Philipp May: Ist dieses Bündnis überhaupt noch ein Bündnis? Das fragen sich immer mehr Beobachter und Experten beim Blick auf die NATO. Ohne Frage: Das westliche Militärbündnis ist in der Krise. Die gegenseitigen Brüskierungen nehmen zu – man denke nur an Trumps Truppenabzug aus Syrien und die folgende türkische Offensive dort. Dazu die Äußerung Macrons, die NATO sei hirntot, und jetzt will die Bundesregierung, will Außenminister Heiko Maas aktiv werden.
China, eine der großen Herausforderungen der Zukunft für die NATO. Und genau dort in China erreichen wir jetzt auch unseren Gesprächspartner am Telefon: Der Außenpolitik-Experte der Grünen, Jürgen Trittin. Schönen guten Tag nach Shenzhen, Herr Trittin.
Jürgen Trittin: Guten Morgen, Herr May.
May: Sie kommen gerade aus der Konzernzentrale des umstrittenen Telekommunikationsriesen Huawei in Shenzhen. Schmieden Sie da schon neue Allianzen?
Trittin: Nein! Ich informiere mich darüber, wie ein de jure unabhängiges und privates Unternehmen mit den Herausforderungen umgeht eines sich zuspitzenden Streits zwischen den USA und China um die ökonomische Dominanz in dieser Welt, und insofern ist man erst mal dabei, sich zu informieren.
May: Sie sagen, de jure unabhängig. Und de facto?
Trittin: Das Unternehmen ist in 170 Ländern der Welt tätig. Dass es ein bloßer Weisungsempfänger der chinesischen Regierung ist, wird man ihm nicht nachsagen können, aber es ist auf der anderen Seite an chinesische Gesetze gebunden und insofern genauso wenig oder noch stärker, als möglicherweise US-Unternehmen von der US-Regierung abhängig sind, ist es natürlich auch für ein chinesisches Unternehmen. Das Unternehmen selbst empfindet mittlerweile, glaube ich, den Standort selber als Belastung für die Unternehmensziele.
"Es wird eine absolute Sicherheit in keinem Fall geben"
May: Jetzt ist die USA aber unser engster Verbündeter oder einer unserer engsten Verbündeten, ein wichtiger Verbündeter innerhalb der NATO. Und genau die Geheimdienste der USA, aber auch zahlreicher anderer NATO-Partner, auch deutsche Außenpolitiker in der SPD und in der CDU, sie alle warnen ganz konkret davor, Huawei am 5G-Netzausbau in Deutschland zu beteiligen, und stehen im Prinzip gegen die eigene Bundesregierung. Haben die recht?
Trittin: Erstens ist Huawei daran schon beteiligt in den Modellprojekten. In den Projekten, die bisher auf den Weg gebracht wurden, ist auch Huawei mit drin. Zum zweiten haben zwei Anhörungen, die der Auswärtige Ausschuss unter dem Vorsitz von Norbert Röttgen durchgeführt hat, eigentlich ein Ergebnis gehabt: Es wird eine absolute Sicherheit in keinem Fall geben.
Zweitens: Unsere Sicherheit ist von verschiedenen Seiten bedroht, weil Europa es sträflich versäumt hat, für die eigene Resilienz zu sorgen. Und wenn es dann um Sicherheitsmaximierung geht, um Risikominimierung geht, dann ist es klüger, mit unterschiedlichen Ausrüstern im Netz zu arbeiten, statt von einem einzigen oder nur wenigen abhängig zu sein. Das gilt für die Ausstatter in den Funkzellen.
Das gilt im Übrigen aber auch für die Ausrüster beispielsweise der Netze selber mit Routern und Ähnlichem. In diesen sind ja zum großen Teil Software und Hardware verbaut, wo die Frage, ob es eine Backdoor gibt und ob darüber spioniert wird, keine theoretische mehr ist, sondern eine faktische. Alle US-Unternehmen unterliegen zum Beispiel dem Patriot Act.
May: Wenn Sie verschiedene Seiten meinen, dann meinen Sie auch ganz konkret unseren NATO-Partner, die USA?
Trittin: Ja! Es ist ja eine unbestrittene Tatsache. Das Verhältnis zu den USA hat sich ja insgesamt seit Amtsantritt der Trump-Administration nicht unbedingt verbessert. Sie haben eben gesagt, es sei unser engster Bündnispartner. Das hoffe ich auch immer noch. Aber unser engster Bündnispartner ist mittlerweile so weit, dass er die in Deutschland hergestellten Fahrzeuge BMW, Mercedes und Volkswagen zur Bedrohung für die eigene nationale Sicherheit erklärt, und gleichzeitig der Präsident öffentlich erklärt, Europa sei schlimmer als die Chinesen.
Ich glaube, wir sind konfrontiert mit einer tiefen Zerrüttung im transatlantischen Verhältnis, und da wird auch kein Arbeitskreis etwas helfen, sondern da muss man, glaube ich, über die realen Interessenkonflikte im Bündnis reden.
