Während der Studentenproteste der 1960er-Jahre in Berlin hatte Grünen-Politiker und Jurist Hans-Christian Ströbele stets eine Doppelfunktion: Aktivist und Rechtsvertreter. Als Anwalt der RAF habe er keine Fehler gemacht, sagte Ströbele in der Sendung "Zeitzeugen im Gespräch". Ulrike Winkelmann sprach mit Ströbele im Dlf im Jahr 2020. Seine Verurteilung hielt er bis an sein Lebensende für nicht gerecht.
Sendungsdatum der "Zeitzeugen im Gespräch" mit Ströbele war der 30.01.2020
Hans-Christian Ströbele im Porträt
Ein Kind aus behüteten Verhältnissen, geboren knapp vor Kriegsbeginn 1939 in Halle an der Saale. Die Familie übersteht den Zweiten Weltkrieg nahezu unbeschadet - der Vater ist in der kriegswichtigen Chemieindustrie und deshalb nicht in der Wehrmacht.
Hans-Christian Ströbele wächst im nordrhein-westfälischen Marl auf, geht zum Jura-Studium nach Heidelberg und dann nach West-Berlin. Hier wird er zum Anwalt der APO, der Außerparlamentarischen Opposition: Überzeugt, dass das deutsche Rechtssystem noch vom Nationalsozialismus durchwirkt ist, gründet er mit Gesinnungsgenossen das Sozialistische Anwaltskollektiv, das die Prozesse der Studentenbewegung, der APO und dann auch der Rote Armee Fraktion (RAF) führt. Vom Stammheim-Prozess gegen die erste Riege der RAF wird der Anwalt Ströbele allerdings ausgeschlossen – wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung - der RAF nämlich.
Ende der 1970er-Jahre ist Ströbele Mitgründer der Tageszeitung "taz". Auch die "Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz" in Berlin baut er mit auf, die später in die Grünen-Partei übergeht. Für diese zieht Ströbele 1985 erstmals in den Bundestag ein.
Zurzeit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung ist Ströbele Bundessprecher - also einer der Vorsitzenden - der Grünen, die er mit dem ostdeutschen Bündnis 90 vereinigt. 1991 muss er das Amt jedoch wieder abgeben.
1998, zum Antritt der rot-grünen Koalition, wird Ströbele wieder Bundestagsabgeordneter - und zum linken Exponenten der Teile der Partei, die sich gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr, aber auch etwa gegen die rot-grüne Steuer- und Sozialpolitik sträuben. Er gilt als Quertreiber, er wird isoliert. Ohne Listenplatz der Partei gelingt ihm jedoch 2002 der Wiedereinzug in den Bundestag als Direktkandidat des Berliner Wahlkreises Kreuzberg-Friedrichshain: ein Triumph, den er noch dreimal wiederholt.
2017 scheidet Ströbele, der unbeirrte Mahner seiner Partei, aus dem Bundestag aus.
Nachruf auf Ströbele von Claudia von Lack
Ein Kind aus behüteten Verhältnissen, geboren knapp vor Kriegsbeginn 1939 in Halle an der Saale. Die Familie übersteht den Zweiten Weltkrieg nahezu unbeschadet - der Vater ist in der kriegswichtigen Chemieindustrie und deshalb nicht in der Wehrmacht.
Hans-Christian Ströbele wächst im nordrhein-westfälischen Marl auf, geht zum Jura-Studium nach Heidelberg und dann nach West-Berlin. Hier wird er zum Anwalt der APO, der Außerparlamentarischen Opposition: Überzeugt, dass das deutsche Rechtssystem noch vom Nationalsozialismus durchwirkt ist, gründet er mit Gesinnungsgenossen das Sozialistische Anwaltskollektiv, das die Prozesse der Studentenbewegung, der APO und dann auch der Rote Armee Fraktion (RAF) führt. Vom Stammheim-Prozess gegen die erste Riege der RAF wird der Anwalt Ströbele allerdings ausgeschlossen – wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung - der RAF nämlich.
Ende der 1970er-Jahre ist Ströbele Mitgründer der Tageszeitung "taz". Auch die "Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz" in Berlin baut er mit auf, die später in die Grünen-Partei übergeht. Für diese zieht Ströbele 1985 erstmals in den Bundestag ein.
Zurzeit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung ist Ströbele Bundessprecher - also einer der Vorsitzenden - der Grünen, die er mit dem ostdeutschen Bündnis 90 vereinigt. 1991 muss er das Amt jedoch wieder abgeben.
1998, zum Antritt der rot-grünen Koalition, wird Ströbele wieder Bundestagsabgeordneter - und zum linken Exponenten der Teile der Partei, die sich gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr, aber auch etwa gegen die rot-grüne Steuer- und Sozialpolitik sträuben. Er gilt als Quertreiber, er wird isoliert. Ohne Listenplatz der Partei gelingt ihm jedoch 2002 der Wiedereinzug in den Bundestag als Direktkandidat des Berliner Wahlkreises Kreuzberg-Friedrichshain: ein Triumph, den er noch dreimal wiederholt.
2017 scheidet Ströbele, der unbeirrte Mahner seiner Partei, aus dem Bundestag aus.
Nachruf auf Ströbele von Claudia von Lack
Eine Nachkriegsjugend in der Werkssiedlung
Ulrike Winkelmann: Herr Ströbele, ich möchte mit Ihrer Kindheit beginnen. Sie sind in Halle an der Saale geboren, aber Ihre Familie zog bald nach dem Zweiten Weltkrieg nach Marl in Nordrhein-Westfalen, und hier wie dort war Ihr Vater in der Chemieindustrie bei den Buna-Werken zur Herstellung von Gummi beschäftigt, und zwar in leitender Position. Sind Sie in dem Bewusstsein aufgewachsen, privilegiert zu sein?
