Grünen-Chefin Annalena Baerbock hält allzu schnelle Lockerungen im Zuge des Corona-Shutdowns für riskant: "Wir stecken noch mitten drin in dieser wahnsinnigen, großen Krise und müssen absolute Vorsicht walten lassen." Mit jedem großen Schritt laufe man Gefahr, die Eindämmung des Virus wieder zu verspielen, sagte Baerbock im Interview der Woche des Deutschlandfunks.
"Das ist eine sehr angespannte Zeit für unsere gesamte Gesellschaft. Deshalb ist es wichtig, dass wir alle im Blick haben und gegenseitig aufeinander achten." Das sei vor zwei Wochen, als man die ersten kleinen Öffnungsschritte gegangen ist, für Familien und Kinder versäumt worden.
"Wir müssen uns die Mühe machen, sehr differenzierte und pragmatische Lösungen zu finden. Es gibt sehr viele Möglichkeiten zwischen komplett geschlossen und komplett offen", sagte Baerbock zum Thema Schulöffnungen. "Wir müssen Infektionsschutz garantieren. Aber es gibt auch das Recht auf Bildung. Es gibt Kinder, die brauchen die Schule auch als Schutzort."
Der Staat habe eine Fürsorgepflicht, daher müsse man konkrete Vorschläge machen. "Ich fand die Ansage von Armin Laschet und seiner Bildungsministerin fatal, die Schüler sollten sich mal selber drum kümmern, ob sie mit Schutzmasken in Schulen reinkommen." Man könne zum Beispiel Schüler gestaffelt in die Schulen schicken, in Kleinstgruppen.
Vorschlag: Konsumgutscheine für Geschäfte in der Nachbarschaft
Um nicht in eine massive Wirtschaftskrise zu rutschen, brauche es nach dem Hilfspaket des Bundestags zügig weitere Investitionen. "Wie feuern nicht wie im Feuerwerk alles raus, was geht", machte die Grünen-Chefin klar, sprach sich jedoch für weitere "Sofortmaßnahmen" für kleinere Restaurants und für Eltern in Form eines Corona-Elterngeldes aus. Später soll es nach Ansicht der Grünen andere Maßnahmen wie Konsumgutscheine für Geschäfte in der Nachbarschaft geben, die die Innenstädte wieder beleben sollen.
Beim Kurzarbeitergeld sollte man vor allem Arbeitnehmer mit geringem Einkommen gezielt unterstützen. Eine erneute Abwrackprämie für die Autoindustrie lehnt die Grünen-Vorsitzende ab, "weil sie ökologisch eine fatale Lenkungswirkung hat".
"Opposition ist nicht, immer dagegen zu sein"
Dass die Umfragewerte ihrer Partei zurückgingen, nehme sie einigermaßen gelassen hin, erklärte Annalena Baerbock. Man erlebe gerade weltweit, dass in so einer Krise Regierungen bei Umfragen gestärkt hervorgehen.
"Für mich ist Opposition nicht, einfach immer dagegen zu sein. Ich will mich konstruktiv einbringen und da, wo es hakt, den Finger in die Wunde legen. Da machen wir Vorschläge, wie es anders gehen könnte, zum Beispiel beim Thema Solo-Selbstständigkeit und Kurzarbeitergeld."
Die Grünen seien keine Ein-Themen-Partei. Bei den geplanten Konjunkturprogrammen müsse der Klimaschutz zwar eine zentrale Rolle spielen, aber auch die Abhängigkeit von Produktionsstätten im Ausland, der Medikamentenmangel und die ganze auf Kostenersparnis ausgerichtete Gesundheitswirtschaft – "daran sollten wir arbeiten."
Das Interview in voller Länge.
Barbara Schmidt-Mattern: Kino geht nicht mehr, Fußballspiele fallen aus, Familienfeiern konnten über Ostern nicht stattfinden. Wir vermissen alle mehr oder weniger das Arbeiten mit Kolleginnen und Kollegen im gleichen Raum. Der Bundestagspräsident warnt in einem Interview vor einem Kippen der Stimmung in der Bevölkerung. Haben Sie eigentlich, Frau Baerbock, so einen Moment erlebt in den letzten Wochen, persönlich oder auch politisch, in dem Sie das Gefühl hatten: 'Mensch, jetzt kippt mir meine Stimmung'?
