Donald Trumps Erfolg zeige deutlich, dass demokratische Errungenschaften immer wieder verteidigt werden müssten. "Wir wollen doch nicht ernsthaft zurück in die 50er-Jahre", sagte Grünen-Chef Cem Özdemir im Deutschlandfunk.
Es gebe in vielen Ländern die Angst vor Kontrollverlust. Das habe sich etwa auch beim Brexit gezeigt. "Und es kann noch weitere Unfälle geben", sagte Özdemir. Sollte Marine Le Pen, die Vorsitzende des rechtsextremen Front National in Frankreich, die Präsidentenwahl gewinnen, "dann wäre es zu Ende mit der Europäischen Union". Deshalb gehe es ganz entscheidend um die Frage, "wie schaffen wir es, die Leute, die wir zu verlieren drohen in der Demokratie, wieder einzubinden".
Dabei gehe es etwa um Alleinerziehende, von denen 40 Prozent auf Sozialhilfe angewiesen sind, Langzeitarbeitslosde und Erwerbsgeminderte, die das Gefühl hätten, abgehängt zu sein, sagte Özdemir.
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Die Grünen beginnen heute ihren Parteitag in Münster in Nordrhein-Westfalen. Und wenn sich die Delegierten da treffen, dann wirft natürlich vor allem die Bundestagswahl in gut einem Jahr ihre Schatten voraus. Die Partei muss sich auf vielen Feldern positionieren, streit könnte es dabei vor allem bei der grünen Steuerpolitik geben.
Und mitgehört hat Cem Özdemir, der Parteivorsitzende der Grünen. Schönen guten Morgen, Herr Özdemir!
Cem Özdemir: Guten Morgen, Herr Armbrüster!
Armbrüster: Herr Özdemir, über die Steuern und andere Streitfelder können wir gleich noch sprechen. Zunächst mal, Sie haben Ihren Parteitag ja sehr geschickt gelegt, drei Tage nach der US-Wahl. Was können die Grünen denn von Donald Trump lernen?
Özdemir: Nicht unbedingt, wie man Politik macht, da haben wir so ziemlich das Gegenmodell dazu. Wir stehen für eine offene Gesellschaft, wir stehen nicht für eine Gesellschaft mit Ressentiments. Aber gewählt ist gewählt, die Sonne ist auch heute wieder aufgegangen und von daher ist klar, wir werden damit leben müssen. Wir merken, dass es in vielen Ländern Angst vor Kontrollverlust gibt, und die Unfälle werden mehr. Brexit, jetzt die Trump-Wahl und auch in Europa gibt es ja noch einige Möglichkeiten, wo noch was schiefgehen kann, denken Sie an die französische Präsidentschaftswahl, Marine Le Pen an der Macht und es wäre zu Ende mit der Europäischen Union. Insofern ist klar, wir müssen uns darum kümmern, wie schaffen wir es, dass wir die Leute, die wir zu verlieren drohen in der Demokratie, dass wir die wieder einbinden.
"Die Grünen sollen die Lobby all derer sein, die keine Lobby haben"
Armbrüster: Wie schaffen Sie das denn, haben Sie die auf dem Schirm als Grüne?
Özdemir: Also, gegen die Spitze der AfD, da, glaube ich, können wir wenig Angebote machen. Denn noch mal, das ist das Gegenangebot zu dem, wofür wir stehen. Aber ich glaube, bei einem Teil der Anhänger gibt es auch Leute, die müssen da nicht zwingend sein, denken Sie an Alleinerziehende vielleicht, von denen 40 Prozent auf Sozialhilfe angewiesen sind, denken Sie an Erwerbsgeminderte, denken Sie an Langzeitarbeitslose.
Es gibt viele Menschen in der Gesellschaft, die das Gefühl haben, abgehängt zu sein, dass sich keiner um sie kümmert, und es passt ja auch zu der Debatte auf diesem Parteitag, in Sachen Gerechtigkeit. Wir wollen Gerechtigkeit nicht nur für die definieren, die am besten organisiert sind wie bei der Großen Koalition, wie mit dem Rentenkompromiss, wer 45 Jahre eingezahlt hat, bekommt dann nachher die Rente mit 63, das sind vor allem Männer, aber diejenigen, die leer ausgehen, Frauen oder wie gesagt Erwerbsgeminderte, die ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet haben, die haben bei dieser Koalition keine Lobby. Und die Grünen sollen die Lobby all derer sein, die keine Lobby haben.