Ströbele: Ja, in der frühen Kindheit kannte man das nicht anders, da war das halt so, dachte man, alle Leute leben so. Aber objektiv gesehen war das so, wobei bei uns in der Siedlung, in der Werkssiedlung in Marl, da wohnten auch Meister und also alle möglichen anderen. Das waren nicht nur die, die nachher dann Werksleiter oder sowas wurden. Also mein Vater hat dann nach dem Krieg Karriere gemacht in der Chemiebranche. Es war nicht immer Buna. In Marl-Hüls hat er dann andere Sachen, der hat dann Kunststoffe hergestellt, also heute noch viele der Kunststoffe, die Sie haben und die uns heute ärgern, hat er als große Errungenschaft produziert. Und ein ganz bisschen auch mit Hilfe seines Sohns, den er nämlich in den Semesterferien nachher im Studium auch in solche – völlig unverantwortlich, wie man heute weiß – Kessel reingeschickt hat, wo dieser Kunststoff gebraut worden ist. Das war sowas von ungesund und krebserzeugend, dass man das eigentlich heute gar nicht erzählen darf, wenn man mit so Leuten redet, aber damals wusste man das nicht, und da habe ich solche Arbeiten gemacht, um mir Geld zu verdienen.
"Meine Mutter hat mich wie eine Löwin verteidigt"
Winkelmann: Sie sollen eine sehr unerschrockene Mutter gehabt haben. Erzählen Sie mal von ihr.
Ströbele: Über die kann ich nur Gutes sagen. Nein, sie hat uns und vor allen Dingen auch mich wie eine Löwin überall verteidigt. So habe ich das ja immer erlebt, und so haben das auch andere gesagt, also zum Beispiel meine Lehrer. Wenn die in der Schule auftauchte, weil ihr Sohn wieder ungerecht behandelt wurde, wie sie meinte - oder wie ich meinte und dann auch sie -, dann rauchten da die Öfen. Also dann war das äußerst heiß, weil sie hat immer mir Recht gegeben, und das ist als Schüler natürlich auch angenehm.
Winkelmann: Nur am Rande: Ihre Mutter hatte anthroposophische Vorstellungen offenbar. Wie schauen Sie auf den aktuellen Grünen-Konflikt zur Anthroposophie und zur Homöopathie?
Ströbele: Ich habe das immer nicht ernstgenommen, also auch diese Kügelchen, die wir natürlich als Kinder dauernd geschluckt haben, und Aufbausalz und alle möglichen Sachen, Pülverchen. Aber das hat mir auch einmal geholfen. Also ich war mal bei einem Homöopathen in Essen, der hat mir von der typischen Ruhrgebiet-Krankheit geholfen, nämlich, dass ich immer die Nasen völlig vereitert hatte, die Schleimhäute, wegen der damaligen Luft dort. Da flogen ja überall diese Rußpartikelchen durch die Gegend, die die Kinder krankgemacht haben.
Also in dieser Diskussion bei den Grünen kann ich nur sagen, ich glaube an diese Kügelchen auch nicht, trotzdem habe ich sie manchmal genommen, auch heute, wenn jetzt bei meinen zahlreichen Krankheiten, die ich jetzt habe, mir versprochen wird, das hilft, dann nehme ich die eine Zeit. Wenn es dann nicht geholfen hat, lasse ich es. Die haben ja einen Vorteil vor aller anderen chemisch hergestellten Medizin: Die haben keinerlei schädliche Nebenwirkungen. Und ich kann Ihnen sagen, die Litanei, die ich Ihnen halten kann, da sitzen wir Stunden hier, über die Nebenwirkungen der normalen hergebrachten Medizin! Das ist mir nie bei einer homöopathischen Behandlung auch nur ansatzweise geschehen. Man muss da nicht dran glauben. Manche, die dran glauben, denen hilft es auch mal, aus welchen Gründen ist mir jetzt auch egal, Hauptsache es hilft, und es richtet keinerlei Schaden an.
Erinnerung an seinen Onkel Herbert Zimmermann
Winkelmann: Okay, vertiefen wir das an der Stelle nicht weiter. Kehren wir jetzt zurück zu Ihrer Jugend. Der Bruder Ihrer Mutter, Ihr Onkel, war Herbert Zimmermann, der Sportreporter, und spätestens mit dem Endspiel der Fußballweltmeisterschaft '54 in Bern berühmt geworden. Sie sollen ihn sehr bewundert haben. Wollten Sie so reden können wie er?
Ströbele: Na ich wollte alles sein wie er. Er hatte ungeheures Glück bei den Frauen. Er war nicht verheiratet, hatte Freundinnen und war ein Lebemann, konnte gut reden, war hoch angesehen, und wenn er bei uns in Marl auftauchte – der wohnte ja in Hamburg, hatte selber keine eigene Familie –, dann war ungeheuer was los. Er hat dann mit uns Wettkämpfe, Spiele und so gemacht, ist mit uns in den Schwarzwald gefahren, also mit den vier Kindern, und hat uns dann alle neue Namen gegeben, wie: ich hieß Nabuchodonosor, nach der Bibelgestalt, und mein Bruder ist Nebukadnezar. Wenn "der Onkel kommt" durchs Haus schallte, dann war Rabatz angesagt.
"Einer der Fehler meines Lebens"
Winkelmann: Ihr Vater war bei der NSDAP. Und ich habe in Ihrer Biografie gelesen, dass Ihre Mutter am Ende des Krieges die Hakenkreuzfahne, die es gegeben haben muss, dann in Kleidungsstücke umgenäht haben soll. War das bei Ihnen zu Hause Thema, als Sie erwachsen wurden?
Ströbele: Nein, überhaupt nicht leider. Also ganz, ganz wenig. Mit dem Vater habe ich da nie drüber gesprochen. Mit meiner Mutter haben wir, also die Kinder, später – aber das war schon, als wir aus dem Haus waren – mal darüber gesprochen, so vielleicht kurz vor dem Abitur auch schon, aber das wurde immer, das Thema … sehr schnell war das zu Ende. Also ich bedauere das heute - das ist einer meiner Fehler meines Lebens -, dass ich da nicht irgendwann mich hingesetzt habe und gesagt habe, Vater, jetzt will ich das mal alles wissen.