Annalena Baerbock: Dass die Stimmung kippt, ich glaube, das haben wir alle ja tagtäglich, weil natürlich ist es nicht nur einfach. Ich bin hier ja mit zwei Kindern jetzt vor allen Dingen primär im Homeoffice unterwegs. Und den ganzen Tag arbeiten und dann eine Acht- und Vierjährige noch zu betreuen, das ist nicht nur einfach, und ich erlebe rundherum ja, wie es für viele andere auch ist, gerade die, die noch viel kleinere Wohnungen haben, die keinen Garten haben oder ältere Menschen, die seit Wochen nicht wirklich mit jemandem gesprochen haben, die sich Sorgen machen, wenn sie ins Krankenhaus kommen, was dann eigentlich passiert. Deswegen, klar, das ist eine sehr angespannte Zeit für unsere gesamte Gesellschaft und deswegen ist es so wichtig, dass wir alle im Blick haben, und dass wir gegenseitig aufeinander achten.
"Wir laufen Gefahr, alles wieder zu verspielen"
Schmidt-Mattern: Nun ist ja eine laute Debatte inzwischen entbrannt nach anfangs großer Einmütigkeit, wird jetzt debattiert über das Pro und Contra von Lockerungen der Einschränkungen, unter denen wir im Moment alle leben und auch leiden. Die Maßnahmen zu lockern, die Ausgangsbeschränkungen, ist das richtig aus Ihrer Sicht, oder müssen wir mit Rücksicht auf unsere aller Gesundheit und vor allem die der Schwachen und Älteren an dieser Art von Shutdown im Großen und Ganzen eher noch länger festhalten, wo stehen Sie da?
Baerbock: Wir stecken noch mittendrin, in dieser wahnsinnigen großen Krise und wir müssen absolute Vorsicht walten lassen, weil wir jetzt in Deutschland einigermaßen das Virus eindämmen konnten, aber mit jedem zu großen Schritt natürlich auch Gefahr laufen, alles wieder zu verspielen. Deswegen war es aus meiner Sicht sehr, sehr richtig, deutlich zu machen, dass man nur sehr kleine Schritte gehen kann. Auf der anderen Seite müssen wir natürlich immer wieder abwägen, was das für Auswirkungen hat, wirtschaftliche, aber gerade auch soziale Auswirkungen und aus meiner Sicht war da vor allen Dingen vor zwei Wochen, als man jetzt die ersten kleinen Öffnungsschritte gegangen ist, hatte man nicht alle Menschen gleich mit im Blick, gerade Familien und Kinder. Die Situation ist außen vor gelassen worden und das ist aus meiner Sicht wirklich fatal.
Baerbock: Infektionsschutz auch in der Schule garantieren
Schmidt-Mattern: Nun sprechen wir inzwischen etwas mehr auch über die Kleinsten in unserer Gesellschaft, und wir reden viel über gestresste berufstätige Eltern, aber immer noch verhältnismäßig wenig über die Schülerinnen und Schüler, die teils den Vorwurf erheben, "wenn wir jetzt wieder in die Schule geschickt werden, macht man uns zu Versuchskaninchen", und tatsächlich sagen viele ja auch, die von der Praxis in einer Schule ein bisschen Ahnung haben, das ist mit den anderthalb Metern, zwei Metern Abstand unter Jugendlichen, auch unter Kindern, eigentlich illusorisch. Unter diesem Aspekt sollen die Schulen wirklich Anfang Mai schrittweise wieder öffnen, oder sagen Sie als Grüne, wir müssen damit länger warten?
Baerbock: Wir müssen uns die Mühe machen, so wie wir in anderen Bereichen ja auch nicht Schwarz oder Weiß sagen, auch nicht sagen, alle Geschäfte sofort wieder auf, sondern sehr differenzierte Lösungen finden, sehr pragmatische Lösungen auch finden. Diese Mühe müssen wir uns auch im Bereich der Schwächsten und Kleinsten machen, also Kinder und Schülerinnen und Schüler und es gibt sehr, sehr viele Möglichkeiten zwischen komplett geschlossen, was ja jetzt die Ansage war, und zu komplett offen, alle sofort automatisch wieder rein, sondern man muss Möglichkeiten schaffen, dass wir den Infektionsschutz natürlich auch in der Schule garantieren, aber es gibt auch das Recht auf Bildung und gerade wenn wir uns Kinder anschauen, die in der Grundschule sind, die können nicht alleine einfach drei Stunden hintereinander weg lernen. Es gibt Kinder, die brauchen die Schule auch als Schutzorte, weil es zu Hause eben nicht die gute heile Welt ist.
