Am 31. Oktober beginnt im schottischen Glasgow der UN-Klimagipfel mit rund 25.000 Teilnehmern und fast 200 Staaten. Viele erwarten von dieser Konferenz eine echte Wende in der globalen Klimapolitik, um das Ziel von maximal 1,5 Grad Erderwärmung zu erreichen. Aus Sicht von Grünen-Politiker Jürgen Trittin ist die Staatengemeinschaft bisher zu behäbig. "Weder die G20, noch die Europäer und die Hauptemittenten auf der Klimakonferenz werden ihrer Verantwortung wirklich gerecht", sagte der ehemalige Bundesumweltminister (1998 bis 2005) im Deutschlandfunk. Die Staaten scheuten sich nach wie vor, sich gegen Branchen zu stellen, die nicht zu Veränderungen bereit seien. Manchmal habe er den Eindruck, dass bestimmte große Unternehmen und institutionelle Investoren da weiter seien. Da gebe es Tendenzen, nicht mehr in Fracking-Förderungen oder Kohle zu investieren. "Das Ende des fossilen Zeitalters ist in der Finanzindustrie früher eingeleitet als auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs", sagte Trittin.
Die Industriestaaten müssten den Ausstieg aus fossilen Energien aktiver vorantreiben, forderte Trittin. Voraussetzung dafür sei, in den Aufbau elektrischer Kapazitäten zu investieren. Die Deutsche Regierung könne hier voran gehen und Rahmenbedingungen schaffen, dass künftig zwei Prozent des Bruttosozialprodukts in die Elektrifizierung fließen. Aktuell liege dieser Wert in Deutschland nur bei 0,7 Prozent, in den USA bei 0,5 und in China bei 0,9 Prozent.
Kernkraftwerke zu teuer und "zu blöd"
Entscheidend dabei sei, Strom zu wettbewerbsfähigen Preisen anzubieten – "und die können nur erneuerbare Energien liefern", sagte Trittin. Die Kernenergie zu reaktivieren, wie es nun verstärkt gefordert wird, sei nicht hilfreich. Zum einen sei diese mit Preisen von 20 Cent pro Kilowattstunde zu teuer. Zum anderen stünden schon die noch laufenden Kernkraftwerke in Deutschland der Energiewende im Weg. "Wir stünden überhaupt viel besser da, wenn wir die Atomkraftwerke noch schneller abgeschaltet hätten", sagte Trittin. Aktuell müssten regelmäßig Windparks abgeschaltet werden, weil die Kernkraftwerke "zu blöd" seien, mit den schwankenden Einspeisungen zu recht zu kommen. "Wenn Sie einen relevanten Anteil von erneuerbaren Energien im Netz haben, dann können Sie mit unflexiblen Grundlastkraftwerken, die zwei Tage brauchen, um zur vollen Leistung hochzufahren – und das sind Atomkraftwerke – in diesem Netz nichts anfangen, das erzeugt nur Probleme", sagte Trittin.
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Philipp May: May: Hat Greta Thunberg recht mit ihrem Vorwurf, Politiker reden wieder viel, aber sie tun nichts gegen den Klimawandel?
Jürgen Trittin: Ich glaube, dass weder die G20 noch die Europäer und die Hauptemittenten auf der Klimakonferenz in Glasgow wirklich ihrer Verantwortung gerecht werden.
May: Woran liegt das?
Trittin: Ich glaube, dass sie sich nach wie vor scheuen, sich gegen sehr strukturkonservative Branchen zu stellen. Manchmal hat man den Eindruck, dass bestimmte große Unternehmen, institutionelle Investoren weiter sind als die G20-Staaten – etwa in ihrer Verantwortung für 80 Prozent der Emissionen. Die gehen zurzeit zum Beispiel aus der US-Frackingindustrie aus dem Schieferöl raus, es gibt Tendenzen, nicht mehr in Kohle zu investieren. Das heißt, das Ende des fossilen Zeitalters ist in der Finanzindustrie früher eingeleitet als auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs.
May: Wo Sie gerade die USA ansprechen, ohne die USA wird es ja nicht gehen, zweitgrößter Emittent nach China, Joe Biden wollte eigentlich Klima-Präsident werden, jetzt hat er in seinem Billionen-schweren Infrastrukturprogramm allerdings genau die Klimaschutzaspekte beerdigt mehr oder weniger, zumindest den größten Teil, weil ihm am Ende schlicht die Mehrheiten fehlen. Ein Senator aus West Virginia, in West Virginia wird ja ganz viel Kohle abgebaut, sträubt sich gegen diese Pläne. Scheitert diese globale Aufgabe Klimaschutz am Ende immer doch wieder an Einzelpersonen?