Winkelmann: Wann haben Sie das zum ersten Mal gedacht? Also wann ist Ihnen aufgegangen, dass Sie vielleicht früher hätten fragen müssen?
Ströbele: Das war überhaupt erst im Studium. Also ich bin zu einem heftigen Bekämpfer dieser Ideologie geworden durch ein Theaterstück, was ich in Heidelberg im Studium aus Gründen, die ich heute nicht mehr weiß, da bin ich ganz alleine, einsam irgendwann ins Theater gegangen. Da habe ich "Andorra" gesehen von Max Frisch, und da fielen mir die Schuppen von den Augen. Aber es war sehr, sehr spät. In der Schule war das nicht so.
Winkelmann: Sie waren als einer der ersten Geburtsjahrgänge bei der Bundeswehr und haben dort offenbar eins besonders gut gekonnt: schießen - ausgerechnet, möchte man sagen.
Ströbele: Ja, mit Kanonen.
"Besser geschossen als computergesteuerte Feuerleitgeräte"
Winkelmann: Wie kam das? Wie haben Sie es herausgefunden, dass Sie so gut schießen konnten, und welcher Art ist das Talent?
Ströbele: Ich habe das auch sehr gerne gemacht. Also ich war einfacher Soldat. Wir wurden damals als erster Jahrgang als Abiturient sehr umworben. Wir sollten eine Offizierslaufbahn machen. Das haben die aus meiner Klasse, die mit mir da waren, alle abgelehnt, und wir waren froh, dass wir diese Bundeswehrzeit so irgendwie durchstehen konnten. Aber wir sind auch zum Schießen gegangen, und ich habe besser geschossen als die computergesteuerten Feuerleitgeräte. Ich hatte da ein Auge. Da habe ich einen Preis bekommen, als Preis ein Rundflug im Hubschrauber über die Lüneburger Heide. Das war zum ersten Mal, dass ich die Erde verlassen habe.
Winkelmann: Haben Sie eine Art wohlwollende Erinnerung an die Bundeswehr?
Ströbele: Nein. Das war am Anfang fürchterlich. Ich habe auch gelitten unter diesem Schleifen durch alte Wehrmachtsleute. Also unser Unteroffizier, Feldwebel, das war ein alter Wehrmachts… Die hatten auch den Ton drauf. Wir mussten auch die Lieder singen wie bei der Wehrmacht. Ich habe dann sehr bald einen Weg gefunden, mich dem zu entziehen, nämlich durch eine unbekannte Krankheit an einem Knie. Dann wurde ich, weil ich die anderen Soldaten bei mir im Bataillon beraten habe – das waren meistens Leute, die nicht mit so einer hohen Schulausbildung –, und ich habe mir die Wehrgesetze in den Spind gestellt zum Missfallen meiner Vorgesetzten und habe dann immer gesagt, da musst du das machen, und da musst du das machen. Ich habe auch für die die Liebesbriefe geschrieben nachher. Das hat mir hohes Ansehen eingebracht. Deshalb wurde ich dann zum Vertrauensmann des Bataillons gewählt und hatte damit so eine etwas unabhängige Stellung so das letzte halbe, knappe halbe Jahr. Ich konnte dann immer wichtige Aufgaben benennen, warum ich jetzt gerade an dem Marsch nicht teilnehmen kann.
Liebesbriefe für die Kameraden
Winkelmann: Ich muss noch mal einhaken, Sie haben die Liebesbriefe Ihrer Kameraden geschrieben?
Ströbele: Einige, ja. Manche waren ja sogar verheiratet und hatten dann Probleme, wenn sie jetzt … Die Freundinnen oder die Ehefrauen erwarteten möglichst jede Woche oder alle 14 Tage einen Brief, und denen fiel absolut nix mehr ein. Dann haben sie gesagt, du hast doch sowas gelernt, und dann habe ich mir das erzählen lassen, und dann habe ich Briefe geschrieben. Die kamen sehr gut an.
Winkelmann: Haben Sie dieses Talent noch weiter pflegen können, die letzten 50 Jahre?
Ströbele: Nein!
Winkelmann: Es gibt ja von kaum einem anderen Politiker ein ähnliches Bild wie von Ihnen als das des asketischen, vom protestantischen Arbeitseifer getriebenen Politikers, milchtrinkend, fahrradfahrend und so weiter. Umso überraschter war ich zu hören, dass Sie und auch Ihre Freunde offenbar mit allergrößter Begeisterung als junge Männer das gemacht haben, was man Unsinn treiben nennt, also inklusive Autos von Vätern kaputtfahren und so weiter und so fort. Wann haben Sie denn diese Form von Hedonismus abgelegt und sind zu dem geworden, als das Sie jetzt bekannt sind?
Ströbele: Das ist sehr, sehr spät gewesen. Also ich habe mit 17 angefangen, Auto zu fahren, obwohl ich das ja gar nicht durfte. Mein Vater hatte ein Auto, so einen Opel Rekord, und den habe ich dann erst nur in die Waschgarasche gefahren von zu Hause und dann auch mal zum Tanztee und so, und dabei ist es zu Schäden gekommen. Das stimmt, ja. Also mit Freunden war ich da immer unterwegs, und wir haben viel Unsinn angestellt, das stimmt. Ich möchte das nicht alles erzählen, weil da könnte sich noch heute ein Gericht drum kümmern. Aber das ist alles verjährt.
Winkelmann: Ach, das wissen Sie selbst am besten, dass das alles verjährt ist.
Ströbele: Und dann kam der 2. Juni 1967.
Die Villa am Wannsee und die CIA
Winkelmann: Nach zwei Semestern in Heidelberg waren Sie dann Anfang der 1960er-Jahre nach Berlin umgezogen. Und zu dem Zeitpunkt galten Sie als politisch interessiert, aber eher als Beobachter.