Baerbock: Schulen spielen zentrale Rolle beim Kinderschutz
Schmidt-Mattern: Und diejenigen Schülerinnen und Schüler, die sich als Versuchskaninchen fühlen, übertreiben die?
Baerbock: Nein, überhaupt nicht und daher fand ich auch die Ansage in NRW von Herrn Laschet und der Bildungsministerin fatal, einfach zu sagen, die Schüler sollen sich mal selber darum kümmern, ob sie mit Schutzmasken in die Schulen wieder reinkommen. Nein, der Staat hat eine Fürsorgepflicht und er hat die Verpflichtung, das Recht auf Bildung, auch in so einer Situation, umzusetzen. Daher muss man aus meiner Sicht ganz konkrete Vorschläge machen, wie der Gesundheitsschutz und Bildung für alle umgesetzt werden können. Zum Beispiel kann man Schüler gestaffelt in die Schulen wieder schicken, dass man sagt, das sind nie mehr als 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler wieder an der Schule. Der erste Schritt ist ja, dass Schüler überhaupt mal wieder Kontakt zu ihren Lehrerinnen und Lehrern haben, zum Beispiel in Kleingruppen kommen, nehmen wir jetzt einmal die Grundschule. Da ist es für eine Achtjährige überhaupt einmal gut, wieder überhaupt mit der Lehrerin zu reden. Wenn fünf Kinder gleichzeitig kommen, dann hat man einen riesengroßen Klassenraum, wo fünf Kinder sehr gut verteilt sitzen können, wo die Lehrerinnen überhaupt mal mit den Kindern sprechen können, wie geht es euch denn zu Hause, hast du Mathe überhaupt gemacht, wie sieht es mit Englisch aus, wenn deine Eltern gar kein Englisch sprechen oder sich auch die Sorgen und Nöte der Kinder anhören, weil man darf nicht vergessen, dass gerade auch die Frage vom Kinderschutz, dass dort öffentliche Institutionen wie Schulen eine zentrale Rolle spielen, weil zum Beispiel bei Misshandlungen, bei Kinderschutzvorfällen 60 Prozent der Meldungen finden statt über Kindergärten, Schule oder auch Kinderärzte. Das muss man alles mit in die Betrachtung mit einbeziehen und sich, wie gesagt, die Mühe zu machen, wie man auch in anderen Bereichen kleine Schritte gefunden hat, das auch für die Schüler zu leisten. Das kann man nicht alleine den Lehrkräften und den Schülern überlassen, sondern dafür gibt es Politiker, die dafür die Voraussetzungen schaffen müssen.
Baerbock: Hilfe für die sozial Schwächsten in der Gesellschaft
Schmidt-Mattern: Frau Baerbock, sprechen wir über die Wirtschaft und sprechen wir über das Geld. Ich möchte noch einmal den Bundestagspräsidenten zitieren, Wolfgang Schäuble, warnt vor einer Überlastung des Staates in der Coronakrise angesichts der massiven milliardenschweren Hilfspakete, die jetzt in der Coronakrise von der Bundesregierung, aber auch von der Europäischen Union geschnürt werden und er sagte im Tagesspiegel, es gebe da ein verbreitetes Gefühl, wir könnten jedes Problem mit unbegrenzten staatlichen Mitteln lösen und die Wirtschaft einfach hinterher mit einem Konjunkturprogramm dann wieder in Gang kriegen. Fühlen Sie sich da eigentlich als Opposition angesprochen, wenn Sie jetzt Forderungen erheben, wem alles wie geholfen werden muss, ohne dass Sie dabei daran denken, wie das Ganze auch finanziert wird?
Baerbock: Wir feuern ja nicht wie ein Feuerwerk alles raus, was geht, sondern wir haben sehr gezielt als Grüne Vorschläge gemacht, wo wir gesagt haben, da muss der Staat Menschen unter die Arme greifen und jetzt akut vor allen Dingen den sozial Schwächsten in unserer Gesellschaft. Es wurde ja sehr, sehr schnell ein großer wirtschaftlicher Rettungsfonds auf den Weg gebracht. Das halte ich auch für sehr richtig für Soloselbstständige, für kleine Betriebe, für mittlere Betriebe, eine Unterstützung auch von großen Firmen, aber – und deswegen haben wir das auch als Opposition eingefordert – man darf dabei nicht vergessen, dass Menschen auch eine soziale Absicherung brauchen. Deswegen haben wir vorgeschlagen und Teile dessen wurden ja zum Glück auch aufgenommen, auch wenn noch nicht alles, das Kurzarbeitergeld zu erhöhen.