May: Sie sprechen mit dem Arbeitskreis die Vorschläge von Heiko Maas an. Das heißt mit anderen Worten: Die Konsequenz daraus ist, die USA sind kein verlässlicher Partner mehr und die NATO ist tatsächlich hirntot, so wie Macron es gesagt hat?
Trittin: Ich würde das nicht so ausdrücken wie Macron. Ich würde sagen, die NATO ist in einer schweren Krise. Was soll man von einem Bündnis halten, wo beispielsweise ein Bündnispartner aus einem Militäreinsatz abzieht und Spezialkräfte ... [Leitung unterbrochen; Anmerkung der Online-Redaktion]
"Die NATO ist geprägt von tiefen Interessensgegensätzen"
May: Jürgen Trittin, wir haben nicht mehr viel Zeit, aber wir haben Sie wieder in der Leitung und ersparen uns jetzt alle Huawei-Witze. Wir waren stehen geblieben bei dem Verhältnis der NATO beziehungsweise bei dem Zustand der NATO.
Trittin: Die NATO ist geprägt von tiefen Interessensgegensätzen, und für bestimmte Fälle haben wir heute den Zustand erreicht, dass NATO-Mitglieder sich untereinander militärisch bedrohen und angreifen. Ich glaube, das muss man thematisieren und das muss geändert werden, und dann wird man sich zudem darüber unterhalten müssen, welche Sicherheitsinteressen Europas werden eigentlich von anderen NATO-Partnern bedroht. Zum Beispiel haben wir ein massives Interesse daran, dass es nicht zu einem nuklearen Wettrüsten im Nahen Osten kommt. Die Kündigung des Iran-Abkommens durch die USA wird aber genau dies möglicherweise zur Folge haben. Auch hier stellen wir fest: Wir haben eine Situation, wo elementare Sicherheitsinteressen Europas durch das Handeln eines NATO-Partners massiv in Frage gestellt werden.
"Wir brauchen ein höheres Maß an Resilienz"
May: Das heißt: Welche Konsequenzen sollte dann Deutschland, sollte Europa daraus ziehen, Ihrer Meinung nach?
Trittin: Ich bin in der Hinsicht dann wieder bei Emmanuel Macron. Wir brauchen ein höheres Maß an Resilienz. Wir müssen zum Beispiel in der Lage sein, so etwas wie das Iran-Abkommen zu retten, trotz der Sanktionen der USA. Das hat Europa, allen Versprechungen zum Trotz, bis heute nicht hinbekommen. Und wir werden uns beispielsweise in den Nachbarschaftskonflikten, die wir haben, zum Beispiel dem Zerfall und der Zerstörung Libyens und der daraus resultierenden Gefährdung für Europa, nicht auf die USA verlassen können. Das sind Konflikte, die wir selber lösen müssen, zum Beispiel, indem wir diesen dauerhaften Interessenkonflikt zwischen Italien und Frankreich, die jeweils unterschiedliche Kriegsparteien in Libyen unterstützen, tatsächlich in den Griff bekommen. Da wird uns die NATO überhaupt nicht helfen. Die NATO ist gut für symmetrische Abschreckung gegen Osten. Dafür brauchen wir sie, dafür sollten wir sie erhalten. Aber sie deckt bei weitem heute nicht mehr das gesamte Spektrum von Sicherheitsfragen ab, die wir in Europa haben.
Europa braucht "eine gemeinsame Außenpolitik"
May: Sind denn diese Interessenskonflikte, die Sie beschreiben, an denen Europa ja schon lange herumdoktert und versucht, da Lösungen zu finden, sind die überhaupt realistischer Weise zu lösen? Ist diese europäische Einheit nicht manchmal auch einfach eine Schimäre?
Trittin: Es ist eigentlich relativ einfach. Wenn Europa nicht zum Spielball eines neuen Kalten, im Wesentlichen Wirtschaftskrieges zum Beispiel zwischen den USA und China werden will, dann wird man sich auf die eigene europäische Stärke konzentrieren müssen. Mein Eindruck ist, dass immer mehr Staaten in Europa, übrigens auch Staaten, die ihre Erfahrungen zum Beispiel im Rahmen der "One Belt, One Road"-Initiative mit China gemacht haben, dieser Notwendigkeit bewusst werden.
May: Das heißt, wir brauchen auch eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik?
Trittin: Wir brauchen eine gemeinsame Außenpolitik und in der Folge dieser gemeinsamen Außenpolitik bedarf es auch in bestimmten Bereichen gemeinsamer militärischer Anstrengungen.
May: Trügt der Eindruck, oder ist Europa davon derzeit weiter entfernt denn je?
Trittin: Europa ist in einer schweren Krise in dieser Hinsicht. Aber der Druck der Probleme vor der Haustür – nehmen Sie Libyen, nehmen Sie die Eskalation im Iran und am Golf – ist meines Erachtens das, was Europa zwingt, sich auf seine eigenen Interessen zu berufen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.