Ströbele: Genau, ich habe bei der Bundeswehr auch noch politischen Unterricht gegeben. Samstags gab es immer politischen Unterricht, und das musste einer machen. Die Offiziere wollten oder konnten das nicht, und die anderen konnten es auch nicht, und ich war "Welt"-Leser, also die Zeitung "Die Welt", die gab es da immer bei der Bundeswehr. Die habe ich möglichst häufig gelesen, wenn irgendwie Zeit war. Dann habe ich da so eine Stunde politischen Unterricht gegeben, nach dem, was ich da in der Zeitung gelesen hatte. Also ich habe mich jetzt nicht politisch eingeordnet, aber ich war immer so politisch interessiert. Ich habe auch immer Nachrichten gehört. Das hat mein Vater auch gemacht. Also das habe ich wahrscheinlich von ihm übernommen.
Aber ich habe dann, als ich hier nach Berlin kam, im Studium schon sehr früh … Da wurde ja gerade die Mauer gebaut, ich bin '61 nach Berlin gekommen, wenige Wochen nach Bau, also dem Anfang der Bau der Mauer, und da war natürlich in Berlin gerade in der Freien Universität, wo ich studiert habe, viel los mit Fragen wie, wie kann man die Mauer überwinden, wie kann man Verlobten helfen zu ihrer Verlobten, wie kann man Familien zusammenführen. Wir konnten als Leute mit Westpass damals nach Ostberlin, und wir sind dann rübergeschickt worden mit kleinen Briefchen und so. Einen habe ich dann auch mal gegessen, als wir durchsucht werden mussten, also wo wir dann zu irgendwelchen Adressen hin sind, um irgendwelche Nachrichten dahinzubringen.
Ich war dann nachher an diesen Fluchthilfegeschichten, durch die Tunnel, diese ganzen kommerziellen Geschichten, überhaupt nicht beteiligt. Ich habe das abgelehnt. Ich habe gesagt, da verdient man kein Geld mit, mit sowas. Aber was ich dann nachher rausbekommen habe, dass ich Aufträge ausgeführt habe. Die bekam ich in einer Villa am Wannsee – das erzähle ich Ihnen jetzt, glaube ich, zum ersten Mal –, wo es nachher hieß, da war eigentlich eine Station der CIA drin, in der nachkriegs-westberliner Zeit. Das heißt, offenbar hatten die da auch irgendwas mit zu tun, jedenfalls gingen wir dahin und kriegten da irgendwie so einen Auftrag und sind dann rübergefahren, haben irgendwelche Leute getroffen, da geklingelt bei denen, gesagt, hier, wir sollen Ihnen das geben.
Winkelmann: Das heißt, man darf heute sagen, Sie waren ein Agent der CIA?
Ströbele: Nein! Dass da auch Sachen dabei waren, wo möglicherweise die CIA mit zu tun hatte, weiß ich nicht.
Winkelmann: Auch noch ein besonderes Kapitel.
Ströbele: Ich habe da niemanden gesehen, auch keinen Englischsprechenden oder so. Das waren alles Deutsche. Aber ich habe das später gehört.
"Normaler Student, der sich nachts in Kneipen rumtrieb"
Winkelmann: Können Sie den Prozess beschreiben, der dann einsetzte in den 60er-Jahren, der Sie zu einem linken, sehr linken Anwalt gemacht hat?
Ströbele: Ja, ich war erst ein normaler Student, der sich nachts in Kneipen, in Bars – so als es das in West-Berlin gab, und da gab es einige – rumgetrieben hat und auch manchmal Alkohol oder viel Alkohol getrunken hat, und irgendwann nach, glaube ich, anderthalb Jahren oder zwei Jahren hatte ich die Schnauze voll und habe das nicht mehr gemacht, also von einem Tag auf den anderen – also natürlich immer mit Freunden, mit Kumpels und so.
Dann habe ich mich sehr interessiert für die dann anfangenden Aktionen auf der Straße von Studenten, aber ich habe da nicht mitgemacht, sondern immer geguckt. Und das ging dann bis in meine Referendarzeit. Ich habe in Berlin Examen gemacht und zwar nach der Mindestzahl der Semester, also so schnell wie es ging, habe den Referendar gemacht, und danach kommt ja die Referendarzeit, und da war ich auch überwiegend in Berlin. Und in dieser Zeit, ungefähr am Ende, habe ich bei Anwälten gearbeitet, und dann kam der 2. Juni 1967. Und ich war also so ein bisschen informiert, warum die da auf der Straße waren, und das war der SDS, der am meisten diese Demonstrationen organisierte, und ich wusste deshalb auch, dass am 2. Juni der Schah nach Berlin kommt, dass es da Studentendemonstrationen geben wird, dann auch, dass sie später zur Oper fuhren.
Und ich bin da jeweils hingegangen, kam da ein bisschen zu spät bei beiden Veranstaltungen, da kamen mir schon die Leute, die von der Polizei flohen, entgegen und erzählten, was da los ist, dass sie irgendwie zusammengeschlagen werden, ‚geh bloß nicht weiter‘ und so.
Ja, und da wurde dann in der Nacht schon verbreitet, ganz schlimm, da soll ein Student einen Polizisten erstochen haben, und jetzt ist die Polizei natürlich besonders rabiat und radikal. Im Laufe der Nacht erfuhr ich dann, dass es umgekehrt war, dass ein Polizist in Zivil einen Studenten durch Kopfschuss aus nächster Nähe erschossen hat, mitten in der Menge, den Benno Ohnesorg. Das war natürlich da ungeheures Thema, und man ging nicht mehr ins Bett, sondern redete nur darüber, was ist jetzt, Verschärfung der Situation.
"Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit"
Und am nächsten Tag haben sowohl die Zeitungen als auch der liberale Pastor Albertz, der damals regierender Bürgermeister war, der Innensenator, alle Medien behauptet: Das alles war das Werk der Chaoten. Und das hat mich schon ungeheuer geärgert. Und dann gab es, das erinnere ich auch noch wie heute, weil ich es schon häufig erzählt habe, gab es in der "BZ", dieser Massenzeitung "BZ", ein Foto auf der ersten oder zweiten Seite, wo eine Frau mit blutendem Kopf stand und sich die Hand an den Kopf hielt, und auch darunter stand: "Ein Stein der Chaoten hat sie getroffen." Und da stellte sich dann heraus, die meldete sich dann, die Frau und sagte, nein, nein, Polizeiknüppel war das.
Und das hat mich so empört, mein Gerechtigkeitsempfinden mobilisiert, dass ich gesagt habe, jetzt bin ich bei denen. Jetzt unterstütze ich die, diese Studenten – ich war weder marxistisch gebildet noch sonst irgendwas –, da mache ich jetzt mit, und bin dann am nächsten oder übernächsten Tag, da waren noch zwei andere von uns, zu Anwalt Mahler gegangen, dem APO-Anwalt, der immer die Studenten vertreten hat, und habe gesagt: Herr Rechtsanwalt, ich helfe Ihnen umsonst.
Und dann gab es weitere Erlebnisse, also ich habe dann auch begriffen, es geht auch um die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. Und das wurde mir dann besonders verdeutlicht, als der Vorsitzende Richter am Landgericht, der damals uns Referendare in Strafsachen unterrichtete, der hieß Dr. Oske, der war Vorsitzender einer Strafkammer, in der der einzige Richter vom Volksgerichthof, der jemals vor Gericht gestellt wurde, (Hans-Joachim) Rehse hieß der, sich zu verantworten hatte. Und dieses deutsche Gericht in Berlin hat diesen Herrn Rehse – obwohl ihm nachgewiesen wurde durch Dokumente und er hat das auch gar nicht bestritten, dass er an wahrscheinlich mindestens mehreren Dutzend Todesurteilen direkt beteiligt war und wahrscheinlich an vielen anderen, an über 100 –, und der wurde freigesprochen, mit der Begründung: Was damals Recht war, kann jetzt nicht Unrecht sein. Und der lebte dann weiter, der hat da auch in einem Buch drüber geschrieben und war ein angesehener Rechtsanwalt nachher noch.
"Das war mein Einstieg in die Politik"
So, und das hat uns Referendare – es gab da noch mehrere Referendare, die sich da auch engagierten, das war `68, also ein Dreivierteljahr oder so was, nachdem ich da hingegangen war –, das hat uns so dermaßen empört, dass wir uns das schriftliche Urteil beschafft haben und das kommentiert haben auf den Rückseiten der Seiten jeweils. Und das haben wir per Hand dann abgezogen zu so Flugblättern, das wurde dann zusammengeheftet, das war dann so ein Packen Papier, ich habe da heute noch einen von, und das haben wir dann verteilt an der Uni und an andere Interessierte: ‚Guck mal, hier, das ist die Justiz.‘
Und so geschah dann immer weitere Radikalisierung. Ja, das war dann mein Einstieg in die Politik. Und in dieser APO-Zeit habe ich nachher an fast jeder Demonstration teilgenommen, ich bin in die FU gefahren, obwohl ich da nicht mehr studierte, als dann das Rektorat besetzt wurde und solche Geschichten, ein Professor aus dem Fenster gehievt wurde und so was, als da also auch schwer was los war. Ich war da immer in der Doppelfunktion. Einmal war ich ein engagierter Beteiligter - mich interessierte das, ich habe mich auch engagiert -, aber ich war auch der Rechtsvertreter, der unter Umständen nachher die Leute vor Gericht vertreten musste oder beraten musste oder so. Und das ist bis heute geblieben.
Ströbele: Aus Sicht von heute wäre die Geschichte anders gelaufen wahrscheinlich, wenn wir damals ein Bundesverfassungsgericht oder Obergerichte gehabt hätten, die so urteilen und so unabhängige Urteile machen wie heute.
Winkelmann: Das war eine Doppelrolle als Anwalt und Aktivist, die Ihnen als Anwalt der RAF aber auch geschadet hat. Da haben Sie möglicherweise Fehler gemacht, oder?
Ströbele: Als Anwalt der RAF? Nein, warum?
Winkelmann: Immerhin wurden Sie später verurteilt.
Ströbele: Ja, das finde ich heute noch - zu Unrecht.
"Und dann sind die in den Hungerstreik getreten"
Winkelmann: Sie haben eine Art Informationsnetzwerk für die RAF-Gefangenen aufgebaut, aufgezogen, das Ihnen als Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung ausgelegt wurde, und dafür wurden Sie verurteilt.
Ströbele: Ja, aber es war ungerecht. Also ich habe in der Tat Mandate übernommen nach den ersten Festnahmen von Leuten aus der RAF. Dabei war ja auch der Anwalt Horst Mahler, mit dem ich im sozialistischen Anwaltskollektiv war, was wir Anfang `69 gegründet haben, nachdem ich als Rechtsanwalt zugelassen war. Der wurde verhaftet und andere wurden verhaftet, die kamen ins Gefängnis, und die ließen sich dann von den Anwälten, die sie kannten, also unter anderem auch Ströbele und Eschen und anderen, die da arbeiteten, verteidigen, das waren `72 auch Baader und Meinhof und Ensslin und so, und wir haben von all denen Mandate übernommen. Und nachdem die ersten länger saßen, die saßen ja in Untersuchungshaft, stellten wir fest, dass sie zum Teil unter Haftverhältnissen untergebracht waren, die zu erheblichen Gesundheitsschäden führten bei denen, weil die in Isolation gehalten worden sind. Das waren auch nicht alle, gerade hier in Berlin war es fast keiner, der Mahler zum Beispiel nicht, sondern die waren im normalen Vollzug, aber eben in Köln-Ossendorf, in Schwalmstadt, in Hessen und in anderen Orten.