Aus unserer Sicht sollte das vor allem für die Einkommensschwächsten gelten, weil das macht ja einen riesengroßen Unterschied, ob ich von 1.300 Euro Einkommen 60 Prozent bekomme oder ob ich von 2.500 Euro 60 Prozent bekomme und deswegen haben wir da ganz gezielt eine Aufstockung von denjenigen gefordert, die ein sehr geringes Einkommen haben oder eben auch einen Zuschlag für Hartz IV-Empfänger, weil wo die Lebensmittel jetzt teurer werden, wo das kostenlose Mittagsessen in der Schule für Kinder wegfällt, die sowieso schon auf das Nötigste angewiesen sind, da braucht es eben gerade von diesen Menschen eine gezielte Unterstützung in Form eines sozialen Rettungsschirms.
"Natürlich kostet das sehr, sehr viel Geld"
Schmidt-Mattern: Sie fordern dann außerdem noch ein sogenanntes Corona-Elterngeld für Eltern, die wegen fehlender Kinderbetreuung nicht arbeiten können. Dann sind da die 250 Euro-Gutscheine, die Ihre Fraktion im Bundestag vorgeschlagen hat, für jeden einen Gutschein, mit dem er oder sie die kleinen Geschäfte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft unterstützen können soll. Wie wollen Sie das alles finanzieren, Frau Baerbock? Da kommen Milliarden-Beiträge wiederum heraus, wenn man all Ihre Vorschläge in die Tat umsetzen würde.
Baerbock: Natürlich kostet das sehr, sehr viel Geld. Der Bundestag hat ja ganz geschlossen vor ein paar Wochen das erste große Hilfspaket von 160 Milliarden Euro gemeinsam auf den Weg gebracht, damit wir nicht sofort in eine katastrophale Lage hier in unserem Land hineinrutschen. Klar ist aber, es muss weitere Investitionen geben, damit wir nicht von der Coronakrise danach in eine massive Wirtschaftskrise mit reinrutschen. Ich würde es gerne einmal unterteilen, weil das nicht alles jetzt auf einmal ist. Wir brauchen Sofortmaßnahmen, um Menschen, die jetzt in Notlage sind, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können, kleine Restaurants, die geschlossen sind, die brauchen jetzt sofort Hilfe, ansonsten wird es in ein paar Monaten keine Restaurants mehr geben und ich glaube, in solchen Innenstädten wollen wir alle nicht leben. Dazu gehört auch das Corona-Elterngeld als Sofortmaßnahme. Eltern können nicht über Monate Vollzeit von zu Hause arbeiten und kleine Kinder nebenbei betreuen. Dann werden am Ende alle irre. Das sind die Sofortmaßnahmen und das müssen wir trennen von den, was sie jetzt gesagt hatten, mit Blick auf Konsumgutscheine. Wenn wir dann, und das ist vielleicht in einem halben Jahr, das wissen wir ja leider alle noch überhaupt nicht, wenn die Konjunktur dann anspringen muss, weil wir das Schlimmste überwunden haben und die Wirtschaft wieder hochgefahren werden muss, zum Beispiel im Automobilbereich hängen 800.000 Jobs dran, ganz viele kleine Zulieferer.
"Die Innenstädte wieder beleben"
Schmidt-Mattern: Da kommen wir gleich noch drauf zu sprechen, genau.
Baerbock: Genau, dann müssen wir dazu kommen, dass wir den Konsum wieder anreizen, die Innenstädte wieder beleben und daher, dieser Innenstadtrettungsfonds für circa in einem halben Jahr, wenn die Innenstädte wieder auch besucht werden können - derzeit sollen ja alle vor allen Dingen zu Hause bleiben - um dann Restaurants, die dann wieder öffnen können, auch zu unterstützen, dass sie weiterhin überleben können, damit am Ende nicht nur noch Digitalkonzerne, digitale Angebote zur Verfügung stehen, weil ich glaube, das wollen wir alle nicht, sondern der Besuch vor Ort, von kleinen Geschäften, von Gastronomie ist ja das, was Städte, was Dörfer lebenswert macht.