Armbrüster: Das sind ja nun aber nicht unbedingt Ihre Kernwähler. Viele Kommentatoren sagen jetzt sogar, die ganze liberale Politik zum Beispiel von Präsident Obama, die habe Trump überhaupt erst möglich gemacht, dieses Eintreten für Schwule und Lesben, für ethnische Minderheiten, die Sozialpolitik und immer dieses ganze Moralisch-Oberlehrerhafte. Das wird da immer genannt, das sind ja eigentlich alles Attribute, die gerne auch Ihrer Partei, den Grünen angehängt werden.
Özdemir: Das teile ich nicht, sondern was ich teile, ist natürlich, dass man dafür sorgen muss, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt da ist, dass alle mitgenommen werden. Aber im Kern geht es doch darum, dass Bill Clinton mal gesagt hat, "it's the economy, stupid". Da ist zwar immer noch was dran, aber es ist jetzt was dazugekommen, it's the hate, stupid. Das heißt, der Hass auf Minderheiten, der Hass auf alle anderen, der Hass auf Zuwanderer, auf ein verändertes Frauenbild, dass Schwule und Lesben sich nicht mehr verstecken wollen.
Wir wollen doch nicht ernsthaft zurück in die 50er-Jahre! Und dafür muss man werben, dafür muss man aktiv sich einsetzen. Und wir merken, das ist jedenfalls kein Selbstläufer. Zu glauben, wenn man einmal was erreicht hat, dann ist das so, ist ein großer Irrtum. Man muss demokratische Errungenschaften jedes Mal, in jeder Generation neu wieder begründen, neu erkämpfen.
"Wir haben unsere Lehre gelernt"
Armbrüster: Dann lassen Sie uns, Herr Özdemir, über eins der großen Streitthemen sprechen bei diesem Parteitag: Werden Sie Steuererhöhungen und Steuern noch einmal zu einem grünen Wahlkampfschlager machen?
Özdemir: Nein, ganz sicher nicht und da gibt es ja auch Einigkeit bei der Partei. Also, bei allen Antragstellern, wenn Sie jetzt auf die Vermögenssteuer ansprechen, gibt es ja Einigkeit, dass wir das nicht wollen. Wir wollen ... Die Vermögensabgabe gibt es nicht mehr, wir wollen bei der Einkommensteuer nicht mehr ran. Also, wir haben ja unsere Lehre gelernt und auch beim Ehegattensplitting hoffe ich, dass der Parteitag beschließt, dass wir für neue Ehen dieses ändern, aber nicht für Ehen, die bereits geschlossen sind.
"Weniger Streit um Instrumente, mehr Verständigung über die Ziele"
Armbrüster: Na ja, gut, aber es gibt ja zumindest ... Ich will da bei der Vermögensteuer noch mal bleiben, da gibt es ja einige Stimmen, die die doch haben wollen, und auch ein gewichtiger Anteil Ihrer Delegierten.
Özdemir: Das ist richtig, wir sind uns ja auch einig darin, dass die besonders Vermögenden auch einen Anteil zahlen sollen an der Finanzierung des Gemeinwesens, das ist ja auch richtig, auch da gibt es Einigkeit. Über die Instrumente sind wir nicht ganz einig. Manche sagen, das ist besser getan bei einer Vermögensteuer, andere sagen, es ist besser bei einer Erbschaftsteuer, manche sagen, wir sollten uns gar nicht festlegen auf Instrumente, das wäre meine Position, sondern schauen, was wir am besten umsetzen können, schließlich werden wir ja vermutlich nicht ganz alleine regieren. Also weniger Streit um Instrumente, mehr Verständigung über die Ziele wäre meine Position. Aber in jedem Fall hat das nichts zu tun mit dem, was wir 2013 beschlossen hatten, wir werden keinen Steuerwahlkampf machen, sondern uns konzentrieren auf die eigentlichen Gerechtigkeitsbotschaften. Also, dass Konzerne wie Apple, Amazon sich entziehen ihrer Pflicht, steuerehrlich zu sein, dass hier viele, viele Skandale ... Denken Sie an Panama Papers, denken Sie an Cum-Ex. Um die Dinge wollen wir uns kümmern, zugleich aber auch dafür sorgen, dass die 40 Prozent unserer Gesellschaft, die gar kein Vermögen haben, die abgehängt sind, dass die nicht weiter außerhalb des Blickfeldes sind. Das hat auch mit dem Thema von vorhin zu tun.
Armbrüster: Und wenn es damit zu tun hat, warum dann nicht eine Steuer für Vermögende einführen?