Und dann sind die in den Hungerstreik getreten, nachdem sie merkten, dass sie da krank gemacht wurden im Gefängnis, und haben festgestellt: Unser Wille soll hier gebrochen werden, und dagegen müssen wir uns zur Wehr setzen. Deshalb haben sie Hungerstreik angefangen und haben verlangt, dass sie normal mit den anderen zusammen untergebracht werden, also normal wie andere Gefangene behandelt werden. Das wurde alles abgelehnt, und dann habe ich mit der Bundesanwaltschaft verhandelt und und, hin und her.
Und da hatte ich irgendwann die Idee, man müsste doch einen Zusammenhang schaffen zwischen denen, so einen Diskussionszusammenhang, und beispielsweise auch Leuten an der Universität, mit denen sie dann ihre Theorien, die sie da entwickelten oder entwickelt hatten, jetzt messen konnten mit Leuten vom Fach, also Professoren, die dazu auch bereit gewesen wären. So, und da habe ich einen Brief geschrieben, wo ich diese Infozentrale… ich habe gesagt, ich habe da ein Projekt, und da könnt ihr korrespondieren mit Leuten außerhalb und so. Und das wurde dann auch organisiert, es wurde dann eine Infozentrale eingerichtet bei einem Anwalt, der nicht ich war, wo dann Papiere, die dann als Verteidigerpost in die Gefängnisse geschickt wurden…
Und das haben wir gemacht, einmal, um die Leute zu beschäftigen, zweitens, um ihnen das zu lesen zu geben, was sie wollten, und damit auch ein Diskussionszusammenhang entsteht. Obwohl diese Anwaltspost, die da geschickt worden war, zum Teil durch die richterliche Kontrolle gegangen war, so wurde das auch festgestellt, hat später, ich will das jetzt mal abkürzen, ein Gericht, auch nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen Anwälten, - Croissant, Groenewold -, gerichtet, das sei eine Unterstützung der in der Haftanstalt existierenden RAF gewesen, weil die hätten immer noch einen Zusammenhang als kriminelle Vereinigung gehabt und das hätte ich damit unterstützt.
Erstens bin ich nie auf die Idee gekommen, dass man die Gefangenen als eine kriminelle Vereinigung ansehen konnte, das war auch völlig neu, aber das war dann die Rechtskonstruktion, und zweitens habe ich diese Herstellung der Kommunikation jetzt untereinander und mit den Anwälten nicht als gesetzeswidrig oder kriminell angesehen.
"Ich bin nicht gerecht verurteilt"
Winkelmann: Das heißt, Sie erkennen das Urteil, was damals gegen Sie erging mit der Bewährungsstrafe, bis heute auch nicht an?
Ströbele: Ja, ich musste zur Kenntnis nehmen - es war ja erst sogar höher und dann bin ich zum Bundesgerichtshof gegangen, dann fand ein neues Gerichtsverfahren statt, da wurde ich zu zehn Monaten auf Bewährung verurteilt, und die Strafe ist längst erlassen inzwischen. Ich habe immer gesagt: Ich finde das nicht gerecht. Ich bin nicht gerecht verurteilt.
Winkelmann: In einem Streitgespräch, das Sie auch für den Deutschlandfunk mit geführt haben, haben Sie gesagt: "Ich habe mir vorgenommen, aufzuschreiben, wie es damals wirklich gewesen ist, ich bin heute noch der Meinung, dass sich der Rechtsstaat BRD nicht bewährt hat", also in Bezug auf die Zeit der Prozesse gegen die Rote-Armee-Fraktion. Erstens: Schreiben Sie an dem Buch schon, was Sie damals angekündigt haben? Und zum Zweiten: Können Sie in ein, zwei, drei Punkten sagen, was im Kern Ihrer Ansicht nach dazu geführt hat, dass sich der Rechtsstaat nicht bewährt habe?
Ströbele: Ja. Leute aus der RAF sind verurteilt worden für Straftaten, die sie nicht begangen haben, von denen ich auch weiß, dass sie sie nicht begangen haben, weil mir auch gesagt worden ist, wer sie begangen hat. Das waren Unrechtsurteile, wenn man so will, objektiv. Ob die Gerichte das wissen, weiß ich nicht. Die Haftverhältnisse der Leute im Gefängnis waren rechtsstaatswidrig, ganz eindeutig. Wir haben das auch immer verglichen mit solchen Schicksalen von Langzeitisolation etwa in britischen Gefängnissen für Leute aus der IRA oder Leute in russischen Gefängnissen, also in autoritären Staaten, und haben deshalb dagegen gekämpft und sind auch die Instanzenleiter hochgegangen bis zum Bundesverfassungsgericht. Und die Gerichte haben sich mit unseren Argumenten nicht mal auseinandergesetzt. Also wir kriegten dann immer Beschlüsse zurück, nach 30-seitigen Schriftsätzen kriegten wir dann irgendwie eine Viertelseite "offensichtlich unbegründet" oder so was. Dabei war das alles wirklich belegt, wie die krank machten, die Haftverhältnisse, und so weiter. Und deshalb sage ich heute, etwas überspitzt manchmal: Aus der Sicht von heute wäre die Geschichte anders gelaufen – wahrscheinlich -, wenn wir damals ein Bundesverfassungsgericht oder Obergerichte gehabt hätten, die so urteilen und so unabhängige Urteile machen wie heute.
Winkelmann: Schreiben Sie das Buch noch?
Ströbele: Ich komme die letzten zwei Jahre nicht dazu, weil ich so viel Ärger mit meiner Gesundheit habe. Aber ich bin fest dazu entschlossen, wenn es irgendwann meine Gesundheit zulässt, damit anzufangen und das zu machen. Ich habe auch mehrere Verlage, bei denen ich da Angebote eingeholt habe, aber leider warten die schon lange darauf.
Mitbegründer der "taz"
Winkelmann: Sie waren dann in den späten Siebzigern, frühen Achtzigern faktisch bei allem dabei, was sich linksalternativ nannte.