"Sehr lang gestaffelter Tilgungsplan für die Kreditaufnahme"
Schmidt-Mattern: Noch mal nachgefragt, Frau Baerbock, wie wollen Sie das alles mittelfristig finanzieren? Denken Sie da an Steuererhöhungen? Denken Sie an die weitere Aufnahme neuer Schulden, die ja jetzt sowieso schon unvermeidbar sind? Oder würden Sie auch mal als Grüne infrage stellen, das, was manche Politiker jetzt als Gießkannenprinzip bezeichnen, dass man beispielsweise beim Corona-Elterngeld nicht sagt, das bekommen alle Eltern, die wegen fehlender Kinderbetreuung nicht arbeiten können, sondern nur solche bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze, denen es jetzt besonders schlecht geht finanziell?
Baerbock: Ich würde auch da noch mal trennen wollen, dass das zwei unterschiedliche Fragen sind. Zum einen: Wie wollen wir das finanzieren? Ja – und das hat auch der Bundestag beschlossen – die Schuldenbremse können wir in einer so ausgearteten Notsituation nicht einfach anwenden. Deswegen hat der Bundestag beschlossen, weitere Schulden aufzunehmen. Wir haben ja derzeit auch eine Niedrigzinsphase. Da ist die Europäische Zentralbank ja auch massiv eingesprungen, damit die Investitionen, die jetzt nötig sind, damit wir nicht am Ende ein wirtschaftliches Totaldesaster erleben, damit die Investitionen jetzt auch getätigt werden können. Ich halte für sehr zentral, dass die Tilgung dieser Zinsen, dass die weit gestaffelt wird, damit wir nicht, wenn die Wirtschaft wieder langsam anspringt, am Ende durch massive Ausgabenbeschränkungen gerade dann im sozialen Bereich, im Bereich der Daseinsvorsorge, im Bereich des Gesundheitssystems dann plötzlich anfangen zu sparen. Deswegen muss es einen sehr lang gestaffelten Tilgungsplan für diese Kreditaufnahme in diesem Bereich jetzt geben. Und noch mal zum Corona-Elterngeld, weil Sie da noch mal nachgefragt haben. Also, das ganz dezidiert ist ja kein "noch mal ein bisschen Geld obendrauf". Sondern viele Familien, gerade viele Frauen, weil viele von denen eh in Teilzeit arbeiten, wenn sie kleine Kinder haben, stehen jetzt vor der Frage: Werde ich rausgeschmissen, weil ich meinem Arbeitgeber sagen muss, ich kann das nicht mehr, ich kann in den nächsten drei Monaten nicht einfach Vollzeit von zu Hause arbeiten? Oder Geschäfte machen wieder auf, die Familien haben keine Notbetreuung. Und damit ihnen nicht gekündigt wird, ist unser Vorschlag zu sagen, die können wie bei einer normalen Elternzeit in Elternzeit, in Corona-Elternzeit gehen. Das heißt, sie haben einen Schutz vor Kündigung und kriegen dann ein Elterngeld.
"Beide Elternteile sollten dieses Elterngeld dann nehmen"
Schmidt-Mattern: Frau Baerbock, der Vorschlag ist, glaube ich, angekommen. Die Frage war aber, ob das für alle Eltern gelten soll nach dem Gießkannenprinzip, oder ob Sie das nach Einkommen staffeln würden?
Baerbock: Na, die Eltern würden das beantragen, je nachdem, wie sie es brauchen und dann, wie die jetzige Elterngeldauszahlung ja auch ist, ist es gedeckelt. Derzeit ja auch gedeckelt auf 1.800 Euro. Das heißt, nicht mehr als 60 Prozent des Einkommens. Und damit es nicht Frauen härter betrifft als Männer, ist unser Vorschlag, dass stärker berücksichtigt werden sollte, dass beide Elternteile dieses Elterngeld dann nehmen. Und alle, die das natürlich nicht brauchen, weil sie gar keine Kinder mehr betreuen müssen, weil sie keine kleinen Kinder haben, für die sollte dieses Elterngeld dann auch nicht infrage kommen.
Zukunftsbündnis von Firmen, Gewerkschaften, Umweltverbänden
Schmidt-Mattern: Frau Baerbock, lassen Sie uns auf die Autoindustrie schauen, eine der wichtigsten Branchen, wenn nicht die wichtigste Branche in Deutschland, wenn man allein auf die Zahl der vielen Arbeitsplätze guckt. Die Autoindustrie fordert jetzt eine sogenannte Flatrate-Prämie für Neuwagen, auch für Neuwagen mit klimaschädlichem Verbrennungsmotor. Das ist einer der Vorschläge, um die Autokonzerne durch die Krise im Zuge von Corona zu bringen. Ist dieser Vorschlag nicht nachvollziehbar angesichts der vielen Jobs in der Autoindustrie, dass man sagt, das muss jetzt uneingeschränkt für alle Autos gelten und nicht nur für Elektroautos?