Özdemir: Ja eben, das wollen wir ja. Das Problem ist, dass das Verfassungsgerichtsurteil gesagt hat, dass man unterschiedliche Vermögen nicht unterschiedlich besteuern darf. Und da sind wir mitten im Problem.
Ich will nicht, dass wir mit einer Vermögensteuer neben denen, die wir treffen müssen, möglicherweise auch diejenigen treffen, die wir als Partner im Mittelstand brauchen für die ökologische Modernisierung. Wir haben ja Großes vor, das wird ein disruptiver Wandel unserer Wirtschaft. Denken Sie an die Elektromobilität, denken Sie an den Wandel bei der Landwirtschaft, in der Energiepolitik. Das alles wird ja nicht ganz zum Nulltarif zu machen sein für viele Unternehmen des Mittelstandes. Die haben ihr Kapital im Unternehmen und da müssen wir einen Weg finden, dass es Investitionen nicht behindert. Aber auch das haben glaube ich alle auf dem Schirm.
Armbrüster: Und jetzt haben Sie noch darüber hinaus für diesen Parteitag, für den Sonntag auch noch Daimler-Chef Dieter Zetsche als Redner eingeladen. Eine größere Demütigung ist für die Linken in Ihrer Partei wahrscheinlich nicht vorstellbar, oder?
Özdemir: Nein, das sehe ich nicht so, sondern das ist doch ein Kompliment für uns, dass Herr Zetsche der Meinung ist, er muss zu den Grünen kommen, wenn er über die Zukunft der deutschen Automobilindustrie diskutieren möchte, und das, obwohl wir da ziemlich toughe Ansagen machen, ja diejenigen sind, die am klarsten sind bei dem Thema.
"Wir sind die Partei, die sich zum Automobilproduktionsstandort Deutschland bekennt"
Armbrüster: Aber sind die Grünen jetzt eine Autopartei?
Özdemir: Es wäre jetzt genauso absurd, das zu sagen. Also, jetzt müssen Sie sich auch mal entscheiden, was wir sein sollen. Das sind wir natürlich nicht, sondern wir sind die Partei, die sich zum Automobilproduktionsstandort Deutschland bekennen und sich Sorgen darüber machen, was künftig passiert.
Ich will nicht, dass Stuttgart-Zuffenhausen das Detroit von Deutschland wird, oder Wolfsburg oder Ingolstadt, sondern ich will, dass dort künftig Autos gebaut werden, aber das müssen angesichts der Probleme unseres Planeten künftig Null-Emissionsautos sein. Herr Dobrindt beschäftigt sich mit der Maut, wir beschäftigen uns mit der Zukunft der Automobilindustrie, das ist der Unterschied.
"Wir wollen einen Bundespräsidenten oder eine Bundespräsidentin, die die Gesellschaft verbindet"
Armbrüster: Und jetzt müssen wir auch noch über die Bundespräsidentenfrage sprechen. Da gibt es von Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg jetzt Äußerungen, dass er zumindest hart darüber nachdenken würde, wenn er gefragt werden würde. Hätte er denn Ihre Unterstützung?
Özdemir: Selbstverständlich hätte er unsere Unterstützung, da wären wir sehr stolz drauf, das ist ja auch eine große Auszeichnung, dass Winfried Kretschmann genannt wird als möglicher Bundespräsident. Aber wir wissen natürlich auch, dass wir nicht die Mehrheit der Delegierten stellen in der Bundesversammlung, sondern nach CDU/CSU und nach SPD die Drittstärksten sind. Das heißt, es kommt jetzt auch auf die anderen Fraktionen an, was sie wollen. Die Koalition hat sich bislang nicht zu einer Position durchringen können, wir sind schnell aktionsfähig, schnell handlungsfähig.
Wir wollen einen Bundespräsidenten oder eine Bundespräsidentin, die die Gesellschaft verbindet, vereint, zusammenbringt, und jetzt schauen wir mal, was die Koalition in ihrer Weisheit beschließt.
Armbrüster: Können wir denn heute Morgen melden, Sie schlagen Winfried Kretschmann vor?
Özdemir: Sie können melden, wenn jemand vorgeschlagen wird, den wir für zustimmungsfähig halten, dann werden wir da nicht nach parteitaktischen Motiven entscheiden, sondern so, wie wir glauben, dass es gut fürs Land ist.
Armbrüster: Cem Özdemir war das, der Bundesvorsitzende der Grünen, heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk. Vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen, Herr Özdemir!
Özdemir: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.