Ströbele: Genau.
Winkelmann: Sie haben die "taz" mitgegründet, dort bei den Konferenzen offenbar belegte Brötchen mitgebracht und, wie ich las, sogar den Konferenzraum aufgeräumt. Stimmt das wirklich?
Ströbele: Ja, nicht immer, also ich war jetzt nicht die Putzfrau da, aber manchmal, wenn mich das ärgerte und so. Da hatte man kein Geld für irgendwelche auswärtigen Kräfte. Die, die da arbeiteten, hatten genug zu tun. Und dann habe ich, weil ich hier beziehungsweise in einer anderen Straße in Moabit mein Anwaltsbüro hatte, manchmal gesagt, ich bringe euch mal ein Frühstück. Und dann habe ich bei einem besonderen Bäcker so große Brötchen, die es woanders nicht gab, ganz knusprige, lecker, gekauft und Marmelade und Butter und Käse und so und habe denen das da hingebracht, und die fanden das toll.
Die Grünen und der Kosovokrieg
Winkelmann: Ich weiß, dass die "taz" Ihnen bis heute dankbar ist. Und wir werden nicht genug Zeit haben, auf die Grünen-Geschichte im Einzelnen einzugehen, aber ich habe zu einem bestimmten Punkt noch eine Frage. Und zwar waren Sie dann ja aus dem Bundestag raus und kamen wieder rein zur rot-grünen Regierungsbeteiligung. Und es war damals schon quasi klar, dass die rot-grüne Bundesregierung `98, `99 den Kosovokrieg führen würde, das ergab sich schon vor der Wahl, vor dem Wahlsieg. Haben Sie Ihre erklärte und seitdem ja auch durchgehaltene Gegnerschaft zu den Bundeswehreinsätzen im Ausland eigentlich damals strategisch geplant?
Ströbele: Die grüne Partei hat einen Parteitag abgehalten, ich glaube, es war Hannover oder so, aber das weiß ich nicht genau, wenige Wochen vor der Wahl 1998. Auf diesem Parteitag wurde die Frage diskutiert der Auslandseinsätze, weil im Balkan war da Krieg, und die Frage einer Beteiligung der Bundeswehr am Einsatz in diesen Kriegen stand auf der Tagesordnung. Und da hat die grüne Partei mit ganz knapper Mehrheit gegen den Willen von Joschka Fischer beschlossen für die Bundestagswahl: kein Einsatz der Bundeswehr in Kampfeinsätzen außerhalb Deutschlands. Ich war der Vertreter der Parteilinie und nicht Joschka Fischer.
Und dann war die Wahl, war dann relativ klar, es gab eine rot-grüne Mehrheit. Dann fuhren die beiden, Fischer und Schröder, in die USA zu Clinton, glaube ich, stellten sich da vor und kamen dann wieder und sagten noch, na ja, da wird gewünscht, dass wir teilnehmen. Wenige Tage später hieß es dann, doch, der amerikanische Präsident besteht darauf, Deutsche sollen da sich beteiligen.
Und da hat der Deutsche Bundestag mit den alten Fraktionen, den Abgeordneten, die noch im Amt waren, weil der neue Bundestag noch nicht konstitutiert war, das war also ein paar Wochen, hat dann beschlossen die eventuelle Beteiligung an einem Kosovokrieg.
Ich habe natürlich heftig dagegen polemisiert, die Grünen intern auch, ist klar. Ich war ja nicht der Einzige bei den Grünen, auch nicht in der Bundestagsfraktion der Einzige, sondern da waren viele, die es natürlich entweder selber für falsch hielten oder sich mindestens an den Parteitagsbeschluss gebunden fühlen. Und trotzdem wurde dann ja verhandelt und ein halbes Jahr später, im April oder so was, war dann der Einsatz im Kosovo, und dann bombardierten deutsche Soldaten mit, Belgrad, und das fand ich eine Schande für Deutschland.
Und das wurde dann praktiziert, ohne dass im Bundestag darüber beschlossen wurde. Und da habe ich dann diese ganzen Usancen im Bundestag durchbrochen, bin nach vorne gegangen, obwohl ich gar kein Rederecht hatte, habe mich nicht davon abhalten lassen, und habe mich ans Podium gestellt und gesagt: So, jetzt reden wir erst mal über den Krieg.
Die Grünen und der Afghanistankrieg
Winkelmann: Beim Afghanistankrieg war es so, dass Gerhard Schröder, nachdem er den USA seine "uneingeschränkte Solidarität" nach den Anschlägen vom 11. September zugesagt hatte, erkannte, dass die Grünen gegebenenfalls nicht mitstimmen würden bei einem Einsatz in Afghanistan. Und dann gab es eine Grünen-Gruppe, die zuletzt auf acht Leute zusammengeschrumpft war, die sagte, wir würden mit "nein" stimmen. Was bedeutete, dass Schröder sich gezwungen sah, so hat er es dargestellt, die Afghanistanfrage mit der Vertrauensfrage zu verbinden, und wer also gegen den Krieg stimmte, stimmte damit auch gegen die rot-grüne Regierung, führte sozusagen dann auch zum Koalitionsbruch. Und dann haben Sie in dieser Gruppe der acht vier Leute ausgemacht, die trotzdem mit "ja" stimmen würden, damit Schröder sozusagen seine Regierungstruppen hinter sich hatte in der Koalition. Wie liefen diese Verhandlungen? Was haben Sie gesagt? Haben Sie gesagt, wenn du mit "ja" stimmst, kann ich mit "nein" stimmen? Mein Gewissen ist schwerer und wichtiger als deins?
Ströbele: Also über diese wirklich harten Wochen, die an die Gesundheit gingen – ein Kollege, Abgeordneter ist krank geworden danach, schwer krank geworden –, … Und es war in der Tat so: Am Anfang waren über 20 Abgeordnete entschlossen, dagegen zu stimmen, und es wurden dann immer weniger, übrig blieben dann acht, und die wurden wirklich Tag und Nacht bearbeitet, sie müssten zustimmen.