Trittin: Natürlich gibt es Einzelpersonen, die das behindern, auf der anderen Seite gibt es enormen Druck, dass tatsächlich etwas passiert, die eingetretenen Katastrophen zeugen davon. Man kann ja nicht mehr davon reden, dass die Klimakrise unsere Enkel betrifft, sie betrifft uns, siehe Ahrtal, siehe Überschwemmung in Bangladesch heute. Deswegen gibt es natürlich auch andere Entwicklungen. Sie haben zurecht gesagt, es geht nicht ohne die USA, es geht übrigens auch nicht ohne Europa und es geht vor allen Dingen auch nicht ohne China. China hat aus Anlass der Klimakonferenz, insofern sind die Klimakonferenz nicht wirkungslos, erstens erklärt, es wird aufhören, den Export von Kohlekraftwerken in andere Länder zu betreiben, das spart richtig viel CO2. Zum Zweiten hat es seine Zusagen im Rahmen des Klimaabkommens ein Stück weit erhöht. Das heißt, wir haben nicht das Problem, dass nichts passiert, sondern wir haben das Problem, dass das, was passiert, zu langsam passiert.
"Zwei Prozent des Bruttosozialprodukts in den Aufbau elektrischer Kapazitäten investieren"
May: Gutes Stichwort, was Sie sagen, zu langsam und dass Sie vorhin China ins Spiel gebracht haben. Bis 2060, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, möchte China aus der Kohle aussteigen. Reicht das?
Trittin: Nein, das reicht nicht, das wissen auch die Chinesen. Aber ich will mal den Blick auf das Treffen in Rom werfen, dort treffen sich die 20 wichtigsten Staaten, die für 80 Prozent der Emissionen verantwortlich sind. Die haben in der Abschlusserklärung den Satz, dass sie aus der Kohle aussteigen wollen, aber sie haben das bisher nicht mit einem Datum versehen. Gerade diese großen Staaten haben dort wirklich eine Chance, diesen Weg zu gehen, sie hätten einen zweiten Weg, der etwa auch ihrer Wirtschaft helfen würde. Es ist ja nicht so, dass man mit Klimaschutz kein Geld verdienen könnte, sonst würden erneuerbare Energien etwa in den USA, in China nicht dermaßen Investitionsaufschwünge erreichen.
Nur wie groß sind diese Investitionen, in den USA ist das mal gerade 0,5 Prozent des Bruttosozialprodukts, in China immerhin 0,9 Prozent, in Deutschland sind es 0,7 Prozent. Wie wäre es, wenn eine aktive deutsche Regierung zum Beispiel in die G20 gehen würde und sagt, lasst uns Rahmenbedingungen schaffen, dass dieses Business so gesteigert wird, dass wir künftig zwei Prozent des Bruttosozialprodukts in den Aufbau elektrischer Kapazitäten investieren, das ist nämlich die Voraussetzung, um industrielle Volkswirtschaften dekarbonisieren zu können. Dekarbonisierung lautet Elektrifizierung, und dann geht es um Elektrifizierung zu wettbewerbsfähigen Preisen – und die können nur erneuerbare Energien liefern.
May: Jetzt wird allerdings Deutschland gerade sowohl bei G20 als auch bei der Klimakonferenz vertreten eben nicht wirklich von der aktiven Regierung, sondern von der Bundeskanzlerin beziehungsweise von einer Regierung, die es eigentlich gar nicht mehr gibt. Wie problematisch ist das?
Trittin: Das ist problematisch, aber das ist manchmal so, so ist das mit Wahlen. Aber ich finde, die Geste, die Olaf Scholz und Angela Merkel machen, in Rom zu zweit aufzutreten, richtig und wichtig. Und ich finde auch, dass Deutschland in aller Klarheit erklären kann, dass sie der Initiative der britischen Präsidentschaft auf der Konferenz in Glasgow, nämlich dafür zu sorgen, dass es eine Zusage gibt, vor 2030 aus der Kohle auszusteigen, gerade vor dem Hintergrund der Entwicklung in Deutschland, und vor 2035 auch den Betrieb von Verbrennerautos in den Industrieländern schlicht und ergreifend zu unterbinden, dass einer solchen Initiative beigetreten werden könnte.
nd schließlich gibt es, glaube ich, auch keinen Streit zwischen der ehemaligen Regierung und der jetzigen Regierung, dass Deutschland die Zusagen, die es gemacht hat zur internationalen Klimafinanzierung, einhalten muss. Das ist ja genau das Dilemma, was Sie beschrieben haben. Wenn Sie hier gegenseitig Emissionen anrechnen, dann brauchen Sie die Zustimmung auch und gerade von G20-Staaten wie Brasilien, dann müssen Sie aber auch die Zusagen, die die Industrieländer gemacht haben, nämlich 100 Milliarden jährlich in die Klimaanpassung in anderen Ländern zu investieren, auch erfüllen und können nicht 20 Milliarden schuldig bleiben.
Trittin: Zertifikatehandel fehlen Voraussetzungen
May: Finden Sie diesen Vorschlag des internationalen Zertifikatehandels eigentlich richtig?
