Zum Schluss ist Hemd fast komplett nass geschwitzt. Über eine Stunde hatte Parteichef und Spitzenkandidat Cem Özdemir für das grüne Wahlprogramm geworben, nein gekämpft.
"An uns Grünen soll ab September kein Weg mehr vorbei führen. Das wollen gestalten Wir wollen Deutschland ins nächste Jahrzehnt führen."
Mit einer leidenschaftlichen Rede versuchte der Parteichef, die ganzen schlechten Nachrichten der vergangenen Monate zu vertreiben: Die anhaltend schlechten Umfragewerte, wie festgemauert steht die Partei bei sieben bis acht Prozent, die Kritik am Spitzenduo. Das soll – dreieinhalb Monate vor der Wahl – keine Rolle mehr spielen.
"Deshalb kämpfen wir ab Sonntag um Platz 3. Denn da entscheidet sich, welchen Weg dieses Land einschlagen wird. Welches Gesicht es hat."
Signal der Geschlossenheit soll vom Parteitag ausgehen
Gelingen soll das mit einem Programm, das grüne Kernthemen in den Mittelpunkt stellt: die Ehe für Alle, Europa, Klimaschutz:
"Das Eis in der Arktis interessiert es nicht, ob es wegen amerikanischer Blödheit schmilzt oder wegen deutscher Trägheit."
Gelingen soll der Wahlerfolg aber auch mit einem Signal der Geschlossenheit, das vom Parteitag in Berlin ausgehen soll. Die Partei will zusammenstehen, sie will Erfolg, diesen Leitspruch hatte die Parteispitze vorab ausgegeben.
Die Delegierten sind nach Özdemirs Rede noch am Abwägen:
"Dieses momentan, die Grünen braucht eh keiner, dass das jetzt ein bisschen aufgeweicht wird und dass es ein bisschen nach vorne geht."
"Der Herr Özdemir kann ja gut reden, aber ich bin kein Fan von ihm, aber das ist noch ein anderes Problem. Ich finde das im Moment noch zu zaghaft. Finde unser Programm noch etwas zu handzahm."
Jamaika-Koalition als pragmatische Lösung
Ein Thema, nicht offiziell auf der Tagesordnung, aber mit hohem Gesprächswert: die neue schwarz-gelb-grüne Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein.
Die Kieler Spitzenkandidatin Monika Heinold freut sich. Und sagt doch:
"Wir machen es nicht als Modell für den Bund. Sondern machen es, weil es eine pragmatische Lösung ist, die Neuwahlen verhindert."
Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der öfter als medialer Einzelkämpfer auftritt, schwenkt nun auch auf den Wahlkampf-Modus ein, wenn auch nicht enthusiastisch:
"Wir haben mit Katrin und Cem zwei erfahrene und seriöse Spitzenkandidaten."
Begeistern konnten dagegen die grünen Urgesteine Claudia Roth und Hans-Christian Ströbele. Der scheidende Bundestagsabgeordnete mahnte seine Partei, ihre Wurzeln als Friedenspartei nicht zu vergessen.
Noch bleiben leise Zweifel
Doch ganz können die Grünen die Vorwahl-Nervosität nicht abstreifen. Das Unbehagen, das einige Grüne gegenüber den Spitzenkandidaten haben – sie gelten als zu wenig frisch, zu wenig charismatisch – brachte Canan Bayram auf den Punkt. Sie ist die Nachfolgerin von Hans-Christian Ströbele als Direkt-Kandidatin in Berlin-Friedrichshain und Kreuzberg. In einem Gespräch habe ihr eine ältere Dame gesagt, dass sie immer Grüne gewählt habe, "die halt die Frage stellte, warum braucht es jetzt eigentlich die Grünen? Sie sagte, sie ist langjährige Grünenwählerin, aber wenn sie sich unsere Spitzenkandidaten im Moment anschaut, dann erinnert sie das weniger an Grüne als an Ortsvereinsvorsitzende der CDU."
Die neue Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, Ska Keller, brachte die oft kritisierte Beliebigkeit – bei Themen, bei Koalitionsfragen - auf den Punkt und fragte:
"Wer wählt schon eine Partei, die es immer allen recht machen will?"
Fazit nach dem ersten Tag: Die leidenschaftlichen Reden taten der Parteiseele gut, konnten aber noch nicht alle Zweifel ausräumen. Am zweiten Tag des Grünen-Treffens geht es thematisch um Klimaschutz und Asylpolitik. Am Sonntag soll das Wahlprogramm stehen. Ein paar frische Hemden nach leidenschaftlichen Reden werden im Berliner Velodrom also sicherlich noch gebraucht.