Baerbock: Na, die Automobilindustrie ist ohne Frage ein Schlüsselsektor unserer Industrie mit massiver Bedeutung für die Arbeitsplätze, aber auch viele, viele Zulieferer. Deswegen muss es hier eine gemeinsame Anstrengung geben. Und aus meiner Sicht wäre es sinnvoll, hier ein Zukunftsbündnis zu schaffen zwischen den Unternehmen, Gewerkschaften und Umweltverbänden, die eben diese Stützung dieser wichtigen Industrie gemeinsam auch vor der ökologischen Frage mit berücksichtigen, weil was nicht passieren darf – und danach schreien ja manche, aber nicht alle in der Autoindustrie – einfach die Abwrackprämie von vor ein paar Jahren zu wiederholen, weil sie ökologisch eine fatale Lenkungswirkung hat und im Zweifel auch gar nicht die deutsche Automobilindustrie unterstützt hat. Und daher gibt es ja sehr vielfältige Stimmen auch aus dem Automobilbereich, die sagen, es muss eine ökologische und soziale Komponente mit beinhalten, damit diese Unterstützung dann auch wirklich langfristig nachhaltig getätigt werden kann.
"Gemeinsam die große Krise in den Griff bekommen"
Schmidt-Mattern: Das ist ja eine der Forderungen, die die Grünen von Anfang an seit Beginn des Shutdowns erhoben haben, dass sie sagen, der Wiederaufbau anschließend, auch Konjunkturpakete müssen sich unter anderem am Klimaschutz ausrichten. Eine klassisch grüne Forderung, könnte man sagen. Dennoch ist das grüne Umfragehoch in diesen Wochen vorbei. Es hatte schon vor Ausbruch der Coronakrise nachgelassen. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Baerbock: Ja, wir erleben ja gerade weltweit, dass in so einer Krise, ich meine, die wir alle noch nicht erlebt haben, vor allen Dingen jüngere Generationen, die die Nachkriegszeit nicht erlebt haben, haben ja so was noch nie mitbekommen. Und in einer so heftigen Krise stehen Gesellschaften, wie bei uns, wenn es gut läuft, nah beieinander, treffen gemeinsam Entscheidungen. Und da erleben auch Regierungen – und da muss man sagen, das haben wir am Anfang auch gut hinbekommen, dass eben die Pandemie in Deutschland einigermaßen eingedämmt werden konnte, dass dann Regierungen auch bei Umfragen gestärkt hervorgehen. Und dass die Regierung auch einige Punkte von uns mitaufgegriffen hat, wie zum Beispiel Soloselbstständigkeit, die stärkere Berücksichtigung gerade beim Kurzarbeitergeld, dass das dann bei der Bundesregierung einzahlt, gerade auch bei der Bundeskanzlerin einzahlt, das sieht man weltweit. Aber das nehme ich ehrlich gesagt einigermaßen gelassen hin, denn jetzt geht es darum, dass wir dafür sorgen, gemeinsam diese große Krise in den Griff zu bekommen und vor allen Dingen sozial gerecht und gemeinsam als Gesellschaft hier auch wieder rauszugehen.
Über Lindner : "Töne, absolut neben der Spur"
Schmidt-Mattern: Trotzdem müssen Sie sich ja die Frage gefallen lassen auch in diesen Wochen, ob die Opposition ihre Wächterrolle in diesen Zeiten im Bundestag und gegenüber der Exekutive ausreichend wahrnimmt. Der FDP-Chef, Christian Lindner, der hat diese Woche im Bundestag angekündigt, die Zeit der großen Einmütigkeit sei jetzt vorbei zwischen Regierung und Opposition im Parlament. Das ist ja so eine Art demokratische Kampfansage. Schließen Sie sich dieser Ansage an?
Baerbock: Also, ehrlich gesagt habe ich nicht ganz verstanden, was Christian Lindner da deutlichmachen wollte, denn einerseits hat er aus meiner Sicht irgendwie Töne angeschlagen, die absolut neben der Spur waren, irgendwie zu sagen, wir kämpfen hier mit Methoden des Mittelalters gegen die Coronakrise. Diese Zeit ist ja irgendwie keine Zeit für Scherze. Und es gab auch kein Diskussionsverbot in der Gesellschaft. Und ich verstehe …
"Auf Ältere schauen, wie wir diese schützen können"
Schmidt-Mattern: Es gab immerhin eine Warnung der Kanzlerin vor Diskussionsorgien.