Und wir haben uns dann immer wieder getroffen, also die, die das nicht wollten, die nicht zustimmen wollten: Was machen wir da in der Situation? Wir wollen ja eigentlich nicht die Koalition sprengen, sondern das kann allein ein grüner Parteitag beschließen, schon gar nicht wir und so, aber wir wollen auch keinen Krieg. Wir wollen nicht, dass deutsche Soldaten da in den Krieg ziehen.
Dann liefen die Diskussionen so, dass wir zuletzt dann eben acht waren, und dann immer wieder von neuem diskutierten: Wer kann sich vorstellen, da doch zähneknirschend zuzustimmen? Schließlich blieben vier übrig, es hätten übrigens auch fünf sein können, die mit "nein" gestimmt haben. Hier ist es weder, wie das in einem Buch steht, von Ludger Volmer, glaube ich, weder mit Streichhölzern ausgelost worden, noch irgendjemand irgendwie unter Druck gesetzt oder was versprochen worden oder irgend so was.
Ich habe übrigens als Jurist diese Koppelung, dass man mit einem Votum nur "ja" sagen konnte zum Krieg und damit auch zur Koalition, oder, wenn man "nein" zum Krieg sagte, auch praktisch ein Nein sagte zu der Koalition - das halte ich für verfassungswidrig, heute noch. Ich habe damals nur deshalb nichts unternommen, weil mir viele davon dringend abgeraten haben, weil das auch für die Koalition, die ja eh ohnehin in großen Problemen war, schwierig gewesen wäre.
Nun sind die Deutschen 18 Jahre in dem Afghanistankrieg, der Krieg ist seit 10 oder 12 Jahren eindeutig verloren. Das Ende wird schrecklich sein, ich war mehrfach in Afghanistan, ich weiß das. Und wenn ich heute zurückdenke, bin ich 100 Prozent sicher: Wenn damals einer gesagt hätte, das dauert 18 Jahre, dann hätte das im Bundestag keine Mehrheit gefunden, auch nicht bei den anderen Parteien.
"Der Preis, den man für politisches Engagement zahlt"
Winkelmann: Sie wurden von Ihrer Partei bestraft und nicht mehr aufgestellt zur Wahl 2002, für Ihre Gegnerschaft zum Afghanistan-Einsatz, und haben dann aber einen am Ende erfolgreichen Wahlkampf um den Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg hier in Berlin geführt. Ihr Motto war: "Ströbele wählen heißt Fischer quälen", sprich: den Außenminister Joschka Fischer. Ist es denn nicht in der Politik so und speziell in Ihrem Fall, dass es einen Ströbele nur geben kann, weil es einen Fischer gab?
Ströbele: Auf einem meiner zahlreichen Plakate hat ein Demonstrant, den der Künstler Seyfried da draufgeschrieben hat, ein T-Shirt getragen, auf dem dieser Spruch stand. Aber es wurde jetzt nicht der Wahlkampf geführt und überhaupt nicht, sondern das war so eine Bemerkung. Wir fanden das irgendwie lustig und nett. Ich habe das Joschka Fischer dann auch gezeigt, er hat etwas säuerlich geschmunzelt. Aber das ist jetzt nicht das große Wahlkampfmotto gewesen, nein.
Ich habe einen neuen, anderen Wahlkampf gemacht, ich habe dafür auch einen Preis bekommen als "Mobilisierer des Jahres". Es war sehr schwierig, und alle haben auch immer im Wahlkampf gesagt, der Ströbele macht das ja ganz toll, aber er hat keine Chance. Diese Meinung war mein Hauptgegner im Wahlkampf. Es hat dann knapp gereicht, und da bin ich auch stolz drauf. Das war ein sehr glücklicher Augenblick. Als das Wahlergebnis bekanntgegeben wurde, war ich krank, lag hier auf dem Sofa, weil drei Tage vorher ein Nazi, muss man sagen, der hatte ein Himmler-Bild in seinem Zimmer, mich im Wahlkampf morgens zusammengeschlagen hat, also hat mir einen Schlag in den Nacken …
Winkelmann: Sie haben das glücklicherweise überstanden, aber was denken Sie, wenn Sie jetzt von den Übergriffen und teilweise auch Attentaten auf Politiker hören, im Wahlkampf oder eben auch jenseits von Wahlkämpfen?
Ströbele: Ja, das ist schrecklich, der Preis, den man für das politische Engagement zahlt. Das ist wahrscheinlich nicht zu verhindern, eine dauernde Begleitung und Schutz für alle Leute, die sich politisch aus dem Fenster hängen oder so, ist nicht möglich, sondern das wird immer punktuell und so sein. Auch hier, wo wir jetzt hier sitzen, wurden Steine ins Fenster geworfen, die Haustür mit Steinen eingeworfen. Auch den habe ich draußen gesehen und bin ihm hinterhergelaufen, habe ihn aber nicht gekriegt – als ich noch laufen konnte. Also solche Sachen habe ich leider auch erlebt, erleben jetzt andere, ist fürchterlich. Und ich habe dann, ich weiß ja nicht, wie das bei den anderen ist, einen gewissen Fatalismus irgendwie entwickelt und habe vor allen Dingen jedes Mal so eine Wut auf diese Leute gehabt, dass ich mich selber dann zusätzlich in erhebliche Gefahr gebracht habe. Also wenn dieser Kerl, der mich geschlagen hat, wenn der auch nur stehen geblieben wäre und gesagt hätte, so, Brüderchen, komm mal her, der hätte mich hochgehoben und irgendwie in die Spree geworfen. Ich bin ja nun kein Kämpfer, und der war, wie gesagt, viel, viel stärker. Aber das zeigt nur, dass ich so eine Wut hatte, dass ich alles andere da vergessen habe: Den muss ich jetzt kriegen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.