Noch sitzt er zwar in Gremiensitzungen und Parteiausschüssen aller Art, aber es liegt Abschiedsstimmung in der Luft. Deshalb hat Cem Özdemir in den Weihnachtsferien seine alten Lieblings-Scheiben aufgelegt und nachgedacht. Zu seinen Favoriten zählt etwa Van Morrisons "Don't look back in anger".
"Im einen oder anderen Interview habe ich gerne Songzitate zum Besten gegeben, um so ein bisschen die Gemütsfassung zum Ausdruck zu bringen. Das kann man ja mit Musik sehr gut machen."
Ein Blick auf die musikalischen Schätzchen des scheidenden Parteichefs sagt mehr als tausend Worte: Nicht an der Vergangenheit kleben, sondern auf zu neuen Ufern. Dass er beim Parteitag Ende Januar nicht noch einmal kandidiert, hat Özdemir schon frühzeitig im letzten Jahr erklärt, damals hoffte er im Stillen freilich noch auf ein Ministeramt in einer neuen Bundesregierung mit grüner Beteiligung. Ob er sich doch nicht so schnell hätte festlegen sollen mit dem Rückzug vom Parteivorsitz? Özdemir blockt solche Fragen ab:
"Ich habe das nicht bereut, im Gegenteil. Ich finde, nach jetzt fast zehn Jahren Gremien ist es auch mal ganz gut, wenn man vielleicht so eine Rolle als Libero hat."
Der "Fast-Außenminister" ohne Hausmacht
Libero, das klingt nur scheinbar cool und lässig. Denn Özdemir macht ansonsten keinen Hehl daraus, dass er gerne neuer Fraktionschef geworden wäre. Seine Umfragewerte sind seit dem Jamaika-Herbst nach oben geschnellt, sein neuer Spitzname lautet: Der "Fast-Außenminister". Er sei der einzige Grüne mit "Rampensau-Qualitäten" schrieb die Welt. Und wenn man lange genug nachbohrt, lässt Özdemir keinen Zweifel, dass er ziemlich verschnupft ist über die Grüne Bundestagsfraktion:
"Ich nehme das zur Kenntnis, wenn die Fraktion nach anderen Kriterien entscheidet als vielleicht der Rest der Mitglieder, oder der Rest unserer Wähler oder die Gesamtgesellschaft. Ich kann es allein nicht ändern. Ich gehe auch nicht in Häme."
Drei Umstände haben Özdemirs Wechsel an die Fraktionsspitze verhindert: erstens der grüne Flügel-Proporz, in den Özdemir als Mann und Realo nicht hineinpasste. Zweitens seine fehlende Hausmacht: Allzu oft hat er die Fraktion übergangen in den letzten Jahren, jetzt übergeht sie ihn. Drittens aber, und das ist entscheidend, wollen die Grünen auf keinen Fall die erst mühsam errungene Geschlossenheit wieder sprengen. Jahrelang galten sie als zerstrittener, flügelschlagender Haufen – und glänzten dann bei den Jamaika-Sondierungen als geeintes Team.
"Deswegen gehen wir da auch gestärkt raus, weil wir auch eine Geschlossenheit und Stärke als Partei gezeigt haben. Ich glaub, das stellt insgesamt uns als Organisation erst mal zufrieden", so schwärmte Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner noch kurz vor Weihnachten.
Altbackene Losungen der neuen alten Fraktionsspitze
Knapp vier Wochen später ist ein Gutteil der Euphorie verflogen. Bestes Indiz: Die Wahl der neuen alten Fraktionsspitze. Trotz fähiger junger Köpfe gab es letzten Freitag nicht eine Gegenkandidatin. Stattdessen wählten die 67 Grünen Parlamentarier recht lustlos zum dritten Mal Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt, mit äußerst mageren Ergebnissen. Göring-Eckardt aber erklärt tapfer:
"Es geht auch darum, dass wir zeigen, wir haben eine Mischung aus Erfahrung und natürlich auch Erneuerung, und das wird sich zeigen, wenn der gesamte Fraktionsvorstand gewählt ist."
Der Überschuss Adrenalin, den die Grünen Jamaika-Sondierer vor Weihnachten noch im Blut hatten, ist abgebaut, und so dämmert ihnen allmählich, dass nun weitere öde Jahre auf der Oppositionsbank drohen könnten. Fraktionschef Anton Hofreiter klingt jetzt wieder genauso hölzern wie eh und je, wenn auch mit neuer, zukunftsweisender Botschaft:
"Wir wollen die führende Kraft der linken Mitte werden, und da gibt's eine ganze Reihe von Dingen, die anzupacken sind."
Das Klima retten, Europa stärken, die Kinderarmut bekämpfen. Was während der Jamaika-Sondierungen frisch, tatendurstig, bisweilen frech klang – wirkt jetzt plötzlich altbacken.
In den Wähler-Milieus der anderen fischen
Katrin Göring-Eckardt hält dagegen, mit einer Kampfansage an gleich alle Fraktionen, die sonst noch im Bundestag sitzen:
"Wir haben eine kleine Große Koalition, keine 80 Prozent Mehrheit mehr. Wir haben die Situation mit der AfD. Aber wir wissen, auch die FDP will nicht, die Linkspartei kann nicht, und die AfD soll nicht, und wir haben viel darüber diskutiert, wie wir ausgreifen auch über das Milieu hinaus, das wir bisher haben."
Typisch Göring-Eckardt. Ihr immer gleichbleibender Tonfall, der manche Augenlider schwer werden lässt, verdeckt gelegentlich interessante Botschaften – etwa die, künftig in den Wähler-Milieus der anderen zu fischen.
In der Parteizentrale brüten sie längst über Strategien, um über das grüne Kernmilieu hinaus zu wachsen. Michael Kellner:
"Diese großen Fragen von sozial-ökologischen Themen haben außer den Grünen keinen Anwalt in dieser Republik. Und dafür werden wir gebraucht, und das werden wir mit Klugheit, mit Gewitztheit, mit Beharrlichkeit weiterverfolgen und da für unsere Inhalte kämpfen."
Der Masterplan, neue Wählerschichten zu erobern, ist auch der Grund, warum der grüne Chefstratege Michael Kellner am Flügel-Proporz festhält. In einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" argumentierte Kellner neulich leidenschaftlich für das Miteinander beider Strömungen – nur so könnten die Grünen inhaltliche Vielfalt liefern. Anders übrigens als die – kleiner Seitenhieb – Ein-Mann-Partei FDP.
Neues Grundsatzprogramm und neue Parteispitze
Auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz wollen die Grünen in einer Woche jetzt die nächsten Pflöcke einrammen: Ein neues Grundsatzprogramm voranbringen und vor allem eine neue Parteispitze wählen, die die Flügel zusammenhält, ohne dogmatisch zu sein. Noch-Parteichef Özdemir wirbt offensiv für Robert Habeck und Annalena Baerbock. Die 37-jährige Bundestagsabgeordnete, die gegen Anja Piel aus Niedersachsen antritt, ist jedenfalls voller Tatendrang – Angst vor der drohenden Opposition hat sie nicht:
"Nein! Wir Grüne haben klar gesagt: Wir wollen gestalten, und diesen Anspruch haben wir nach wie vor. Derzeit führen jetzt andere die Gespräche, deshalb – klar – müssen wir jetzt ein bisschen abwarten. Aber wir werden weiter unsere Themen offensiv nach vorne bringen."