Baerbock: Na, "Öffnungsorgien". Ich meine, also für mich ist Opposition nicht, einfach immer aus Prinzip dagegen zu sein, sondern Opposition bedeutet für mich, dass man eben gerade nicht die Mehrheit hat, um alleine Dinge umzusetzen, aber trotzdem will ich mich doch konstruktiv in Debatten einbringen. Mein Ziel ist, als Politikerin was zu verändern, in einer Krise Vorschläge zu machen, da, wo es nicht so läuft – zum Beispiel bei den Kindern und Familien – wie es besser laufen könnte. Bei den Soloselbstständigen so drauf zu dringen, dass die Soloselbstständigen dann auch in das Hilfspaket mitreinkommen. Das ist mein Verständnis als Opposition, da, wo es hakt, den Finger in die Wunde zu legen und da, wo richtige Entscheidungen getroffen werden meines Gegenübers, dann auch zu unterstützen. Denn einfach nur aus Prinzip dagegen zu sein, wäre Ideologie. Und, ja, manche Dinge laufen aus meiner Sicht nicht in die richtige Richtung und da machen wir Vorschläge, wie es anders gehen kann. Aber vorsichtig zu sein, damit wir unser Gesundheitssystem, unsere Krankenhäuser nicht so überlasten, das halte ich für total richtig. Und ehrlich gesagt hat mich ein Satz der Bundeskanzlerin in der Rede auch wirklich emotional sehr bewegt, als sie noch mal deutlich gemacht hat …
Schmidt-Mattern: Am Donnerstag im Bundestag meinen Sie?
Baerbock: Genau, bei der Debatte, dass die 80-, 90-Jährigen, die jetzt so gefährdet sind, die einsam alleine sterben müssen, dass die dieses Land aufgebaut haben. Und jeder hat da, glaube ich, an seine eigene Mutter, an seine eigene Großmutter gedacht. Und, ja, deswegen müssen wir vor allen Dingen auf die Schwächsten in der Gesellschaft genau schauen, auf Ältere schauen, wie wir diese schützen und unterstützen können.
"Klimaschutz muss eine zentrale Rolle spielen"
Schmidt-Mattern: Ringen Sie jetzt doch wieder mit diesem Image, dass die Grünen immer nur als "Ein-Themen-Partei" wahrgenommen werden, also sprich, kompetent und fit beim Thema Klimaschutz, aber anhaltend schwach bei der Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarkpolitik?
Baerbock: Das ist nicht meine Wahrnehmung. Wir haben ja vor einem halben Jahr – das kommt einem jetzt ja fast schon wie Jahrhunderte vor – einen Parteitag gehabt, wo wir ganz stark über die Frage: Wie stellen wir die Wirtschaft im nächsten Jahrzehnt auf, dass sie nachhaltig orientiert und ausgerichtet sein muss. Und diese Wirtschaftsfrage, die drängt jetzt ja umso mehr, wenn wir jetzt Milliarden – über die wir ja gerade gesprochen haben –, wenn wir Hunderte von Milliarden jetzt investieren, dann werden wir nicht in fünf Jahren noch mal so viel Geld stemmen können. Deswegen ist es jetzt essenziell, dass das in die richtige Richtung geht. Deswegen – ja – muss Klimaschutz dabei eine zentrale Rolle spielen, weil, die Klimakrise geht nicht einfach weg, weil die Coronakrise jetzt da ist. Aber es zeigen sich jetzt ja in der Krise auch wie unter einem Brennglas ganz andere Fragen wirtschaftlicher Natur. Zum Beispiel die alleinige Abhängigkeit von Produktionsmitteln aus Drittstaaten, seien es Schutzmasken, seien es aber auch Medikamente. Dass das nicht der richtige wirtschaftliche Weg ist, macht uns diese Krise nochmal deutlich. Daran sollten wir arbeiten und zum Beispiel diese ganze Frage von Gesundheitswirtschaft nicht nur rein ökonomisch unter der Frage des billigsten Produktes sehen, sondern viel stärker – aus meiner Sicht – als Sicherheitsfrage berücksichtigen und in Zukunft Produktionsstätten – und das betrifft dann nicht nur im Gesundheitsbereich, sondern andere zentrale Fragen von kritischer Infrastruktur auch – viel stärker wieder nach Europa zurück holen.
