau, alles Branchen, die von der Innovation leben und die gut gedeihen.
    Für Christian Erbe, Präsident der Industrie- und Handelskammer der Region, ist es eine Musterregion im Musterländle:
    "Das trifft es, glaube ich, genau auf den Punkt. Denn unser Ticket, unser Fahrschein in der Zukunft ist tatsächlich Innovation in diesem Raum. Und zwar allein schon deswegen, weil wir uns sehr stark im internationalen Wettbewerb bewegen. Unsere Unternehmen haben eine Exportquote von mehr als 45 Prozent. Also mehr als die Hälfte der Produkte hier aus dieser Raumschaft geht ins Ausland."
    Erbe, der selbst ein Medizintechnikunternehmen mit über 800 Mitarbeitern führt, ist in der baden-württembergischen Wirtschaft eine gewichtige Stimme mit guten Kontakten in die Politik.
    Er berichtet mit Blick auf die grün-rote Koalition, dass es nach dem Machtwechsel 2011 in der Wirtschaft zunächst ein gewisses Luft-Anhalten gab. Insbesondere in der wichtigen Automobilindustrie, nachdem der Satz von Winfried Kretschmann, dass weniger Autos besser seien als mehr, die Runde gemacht hatte. Auch im Koalitionsvertrag hätte man Passagen gefunden, die, so Erbe, "von einer gewissen Wirtschaftsferne zeugen". Aber:
    "In der Zwischenzeit haben wir aber erkennen müssen, dass einiges korrigiert worden ist und auch einige Punkte des Koalitionsvertrages nicht so eins zu eins umgesetzt worden sind, wie sie drin standen. Und da kam dann schon die Entspannung auf, als wir gesehen haben, die Koalition lernt. Und Konzepte, die jetzt nicht sehr erfolgreich waren, wurden fallen gelassen und man hat sich in die richtige Richtung entwickelt."
    Die Lernkurve von Grün-Rot, auch bei der Bildungspolitik, zeige inzwischen deutlich nach oben, denn, so Christian Erbe, die Wirtschaft in Baden-Württemberg ist auf bestens qualifizierte Schul- und Hochschulabsolventen angewiesen, um ihren Platz zu behaupten.
    "Die Wirtschaft ist recht pragmatisch. Und alle Ansätze, die wirtschaftsfreundlich sind, begrüßen wir. Und da ist eigentlich sekundär von welcher Parteiseite es kommt. Denn wir wissen, dass wir uns weiter gut aufstellen müssen, denn wir sehen Baden-Württemberg in immer größerem Wettbewerb - international."
    Die Wirtschaft in Baden-Württemberg hat sich also mit Grün-Rot arrangiert. Auch wenn einige Schlüsselfiguren noch immer eher die Nähe zur CDU oder zur FDP suchen, so gibt es doch zumindest keinen Gegenwind zur Landesregierung.
    Das Thema Stuttgart 21 spielt fast keine Rolle mehr
    Die Grünen in der Landeshauptstadt Stuttgart. Ort der Veranstaltung ist der exklusive Kursaal im Stadtteil Bad Cannstatt, und man muss nur die Begrüßung vom Kreisvorsitzenden Mark Breitenbücher hören, um zu erkennen, dass die Partei hier ein gewichtiger Machtfaktor ist:
    "Besonders freue ich mich begrüßen zu dürfen: unseren Bundesvorsitzenden Cem Özdemir, unsere Landesminister Untersteller und Herrmann sind hier, Landtagsvizepräsidentin Brigitte Lösch und unseren Oberbürgermeister Fritz Kuhn."
    Gleich vier Landtagskandidaten sollen hier nominiert werden. Drei sind bereits im Landtag. Neu dazu kommt Verkehrsminister Winfried Hermann, der 2011 aus dem Bundestag ins Regierungsamt kam und jetzt wieder ein Mandat im Landesparlament will. Und es läuft wie am Schnürchen. Nach den zehnminütigen Vorstellungsreden gibt es ein paar zaghafte Fragen zum Fahrradverkehr oder zu diesem Thema:
    "Ich könnte mir vorstellen, dass die Bundesregierung dafür sorgen wird, dass noch vor der baden-württembergischen Landtagswahl über das Freihandelsabkommen TTIP geredet wird. Wie wird sich da die Landesregierung verhalten?"
    Und als dann einer der Minister antwortet, dass Freihandel im Grunde eine gute Sache sei, dass es nur auf die Kontrollmöglichkeiten ankäme, gibt es keine Diskussion. Auch das Thema Stuttgart 21 spielt kaum eine Rolle. Minister Hermann erklärt, dass er dagegen gekämpft habe, dass er das Ergebnis der Volksabstimmung aber akzeptieren müsse. Und jetzt gehe es eben darum, das Beste draus zu machen. Keine Fragen zu dem Thema, und das Abstimmungsergebnis legt nahe, dass die Stuttgarter Grünen mit dieser Haltung leben können:
    "Abgegebene Stimmen: 120, Nein-Stimmen: drei, damit ist Winfried Hermann mit 117 Stimmen gewählt das sind 97,5 Prozent."
    Anders ausgedrückt: Es geht hier nicht ums Diskutieren, sondern darum, Macht zu organisieren. Bei den Stuttgarter Grünen funktioniert das erkennbar gut.
    Voraussichtlich genauso wird es heute Abend in Nürtingen sein. Dort bewirbt sich zur Stunde Winfried Kretschmann um sein Landtagsmandat – und man kann Wetten darauf abschließen, dass die Gegner von Stuttgart 21 oder des Flüchtlingskompromisses bestenfalls eine kleine Minderheit sein werden.

    Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 demonstrieren am 1. Oktober 2010
    Vergangene Tage: Protest gegen Stuttgart 21 im Oktober 2010. (AP)
    Freiburg, Stuttgart, Tübingen, in drei wichtigen Städten des Landes stellen die Grünen inzwischen die Oberbürgermeister, vielfach sind sie die Partei des urbanen Klientels geworden, was man im Übrigen auch an der klaren Zielsetzung der Versammlung im Cannstatter Kursaal erkennen kann: 2016 will die Partei in der Landeshauptstadt nicht nur drei, sondern alle vier Direktmandate gewinnen. Fehler wie der Veggie-Day der Bundes-Grünen sind hier eher nicht zu erwarten. Denn alle wissen, dass es knapp wird bei der Landtagswahl am 13. März 2016. Denn diesmal gibt es keinen Rückenwind durch Stuttgart 21 oder das Atomunglück in Fukushima – und keinen Stefan Mappus, der vermutlich viele davon abgehalten hat, die CDU zu wählen. In der Umfrage von SWR und Stuttgarter Zeitung vor einigen Tagen lagen Grün-Rot und Schwarz-Gelb bei der Sonntagsfrage gleichauf.