Trittin: Wenn ein Zertifikatehandel tatsächlich nach Regeln passiert, was die Anrechnung angeht, und wenn man die Wälder und diese Sachen sauber kartiert hat, dann ist das richtig. Das ist im Pariser Abkommen so vorgesehen, nur es fehlt an den Basisvoraussetzungen. Darüber wird in Glasgow verhandelt werden, nämlich über die Frage, nach welchen Regeln geschieht das. Und es fehlt auch an den Basisdaten, Sie müssen natürlich auch, wenn Sie sagen, Sie finanzieren die Wiederaufforstung von Wäldern, vorher mal eine Bilanz haben, wo es so ist. Wir haben ja die gleiche Diskussion in Deutschland auch, dort sollen Senken angerechnet werden. Wenn ich mich in meinem Wahlkreis umgucke, dann sind aus Wäldern keine CO2-Senken geworden, sondern CO2-Quellen, weil im gesamten Vorharz ((phon.)) die Fichtenplantagen von der Klimakrise gekillt worden sind.
Trittin: Kernerergie ist "völlig unbezahlbar"
May: Herr Trittin, jetzt besteht in der internationalen Gemeinschaft ja über das Ziel gar keine große Uneinigkeit, man hat sich auf das 1,5-Grad-Ziel verständigt. Allerdings herrscht außerhalb Deutschlands ja schon eine gewisse Skepsis, was den deutschen Weg anbelangt. Atomstrom erlebt gerade eine Renaissance als Baustein hin zur Klimaneutralität. Kann es sein – gerade mit Blick auf die bescheidenen deutschen Erfolge bisher beim Einsparen von Emissionen –, dass die anderen recht haben?
Trittin: Nein, Atomstrom liefert nicht mal fünf Prozent, genau 4,9 Prozent der globalen Primärenergie. Wenn Sie dies auf 100 Prozent steigern wollen, wird das völlig unbezahlbar, weil die Kilowattstunde Strom kostet 20 Cent. Die Kilowattstunde werden Sie in Kater, in Nordafrika aus Solaranlagen für einen Cent und weniger bekommen. Das ist übrigens der Grund, warum weltweit – außer in China – es viele Ankündigungen zur Atomenergie gibt, aber keine Investitionen. Die Investitionen gehen in die Energieformen, die tatsächlich CO2-Einsparungen erbringen und bezahlbar sind, und das sind und bleiben erneuerbare Energien.
May: Investitionen sind das eine, Laufzeiten ja das andere. Sie haben als grüner Umweltminister damals maßgeblich den Atomausstieg verhandelt. Diese Diskussion ist ja auch in der deutschen Öffentlichkeit angekommen, dass möglicherweise die Reihenfolge falsch war. Ich stelle mir gerade vor, wo wir stünden, hätte Rot-Grün damals den Kohleausstieg bis 2022 gemacht.
Trittin: Wir stünden überhaupt viel besser da, wenn wir die Atomkraftwerke noch schneller abgeschaltet hätten, dann würden wir nämlich nicht ständig Windparks abschalten müssen, für die wir trotzdem bezahlen müssen, weil diese Grundlastkraftwerke zu blöd sind, mit schwankenden Einspeisungen klarzukommen. Das muss man noch hinzufügen, wenn Sie einen relevanten Anteil von erneuerbaren Energien im Netz haben, dann können Sie mit unflexiblen Grundlastkraftwerken, die zwei Tage brauchen, um zur vollen Leistung hochzufahren – und das sind Atomkraftwerke – in diesem Netz nichts anfangen, das erzeugt nur Probleme.
May: Okay. Dann schauen wir nach vorne. Die kommende Regierung hat die letzte Chance, die nötigen Reformen zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels einzuleiten. Das hat Annalena Baerbock im Wahlkampf mehrfach betont. Jetzt macht sich aber auch in Ihrer Partei Skepsis breit, dass die Ampel wirklich dazu in der Lage ist. Sind Sie auch skeptisch mittlerweile?
Trittin: Skepsis gehört zur Politik. Ich halte es immer mit Gramsci, der Optimismus des Herzens und der Pessimismus des Geistes gehören zusammen. Wir sind gerade in einer Verhandlung, wir verhandeln auf der Basis eines klaren Sondierungspapiers, was sich dazu bekennt, Deutschland auf den 1,5-Grad-Pfad zu bringen, was dafür Instrumente benennt, nämlich die Frage eines vorgezogenen Kohleausstiegs, eines Aus für den Verbrennungsmotor, die Unterstützung des Pakets FitFor55 der Kommission, was heißt, dass in Europa in den nächsten 20 Jahren gut 4,2 Prozent der Emissionszertifikate aus dem Verkehr gezogen werden, das wird zu einem wirklich wirksamen CO2-Preis führen. Dieses Sondierungspapier ist eine gute Grundlage. Dass man dann immer skeptisch ist, gerade als Grüner, ob diese Grundlage umgesetzt ist, das gehört in unsere Gene, aber sollte uns nicht am Handeln hindern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.