"Kohleausstieg muss jetzt in Gesetzesform gegossen werden"
Schmidt-Mattern: Müssten Sie nicht noch viel stärker sich andererseits auch für das Thema Klimaschutz im Moment lauter zu Wort melden? Die Fridays-for-Future-Bewegung hat einen Hashtag, einen Slogan, einen Wahlspruch: "Fight every crisis" – also, bekämpft jede Krise und nicht nur die Corona-Pandemie. Und in der Klimaschutzpolitik der Bundesregierung bleibt ja zurzeit Einiges liegen: Der Ausbau der Windkraft, die EEG-Reform, also die Förderung für den Ausbau der erneuerbaren Energien, der CO2-Preis für Heiz- und Kraftstoffe, der nächstes Jahr eingeführt werden soll, der Kohleausstieg, da geht es nicht voran im Bundestag. Wo bleibt da die Stimme der Grünen?
Baerbock: Ja, da sehen Sie an dieser Frage oder Frage zuvor, dass es gerade ein Spagat ist. Sie müssen aktuell und auch wir als Grüne, als politische Kraft, die auch in elf Bundesländern mitregiert, alles dafür tun, dass wir diese ganzen Auswirkungen der Corona-Epidemie in den Griff bekommen und zugleich können wir die Augen nicht davor verschließen, dass wir eine andere massive Klimakrise haben, wo es leider auch in zwei Jahren keinen Impfstoff geben kann. Bei mir hier in Brandenburg, wenn ich mir den Boden anschaue, der ist so trocken wie nach dem heißesten Sommer und dabei haben wir gerade erst April. Das macht deutlich, wie sehr auch die Klimakrise drängt. Und daher müssen jetzt die Investitionen, die getätigt werden, auch im Sinne von Klimaschutz und Nachhaltigkeit mitberücksichtigt werden. Und man kann auch in Zeiten der Klimakrise den EEG-Deckel, den Deckel für den Ausbau für Erneuerbare Energien, gerade im Solarbereich einfach durch eine Gesetzesänderung aufheben. Das kostet gar kein Geld, was sie gerade in vielen anderen Bereichen brauchen, um einen Beitrag zu Klimaschutz zu leisten. Genauso wie – was Sie angesprochen haben –, der Kohleausstieg muss jetzt in Gesetzesform gegossen werden – da ist die Bundesregierung schon eineinhalb Jahre drüber.
Baerbock: Investitionen im Sinne der Nachhaltigkeit nutzen
Schmidt-Mattern: Frau Baerbock, wir kommen in die Schlussrunde mit einer letzten Frage. Zwei Termine stehen jetzt an, akut am morgigen Montag und auch in der zweiten Jahreshälfte. Da ist einmal der Petersberger Klimadialog, bei dem die Kanzlerin am Dienstag das erste Mal wieder öffentlich zum Thema Klima speziell sprechen wird, und da ist die deutsche EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte. Welchen Schwerpunkt muss die Bundesregierung da jetzt legen in der Klimaschutzpolitik?
Baerbock: Das muss ein Teil der Ratspräsidentschaft sein. Und sie könnte mit dem Petersberger Klimadialog, der morgen dann digital erstmalig stattfindet, dafür genau den Grundstein legen. Die Bundesregierung hat selber einen Nachhaltigkeitsrat und zwar für Finanzfragen, da sitzen auch große Industriekonzerne mit drin. Und die haben zum Beispiel vorgeschlagen, dass die Investitionen, die jetzt getätigt werden, entlang von den sechs Umweltkriterien der EU getätigt werden sollen. Und die Unternehmen, die eine staatliche Unterstützung bekommen und einen Plan haben, ihr Unternehmen im Sinne der Pariser Klimaziele umzubauen, dass die bei Krediten dann einen Teil nicht zurückzahlen müssen. Das sind so ganz konkrete Vorschläge, die aus der Wirtschaft zum Teil sogar selber kommen, die deutlich machen, man muss sich nicht entscheiden zwischen Corona-Konjunkturfragen und auf der anderen Seite Klimaschutz, sondern wenn man das geschickt angeht, kann man die Investitionen, die man jetzt braucht, um aus der Coronakrise rauszukommen, auch im Sinne der Nachhaltigkeit, der Klimaziele, aber auch der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen nutzen. Und ich glaube, das wäre das Beste, was uns gemeinsam als Weltgemeinschaft – weil es geht ja hier nicht nur um Deutschland, sondern als Welt insgesamt – passieren könnte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.